Donnerstag, 17. April 2014

Die Mär vom deutschen Billigesser


Zur Abwechslung ein wenig Statistik

Die Deutschen, heißt es immer mal wieder, gäben europaweit mit am wenigsten für Lebensmittel aus. Außerdem seien Lebensmittel hierzulande im internationalen Vergleich viel zu billig. Wir seien eine Nation von Schnäppchenjägern, kniepig und gnadenlos immer auf der Suche nach den paar Cent weniger. Auf Kosten der Wertschätzung von Lebensmitteln und des braven kleinen Einzelhändlers um die Ecke, zu gleichzeitigem Nutz und Frommen sinitstrer Billigheimer. In anderen Ländern, da sei das natürlich ganz anders: Dort verstehe man zu genießen, spiele gutes Essen eine ungleich größere Rolle als bei uns und daher gäben die Menschen dort auch größere Teile ihres Einkommens für Fressalien aus.

Nun gut, ich gebe zu, diesbezüglich auch geblendet gewesen zu sein und hier und da in das Lied mit eingestimmt zu haben. Leicht ist man beeindruckt vom Angebot auf Märkten in Italien oder Frankreich. Außerdem ist es bequem und gibt ein gutes Gefühl, wenn man sagen kann: Ach, wenn doch nur alle mal ein wenig mehr als unbedingt nötig ausgäben für Lebensmittel (so wie ich versteht sich), dann wäre diese Welt eine bessere. Kann ja sein, dass es in anderen Ländern tatsächlich ein anderes Bewusstsein für Qualität gibt, zumindest in dem, was man weitestgehend als bürgerliche Kreise bezeichnen kann. Allein, die Zahlen, sie geben's nicht her. (Den Anstoß, mich ein wenig mit dem entsprechenden Datenmaterial zu befassen lieferte übrigens Udo Pollmer in seiner sonntäglichen 'Mahlzeit'-Kolumne).

"Aus dem Vorwurf, die Lebensmittel würden zu wenig kosten, spricht die Arroganz der Bessergestellten. Eigentlich ist es doch eine Errungenschaft, wenn auch die weniger gut Betuchten satt werden." (Udo Pollmer)

Deutschland rangiert, was die prozentualen Ausgaben der Privathaushalte für Nahrungsmittel angeht, europaweit tatsächlich im unteren Drittel. Nur handelt es sich dabei nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen. Ähnlich wenig wie in Deutschland mit durchschnittlich 11,2 Prozent des Budgets wendet man nämlich in Großbritannien (9,1), Irland (10,2), Schweden (12,27), Dänemark (11,36), Österreich (10,4), der Schweiz (9,27), den Niederlanden (11,87), Luxemburg (10,77) und Norwegen (12,75) fürs Essen auf. Belgien, Frankreich und Italien - Länder, denen man gemeinhin die beste Küche nachsagt, liegen mit 13,22, 13,84 und 14,41 Prozent nur knapp darüber. In absoluten Zahlen heißt das: Wenn eine durchschnittliche deutsche Familie 100 Euro pro Woche im Supermarkt lässt, dann legt eine durchschnittliche belgische 102,02 (+ 2,02 Prozent), eine französische 102,64 (+ 2,64) und eine italienische 103,21 Euro (+ 3,21) auf den Tisch des Hauses. Klar, vielleicht wird dort ja anderes, besseres eingekauft. Aber dramatische Unterschiede?

Richtig interessant wird es, wenn man sich ansieht, in welchen Ländern am meisten für Lebensmittel ausgegeben wird bzw. werden muss. An der Spitze liegen die Ukraine mit 38,95 Prozent. Es folgen Weißrussland (38,27), Mazedonien (34,19), Montenegro (32,9) und die Russische Föderation (30,02). Wahre Gourmethochburgen also, wenn man denen glauben will, die ein direktes Verhältnis konstruieren wollen zwischen Ausgaben für Essbares und Lebensqualität.

Bleibt die Frage, ob Lebensmittel in Deutschland tatsächlich viel zu billig sind, wie ebenfalls gern kolportiert wird. Antwort: Nope. Eher im Gegenteil. Im Preisindex für die EU liegt Deutschland bei Nahrungsmitteln und alkoholfreien Getränken* mit 106 (EU27 = 100) sogar im oberen Viertel und nur knapp hinter Belgien (110), Frankreich (109) und Italien (111). Am niedrigsten liegt der Preisindex auch hier in osteuropäischen Ländern und ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken.

Bedenkt man jetzt noch, dass in diesen Ländern auch die prozentualen Aufwändungen für Lebensmittel am höchsten sind (s.o.), liegt die Vermutung nahe, dass dramatische Unterschiede bei den Ausgaben dafür vor allem etwas aussagen über wirtschaftliche Verhältnisse und weniger über deren generellen Stellenwert. Selbst in Ländern, denen man eine hohe Affinität zu hochwertigem Essen nachsagt, schlägt sich dieser Unterschied, so er existiert, im Vergleich zu Deutschland allenfalls in minimalen Abweichungen nieder.

Überhaupt lässt sich vom Preis für die Rohstoffe eines Essens im Zweifel nicht wirklich auf deren Qualität schließen. Wenn es auf dem Wochenmarkt gegen Mittag geht und der Kram wegmuss, kann man, so man die Zeit hat, dicke Rabatte schießen auf einheimisches frisches Gemüse, teils sogar bio. Spanische Discounterware kann da deutlich teurer sein. Eine selbst gemachte Pizza kostet auch mit besten Zutaten, wie etwa Büffelmozzarella, immer noch weniger als der durchschnittliche Tiefkühlfladen eines Markenherstellers. Wie sowieso die angeblich so billigen Fertiggerichte rechnerisch meist viel teurer sind als selbst gekochte Mahlzeiten.

Macht das etwas besser? Nein, natürlich herrschen schlimme Zustände in Teilen der Lebensmittelindustrie. Es gibt Fleischfabriken, in denen ausgebeutete Arbeiter das Fleisch von Millionen gequälter Tieren raushauen. Es gibt selbstverständlich massenhaft Chemiedreck, Aromen, Farb- und Füllstoffe sowie jede Menge zweifelhaftes Fertigzeugs. Das aber auf eine exklusiv deutsche Schnäppchenmentalität zurückzuführen, ist schlicht Kokolores. Vielmehr offenbaren die Daten ein ebenso klares Nord-Süd- wie ein Arm-Reich-Gefälle. Da liegt der eigentliche Skandal.

Man muss wahrlich kein kritikloser Bejubler herrschender Zustände sein, wenn man fragt, wer wohl am ehesten ein Interesse daran haben könnte, den Leuten in einer Tour unterzuschieben, sie kauften viel zu billig ein. Wie wäre es zum Beispiel mit Lebensmittelherstellern, die gern mehr umsetzen würden und ihren Kunden zu diesem Zweck ein schlechtes Gewissen einreden? Oder wie wäre es mit denjenigen, die ihr eigenes kulinarisches Konsumverhalten als Mittel der sozialen Abgrenzung nutzen, auf Kosten der angeblich nur Dreck fressenden Unterschicht? Nur zwei Vorschläge. Für den Anfang.


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* Die teils erheblichen Preisunterschiede bei alkoholischen Getränken, die entstehen, weil vor allem skandinavische Länder kräftig Steuern drauf kassieren, werden extra erfasst und können diese Statistik daher nicht verfälschen.


4 Kommentare :

  1. Interessant und unerwartet. Leuchtet aber ein. Ich habe vor einer Weile mal wo gelesen, ich glaube bei Pfeffermatz, dass man in Frankreich auch nicht unbedingt großen Wert auf qualitativ hochwertiges Essen legt, sondern auf das Ritual des guten Essens. Das heißt, man hat ein mehrgängiges Menü mit gutem Geschirr, auch wenn nur Billigfraß in den Schüsseln ist. Dann hat man zwar im Vergleich zu "typisch Deutsch" edlere Formen, aber nicht edleres Essen.

    Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch der Vergleich des Anteils der Lebensmittel, die verderben und weggeworfen werden, aufgeschlüsselt nach Ländern. Wenn Du mit Deiner These richtig liegst, würde ich in den osteuropäischen Ländern und auf dem Balkan niedrigere Wegwurfanteile erwarten als in den Ländern, in denen die Leute einen geringeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden.

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  2. Schön, daß Du dir die Mühe gemacht hast mein diffuses Gefühl im Mix mit Halbwissen aufgedröselt hast. In Frankreich müssen auch sehr viele Menschen rechnen, da gleicht sich viel. Und das ist eine Erfahrung, die ich schon vor 25 Jahren machen durfte. Eine Einschränkung. Egal was die Coviniencecuisine im Familienhaushalt am Ende des Monats ausgülbt, gut gekühlten Roten dabei, gab´s überall fast immer.

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    1. Nich' dafür. Mir ist allerdings noch die Frage in den Sinn gekommen, inwieweit bei den zitierten Statistiken die z.T. sehr unterschiedlichen Mehrwertsteuern in verschiedenen Ländern berücksichtigt sind. Die (ermäßigte) MWSt in Deutschland ist mit 7 Prozent schließlich äußerst niedrig, während in Großbritannien z.B. auf alles 20 Prozent fällig sind.

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  3. Lebensmittel sind nicht nur viel zu billig in Deutschland, es gibt auch viel zu viel subhumanen Bodensatz, der uns hart arbeitenden Hochleistungsträgern die Ressourcen wegfrisst! Mein Vorschlag: das ganze mediokre 08/15-Pack wird in geschlossenen Lagern konzentriert und dort durch tabulose Gestaltung von Arbeitszeiten und Verpflegung gründlich entfettet. Anschließend wird der Standortballast thermisch-chemolytisch verwertet, d. h. zu hochenergetischer Proteinkraftnahrung verarbeitet (was? Vergasen? Wer redet denn vom Vergasen? Durch die Blausäure würde die Körpersubstanz doch giftig und unbrauchbar werden! Abgesehen ist Vergasen so was von 20. Jahrhundert, das passt doch gar nicht mehr in die Zeit!), die uns hart arbeitende Hochleistungsträger optimal beim Performen unterstützt! Ich weiß durchaus, wovon ich rede - erst letzte Woche habe ich mir aus Nordkorea 15 Kilo schön zartgehungertes Gulag-Kinderfleisch kommen lassen... de-li-ziös, sage ich nur! Kein Gramm Fett zuviel dran, und dann diese raffiniert anregende Würzung durch körpereigene Stresshormone... lecker!

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