Donnerstag, 19. September 2013

Der nicht langweilte


Marcel Reich-Ranicki (1920-2013)

Der Mann hatte komisches Talent. Und war, mit Verlaub, verdammt cool. Einmal wurde 'Das literarische Quartett' aus dem gläsernen Studio des ORF am Gaisberg oberhalb von Salzburg übertragen. Den ganzen Abend schon hatte sich über der Stadt ein heftiges Gewitter zusammengebraut. Als letztes Buch des Abends sollte das jüngste Werk des von Marcel Reich-Ranicki notorisch nicht gemochten Martin Walser besprochen werden. Und siehe, exakt in dem Moment, in dem Reich-Ranicki den Zeigefinger hob und tief einatmete, um zu einer vernichtenden Suada anzusetzen, passierte es: Rrrumms, Blitz und Donner. Er schaltete blitzschnell, hob Blick und Hände gen Himmel und ranzte: "Also bitte, man wird doch wohl noch was gegen Walser sagen dürfen!" Großes Kino. Alles live. Mit weit über siebzig. So was lässt sich nicht proben oder einstudieren.

Reich-Ranicki wurde nicht vom Tellerwäscher zum Millionär. Er wurde vom quasi mittellosen, den Mördern mehrmals nur knapp entronnenen Flüchtling, über Umwege bei der polnischen Geheimpolizei, als Hauptmann des polnischen Geheimdienstes und Lektor eines Warschauer Verlages schließlich zum Nestor der deutschen Literaturkritik. Er wurde Chefkritiker der FAZ, war Begründer und Herausgeber der 'Frankfurter Anthologie', Mitinitiator des Ingeborg-Bachmann-Preises und ein wandelndes Literaturlexikon. Was für ein Leben. Reich-Ranicki kam aus einer Zeit, in der Kunst, Kultur, Literatur noch nicht zu Objekten kapitalistischer Verwertungslogik geschrumpft, sondern Überlebensmittel waren. Wie fremd klingt es in diesen Zeiten, wenn er sagte, die Literatur, vor allem die deutsche, habe ihn während der Zeit im Ghetto und im Untergrund am leben gehalten, und zwar nicht nur, weil seine Nacherzählungen der Klassiker die, die ihn versteckten, milde stimmten. Und wie die deutsche Literatur ihn letztlich bewogen habe, nach Deutschland zurück zu kehren, trotz allem, was er und seine 2011 verstorbene Frau Teofila während des Krieges erleiden mussten.

Obwohl er vieles am Fernsehen so leidenschaftlich ablehnte wie er die Literatur liebte, wurde er durch 'Das literarische Quartett' auch in jenen Kreisen zum Star, die nicht regelmäßig das Feuilleton der FAZ lasen. Zeitweise mussten die Buchhändler des Landes anhand der Programmankündigung des ZDF vorab Extraposten der besprochenen Bücher ordern, sollten sie nicht am nächsten Vormittag schon ausverkauft sein. Obwohl die Streiterei manchmal hoch unterhaltsam war, ging es Reich-Ranicki nie um bloßes Entertainment. In seinen besten Momenten zeigte das 'Quartett', dass es kaum Spannenderes gibt, als wenn fundierte Gedanken aufeinanderprallen.

Sicher, man kann an einiges kritisieren, wenn man denn mag. Man kann kritisieren, wie er das 'literarische Quartett' dominierte. Dass er zeitlebens Kind seiner Zeit blieb, der Feminismus weitgehend an ihm vorbei gelaufen war und er so die stets ein wenig sauertöpfisch wirkende Sigrid Löffler schließlich wegbiss. Die oft ätzende, schwarzweiße Schärfe seines Urteils, mit der er Bücher entweder in den Himmel lobte oder in den Orkus drosch. Wie er Meinungs- und Deutungshoheit lautstark und polterig für sich in Anspruch nahm. Dass sein literarischer Horizont irgendwo bei Thomas Mann endete (was nicht ganz stimmt, er ließ nur weniges, was danach kam, wirklich gelten) und sein literaturtheoretischer ungefähr bei Georg Lukacs. Eines musste man ihm jedoch lassen: Dem Mann war es immer bitter ernst. Er polarisierte, er mag widersprüchlich gewesen sein, aufbrausend, anmaßend, autoritär. Aber er brachte auch seinen jüdischen Witz ins betuliche deutsche Feuilleton. Eines war er nämlich nie: Langweilig. Und nicht zu langweilen, das verlangte er von einem guten Buch.

Mit fortschreitendem Alter ließ sein Temperament ein wenig nach. Er wurde milder, versöhnte sich mit alten Feinden. Die Verfilmung seiner Autobiographie machte beinahe einen Popstar aus ihm. So sehr er den Erfolg genoss, vor allem den literarischen, so war der Kult, der zuweilen um ihn betrieben wurde, ihm auch ein wenig suspekt. Lagen ihm da doch die Nachfahren derer zu Füßen, die wenige Jahrzehnte zuvor seine Familie umgebracht hatten und ihn und seine Frau umbringen wollten. Nachträgliche, stellvertretende Wiedergutmachung?

Ein letztes Mal war seine brüchig gewordene Stimme 2012 im Bundestag zu hören. In einer sehr persönlichen, leisen Rede erzählte er noch einmal seine Geschichte. Das Alter mit seinen Begleiterscheinungen hasste er und er verbat sich jede zuckrige Verniedlichung. Obwohl es gute Gründe gibt, zu seinen Lebzeiten von ihm genervt gewesen zu sein oder ihn abzulehnen, ist sein Tod, obwohl absehbar, für mich ein Verlust. Als einer von denen, für die Literatur nicht einfach ein Business ist und ein Buch keine schnöde Konsumware, werde ich das Gefühl nicht los, dass es einer von uns war, der da jetzt gegangen ist. Illusionen über ein Leben nach dem Tod machte er sich übrigens keine, da blieb er Marxist bis zuletzt.



4 Kommentare :

  1. Sehr, sehr schöner Nachruf.

    Auch ich vermisse ihn, einen Menschen mit Ecken und Kanten. Der auch mal einen ihm verliehenen Preis ablehnt um gegen die Medienlandschaft aufzubegehren.

    R.R. war authentisch. Meist mochte ich ihn, in seiner polternden Art, manchmal fand ich ihn auch blöde. Letzteres durfte er für mich dann auch sein - weil man ihm immer abnahm, dass er daran glaubte, was er sagte.

    Wieder mal, so abgedroschen es auch klingen mag, ist die Welt ein wenig ärmer geworden durch seinen Tod.

    Eine schöne Vorstellung ist dann doch (obwohl ich nicht gläubig bin), dass R.R. im Himmel gegen die literarischen Qualitäten der Bibel poltert... :-)

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  2. "einen Menschen mit Ecken und Kanten"

    So isses , er hat auch einigen Bullshit erzählt , aber er hat was riskiert .

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  3. Antworten
    1. Öhmmm, war als Respekt und Bewunderung für den wirklich schön ausgearbeiteten Text gemeint ;-) (Meine Giftigkeiten in Richtung MRR, wären nicht so ausgewogen, und auch wahrscheinlich überhaupt nicht fair, - deshalb behalt ich die lieber mal für mich:-)

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