Donnerstag, 8. November 2012

Mehr Michelin-Männchen


Wem ein wenig an gutem Essen gelegen ist, wem es also nicht egal ist, was man selbst und Gevatter Mitmensch sich so tagtäglich durch die Futterluke schleust, müsste eigentlich hocherfreut sein über diese Nachricht: Wir sind endgültig im Gourmet-Himmel angekommen. 37, in Worten siebenunddreißig, neue Michelin-Sterne haben Deutschlands Weißmützen sich im letzten Jahr zusammengebrutzelt. Hurra! Deutschland ist nicht nur Exportweltmeister und im Fußball wieder wer, sondern endlich auch auf Augenhöhe mit den Mekkas des Genusses. Die Welt beneidet uns mal wieder. Hach, sind wir jetzt endlich alle ganz sinnliche Genussmenschen? Nö. Zumindest nicht mehr als vorher. Denn die Meldung ist nichts weiter als ein Beleg für nichtssagenden Stimmungsjournalismus.

Nun ist gegen gutes, hochwertiges Essen ja grundsätzlich nicht das Geringste einzuwenden. Im Gegenteil: Vielleicht wäre die Welt eine Bessere, wenn mehr Menschen beim Essen mehr Wert auf Qualität legten. Nur ist zu bezweifeln, dass der Sterneregen in Deutschland etwas mit einer allgemein gestiegenen Wertschätzung dafür zu tun hat. Denn Sternekocherei auf höchstem Niveau hat hier, wie in vielen Ländern, kaum etwas zu tun mit der Esskultur eines Großteils der Bevölkerung, sondern ist vorwiegend das exklusive Vergnügen einer kleinen, höchst zahlungskräftigen Schicht. Für die ist demonstratives Einpfeifen von Edelfutter plus möglichst dicklippiges Quasseln darüber, neben Villen, Luxusautos, Yachten, Modelabels und Macherchonometern nur ein weiteres Statussymbol und Mittel zur Abgrenzung nach unten. Es gibt durchaus Belege, mit denen sich diese steile These, wenn schon nicht beweisen, dann doch ein wenig unterfüttern lässt.

Sehen wir uns einmal die Michelin-Sterne von 2012 an. In absoluten Zahlen führt erwartungsgemäß Frankreich souverän mit insgesamt 594 Sternetempeln. Dann folgen Italien mit 295 und Deutschland mit 249 Lokalen. Weit dahinter dann Großbritannien mit Irland und Spanien plus Portugal mit jeweils 151. Nur sagen diese Zahlen zunächst überhaupt nichts aus, da in verschiedenen Ländern nun einmal unterschiedlich viele Leute hausen. Interessanter wird es schon, wenn man sich den Spaß macht, die Anzahl der besternten Etablissements je 100.000 Einwohner zu berechnen. Dann ergibt sich ein ganz anderes Bild:
1. Schweiz (7,9 Mio., 96 Häuser): 1,22
2. Belgien + Luxemburg (11,5 Mio., 118 Häuser): 1,03
3. Frankreich (65,5 Mio., 594 Häuser): 0,91
4. Niederlande (16,7 Mio., 102 Häuser): 0,61
5. Italien (60,6 Mio., 295 Häuser): 0,49
6. Deutschland (82 Mio., 249 Häuser): 0,30
7. Spanien + Portugal (57,8 Mio., 151 Häuser): 0,26
8. Großbritannien + Rep. Irland (66,4 Mio., 151 Häuser): 0,23

Vielleicht noch interessanter wird es, wenn man auf dieselbe Weise die Bevölkerungszahl ins Verhältnis setzt mit der Anzahl der Bib-Gourmand-Coins. Die Abteilung Bib Gourmand des Guide Michelin vergibt so genannte Coins für Restaurants, die gutes Essen unterhalb einer gewissen Preisgrenze anbieten. Dies Limit bewegt sich in Europa in der Regel zwischen 30 € und 40 € für ein Essen, entspricht also eher den finanziellen Möglichkeiten von Normalverdienern. Setzt man auch hier die Anzahl der Coins ins Verhältnis zur Bevölkerung, dann ergibt das pro 100.000 Einwohner folgendes:
1. Belgien + Luxemburg (140 Coins): 1,22
2. Schweiz (87 Coins): 1,10
3. Frankreich (630 Coins): 0,96
4. Deutschland (431 Coins): 0,53
5. Niederlande (87 Coins): 0,52
6. Italien (250 Coins): 0,41
7. Spanien + Portugal (229 Coins): 0,4
8. Großbritannien + Rep. Irland (129 Coins): 0,19

Bei beiden Rankings fällt auf, dass vergleichsweise kleine Länder wie die Schweiz und Luxemburg weit vorn landen. Das mag unter anderem der speziellen Einkommensstruktur in Steueroasen geschuldet sein. Dahinter, wie zu erwarten, das Flächenland Frankreich. Und Deutschland? Unterer bis guter Durchschnitt. Kein Grund jedenfalls, sich dicke zu machen. Klar, was soll man auch erwarten in einem Land, in dem Spaghetti Bolognese* vor Schnitzel mit Pommes die Beliebtheitsskala anführen und in dem ein kulinarischer Gag wie Currywurst von nicht wenigen so ernsthaft wie schmerzfrei als Aushängeschild abgefeiert wird?

In Frankreich, dem Mutterland der Haute Cuisine, steht die Spitzengastronomie auf einem ungleich breiteren Fundament als irgendwo anders. Nicht als fashionables Statement, sondern aus einem über Jahrhunderte gewachsenen Hang zu kompromisslos gutem Essen als Teil der Alltagskultur. Staunend habe ich als Jugendlicher einmal miterleben dürfen, mit wie viel Liebe und Hingabe ein französischer Dorfmetzger für eine Kundin, die alles andere war als eine piekfeine Lady, ein Stück Boeuf du Charolais küchenfertig parierte. Wie er es kaum hergeben mochte und Madame noch Tipps mit auf den Weg gegeben hat, wie sie diesen göttlichen sonntäglichen Bissen zubereiten solle: Was für eine Sünde sie begehen würde an dem Tier, das sein Leben lassen musste, wenn sie etwa auf Trüffel verzichten würde. Schön, ich war auf Urlaub, aber Lichtjahre entfernt war das von der kniepigen Routine Marke Hauptsache billig und viel, wie ich sie kannte. Fast geschämt habe ich mich für meine radegebrochene Bestellung eines schnöden Pfundes Haschée.

Auf dem Markt einer beliebigen französischen Provinzstadt findet man in der Regel ein Sortiment erlesener Fressalien vor, für das man bei uns in die nächste Millionenstadt reisen müsste. Ebenso gibt es in denselben Kleinstädten fast immer auch ein Restaurant, das schon ewig und völlig selbstverständlich Essen von einer Güte anbietet, für die man hier mindestens zwei Stunden im Auto sitzen müsste. Auch wenn jenseits des Rheins wie überall die üblichen Ausflüsse moderner globalisierter Systemgastronomie zu sehen sind, dürfte die Neigung, sein Geld für gute Lebensmittel auszugeben und dafür lieber mit einer alten Rostlaube herumzufahren, verbreiteter sein als diesseits. Wer sich hingegen bei uns nicht erst einmal ein ordentliches Einkommen, ein Haus, ein, zwei Autos und eine Familie erarbeitet hat, macht sich verdächtig, wenn er zu viel Geld fürs Essen hinlegt und gilt als verschwenderischer, verwöhnter Prasser. Soso, sieh an, keine anständigen Klamotten am Leibe, den Kredit noch nicht abbezahlt, aber Bresse-Hühner fressen! Wo doch jeder weiß, dass es Hähnchen auch beim Discounter für 3,99 gibt.

Bezogen auf den allgemeinen Lebensstandard, sind die neuen deutschen Sterne daher in etwa so aussagekräftig wie die Anzahl an Edeljuwelieren, Prada-Boutiquen und Bentley-Niederlassungen, die pro Jahr neu eröffnen. Essen im Sternerestaurant mag eine feine Sache sein, ist aber hierzulande fast immer umweht vom parvenuhaften Muff sozialer Segregation. Seht her, ich kann mir das leisten! Zweifellos gibt es unter der Kundschaft dieser Häuser auch normal verdienende Menschen, die einfach nur ihre Prioritäten anders setzen als die Mehrheit. Menschen, denen neueste technische Gadgets oder die aktuellste Kleidermode komplett wumpe sind und die sich dafür lieber von Zeit zu Zeit ein hervorragendes Essen gönnen. Doch kann man sicher sein, dass die meisten der Sternetempel auf der Stelle dicht machen müssten, wenn nicht Arbeitsesser, Dienstreisende und andere Spesenritter für eine solide Basis sorgen würden.

Einem ehernen Gesetz für gekonntes Schreiben zufolge, gehen Witzeleien mit Namen bekanntlich gar nicht. Einen kann und mag ich mir allerdings nicht verkneifen: Zu den frisch gekürten Sterneträgern gehört auch der 35jährige Chef des 'La Belle Epoque' in Lübeck, der auf den Namen Kevin Fehlings hört. Kevin! Mann, und ich habe immer gedacht, die Kevins dieser Welt seien allesamt bildungsferne Schulversager und könnten nur Pizza bestellen oder Ravioli warmmachen. Glückwunsch, Herr Fehlings!


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*Bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Eine hausgemachte Bolognese macht zwar etwas Arbeit, kann aber göttlich sein. Schaut man sich aber die Auslagen eines durchschnittlichen Supermarktes an, dann kann man sich des fiesen Verdachts nicht erwehren, dass die in den meisten Fällen aus bösem Bollonäse-ficks-Pülverchen angerührt wird. Wer jetzt meint, die Leute hätten eben keine Zeit mehr zum Kochen, sei auf Statistiken verwiesen, die belegen, dass der durchschnittliche Deutsche sehr wohl Zeit hat, sich mehrere Stunden am Tag größtenteils inferiorem Fernsehprogramm auszusetzen.

11 Kommentare :

  1. Ach, diese Frankreichessensromantik... Zweifellos ist die allgemeine Lebensmittelqualität und -auswahl dort (wie auch in vielen anderen europäischen Ländern) deutlich besser als in Deutschland. Das hält den gemeinen Pariser aber auch nicht davon ab, sich im gewöhnlichen Alltag bloß Steak Haché mit Fritten reinzuziehen - Völlig gewürzfreies, gepresstes und dreiviertelrohes Hackfleisch von gummiartiger Konsistenz mit halbrohen Industriekartoffeln... Dagegen ist Curry rot-weiß mit Dosenbier eine geradezu prickelnde kulinarische Erfahrung. Danach scheut der französische Gourmet auch nicht davor zurück, den löslichen Kaffee vom Vormittag noch mal in der Mikrowelle aufzuwärmen. Uah... Oder aber er greift gleich zum französischen Nationalgericht schlechthin: Couscous - dem Döner vor dem Finistère...

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    1. Moooment, ich habe nicht behauptet, dass im Frankenreiche sich nicht auch schrottig ernährt würde. Ich hatte schon mal das Vergnügen, minderwertige Steak Frites in einem Landgasthaus der einfacheren Kategorie vorgesetzt zu bekommen. Jedes saubere American Diner wäre um Längen besser gewesen. Ich meine nur, dass dort ein Bewusstsein für handwerklich hergestellte, lokale Produkte guter bis bester Qualität eine erheblich größere Lobby hat als anderswo und zudem weniger als elitäres Gehabe gilt. Zudem scheint mir meine kleine Rechnung auch zu nahezulegen, dass die Wahrscheinlichkeit, in Frankreich an ein ordentliches Restaurant zu geraten, weitaus höher ist als in den meisten anderen Ländern. Nix weiter wollt ich sagen.

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  2. Bevor die Österreich-Ausgabe des Guide Michelin (wegen niedriger Verkaufszahlen mangels Interesse) 2010 eingestellt wurde, hatte es in Österreich 50 mit Michelin-Sternen ausgezeichnete Lokale. Da es in Deutschland beinah zehnmal soviel Einwohner wie Österreich hat, aber nur 255 Sternenlokale, könnten die Schlagzeilen genauso richtigerweise lauten:
    »In Österreich hat es beinah fünfmal soviel gute Restaurants wie in Deutschland.«

    Anstelle dieses Randgruppenprogramm zu einem riesen Wind aufzublasen, könnten sich die Herrschaften Gastrokritiker übrigens ebensogut mal kritisch mit dem zuweilen beschämenden bis bestürzenden Fraß befassen, welchen die breite deutsche Masse in Betriebs- und Schulkantinen (*) für gewöhnlich vorgesetzt kriegt.

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    1. Sollte natürlich heißen »beinah doppelt soviele Restaurants wie in Deutschland«
      Das kommt vom schusseln ..

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    2. In der Tat. Was aber noch schlimmer ist als Kantinenessen ist das was sich ein großer Teil der Bevölkerung freiwillig an convenience menus aus dem Supermark aufwärmt und mit Fix-und-Fertig-Würzmischung zusammenkocht.

      Hmmm, freiwillig oder durch Werbung manipuliert? Aber das wäre ein ganz anderes Thema und ich wollte mich nicht mehr so aufregen.

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  3. Shit, - jetzt hab ich Hunger. Mal sehen, was noch da ist.

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    1. Ne Fünminutenterrine wird sich sicher noch finden... :D

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    2. Ja, oder zur Not was von der Tanke, die haben doch auch immer irgendwelchen Fertigfraß. Außerdem ist es noch nicht zehn. Wenn Du Dich beeilst, kriegst Du sogar noch ein kulinarisch wertvolles Dosenbier dazu!

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    3. Ihr werdet euch aber jetzt nicht selber verraten, was ihr so zu euch nehmt, - oder ??? :-))))

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    4. Nein nein, das war selbstverständlich nur ganz hypothetisch gemeint. Ohne jeden Bezug zur Realität die Möglichkeiten genannt.

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