Freitag, 10. April 2015

Grenzerfahrungen in der Konsumgesellschaft (8)


"Der Deutsche bastelt gern und der Schwede hat's herausgefunden." (Jochen Malmsheimer)

Natürlich hätte ich es wissen müssen. Jeder Dödel mit mehr als einer Handvoll halbwegs normal vor sich hin tuckernder Gehirnzellen unter der Schädeldecke weiß das. Ist ein Besuch im bekanntesten schwedischen Möbelhaus der Welt zu normalen Zeiten schon nichts für jene, die eine Abneigung gegen Menschenaufläufe haben, so ist das zu gewissen Zeiten im Jahr eine noch schlechtere Idee als sonst. Zum Beispiel vor Weihnachten oder während der Ferien. Da haben nämlich nicht nur alle Lehrer Zeit, nein, auch die Eltern schulpflichtiger Kinder genießen bei vielen Arbeitgebern Vorrang bei der Urlaubsplanung. Deswegen haben auch sie Zeit und Gelegenheit, dem Laden einen Besuch abzustatten. Und zwar alle wie sie da sind. Mit der ganzen Familie. Mit Oma und Opa. Aber die sind Rentner und haben eh immer Zeit.

Trotzdem war es wohl gerade mal das halbe Ruhrgebiet, das da vorgestern in der Dortmunder Filiale einfiel. Die andere Hälfte war wahrscheinlich ebenso geschlossen in Essen. Zwar befinden sich in Unna und in Duisburg noch weitere Standorte in der Nähe, aber die dienen vornehmlich dazu, kauflustiges Landvolk aus Westfalen und vom Niederrhein einzufangen.

Dass auf dem Parkplatz absolut nichts mehr zu wollen war und ich auf die Tiefgarage ausweichen musste, hätte mir bereits Warnung und Aufforderung sein müssen, auf der Stelle wieder umzukehren, so lange die A40 noch frei war. "In der Tiefgarage sind noch weitere Parkplätze für dich", knuffelten sie mich schon draußen verbal an. Ich wusste aus Erfahrung, das würde sich fortsetzen und bis zum Schluss nicht aufhören. "Hier brauchst du noch keinen Wagen, in der Markthalle stehen welche für dich bereit.", "Mach' dir Notizen.", "Gefällt dir unsere gelbe Tasche?", "Du musst aufs Klo?"

Ursprünglich hatte man auch in Schweden zwischen förmlicher und freundschaftlicher Anrede unterschieden, hat das aber irgendwann abgeschafft und seitdem duzen sich da außerhalb des Dunstkreises des Königshauses ausnahmslos alle, vom Taxifahrer bis zu Vorständen von Möbelhausketten. Alltag also, nichts besonderes. In Deutschland dagegen ist man es immer noch gewohnt, 'Sehr geehrte Kunden' genannt und vor allem gesiezt zu werden. Zu der Zeit, in der der Möbelriese hierhin expandierte, war ein ungefragt duzender Verkäufer eine Sensation. Wie es auch generell als locker galt, sich zu duzen. So duzte man auch die deutschsprachige Kundschaft und jubelt ihr seitdem ganz nebenbei in etwa folgenden Subtext unter:

Hej, wir sind hier keine knallharten Verkäufer, wir sind hier anders als die anderen. Junggeblieben und ein Stück weit unkonventionell, so wie du es gerne wärst, es aber nicht bist (sonst wärst du nämlich nicht hier, aber das verstehst du nicht). Vor allem aber sind wir deine Freunde. Wir wollen dir helfen, dich auch so cool, modern und urban einzurichten wie die Leute, auf die du immer so neidisch bist. Du kaufst hier nämlich nicht einfach ein paar Möbel und ein bisschen Dekokram, nein, du kaufst einen ganzen Lebensstil. Und am Ausgang haben wir Hot Dogs für einen Euro. Und Fleischbällchen. Und Lachs. Marketing hat eben unzählig viele Facetten. Jüngste Facette übrigens: Vegane Köttbullar aus Kichererbsen und Grünkohl.

Bei den Kindern fangen sie an mit dem brühwarmen Anwanzen. Wohl nur wenige der Kleinen in einem gewissen Alter freuen sich nicht über einen Besuch im blaugelben Kinderparadies. Jede Wette, die Ausbreitung eines amerikanischen Konzerns mit vergleichbaren Umsätzen wäre gerade in Deutschland weitaus kritischer begleitet worden. Weil der alte Schwede aber mit viel Naturholz und so patent skandinavisch rüberkam, hat das bei weitem nicht so viel Argwohn erregt wie etwa die Clownerien von Burgerbraterketten. Eine Folge war, dass etliche einer ganzen Generation Kinder exakt so heißen wie die Wohnzimmerschränke ihrer Eltern oder die Betten, in denen sie einst gemacht wurden. Genug der Reflexion, zurück zum Geschehen.

Apropos Kinder: Ich hatte den Laden gerade betreten, da wurde ich bereits eines live und in Farbe dargebrachten, tiefen Griffes in die Kiste mit den Stereotypen gewahr. Gleich mehrere Mütter kauerten vor dem gläsernen Bälletunnel und versuchen verzweifelt, ihren Spaß habenden Nachwuchs zum Verlassen desselben zu bewegen. Allerdings nicht per klarer Ansage, sondern per Ausdiskutieren in flehentlichem Tonfall. "Lena, schau' mal, du kannst da jetzt nicht mehr drin bleiben, die Mama muss doch noch..." Überflüssig zu sagen, dass die vor Vergnügen quietschende Lena das mehr als unverbindlichen Vorschlag zur weiteren Gestaltung des Tages auffasste und somit auch keine dringendere Veranlassung sah, ihr fröhliches Toben aufzugeben. Höchstwahrscheinlich wusste Klein-Lena auch, dass sich locker noch ein paar Extras aus Mutti herauspokern ließen, wenn sie sich ein wenig stur stellte .

Moment mal, werden nun die ersten einwenden, wenn das alles ihn so nervt, wieso geht er dann überhaupt hin? Es gibt doch Mitbewerber, bei denen sich sicher angenehmer einkaufen lässt. Nun, das ist so: Weil mein alter Röhrenfernseher letztes Jahr immer deutlichere Zeichen von Altersschwäche zeigte, ich aber nicht die Absicht habe, ohne Fernseher zu leben, wie das gerade in Mode ist, besitze ich seit einiger Zeit eines dieser modernen flachen Geräte. Lieben Menschen in meinem näheren Umfeld war dann aufgefallen, was mir im Prinzip auch bewusst war, nämlich, dass die Aufstellung des guten Stücks noch arg provisorisch war, weil ein entsprechendes Möbel fehlte. So bekam ich zum Geburtstag Gutscheinkarten geschenkt. Ich hatte also nicht wirklich eine Wahl.

Nun ist der Mensch ja ein grundsätzlich vernunftbegabtes Wesen, was sich, zugegeben, nicht immer auf den ersten Blick erschließt. Meine Planung sah aus wie folgt: Artikel zu Hause online aussuchen, Verfügbarkeit checken, Artikelnummer notieren, hinfahren, bezahlen, ins Auto damit und wieder zurück. Sollte sich ausgehen. Ging es aber nicht. Obwohl ich sämtliche Abkürzungen nahm, alle Schleichwege nutzte und auf direktestmöglichem Weg zur Ausgabehalle durchschoss, hatte ich am Ende doch wieder mehr gekauft als die geplante TV-Bank. Kleinkram nur, aber trotzdem. Die schaffen das, jedes Mal, immer wieder, egal, was ich auch versuche.

Psychologisch ist das natürlich gut erforscht. Na komm, lächeln die irre praktischen und zudem formschönen Sächelchen einen an. Nimm' uns mit. Schau mal, wir sind auch gar nicht teuer. Und uns gibt es nur hier, nirgendwo anders. Überleg' doch mal, wie selten du hier bist. Vielleicht gibt es uns beim nächsten Mal gar nicht mehr. Wäre das nicht irre schade? Wolltest du nicht schon seit Ewigkeiten eine Quiche-Form haben? Sind letztens nicht wieder ein Glas und ein Teebecher zu Bruch gegangen? Guck mal, hier ist Ersatz. Jetzt gib dir schon einen Ruck, du bist doch eh gerade beim Geldausgeben, da kommt es jetzt auch nicht drauf an. Na siehst du, war doch gar nicht schwer!

Und niemand fragte: "Musstest Du lange warten?"
Als ich dann zur Kasse schritt, durchfuhr's mich wie der Blitz: Jetzt ist es so weit! Dieser verdammte Putin! Bricht einfach einen Krieg vom Zaun, ohne dass ich was davon mitbekomme. Anders nämlich als mit Kriegswirtschaft, Rationierungen und Hamsterkäufen waren solche Warteschlangen nicht mehr rational zu erklären. Oder waren's doch nur die Osterferien? Horden drängten sich, Familienclans deckten sich mit Überlebenswichtigem ein, ganze Wohnungsdekorationen wechselten den Eigentümer. Fast mochte einen der Verdacht beschleichen, die gesamte Region habe bislang nur in gänzlich unmöblierten Löchern dahinvegetiert.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich Gelegenheit zum Bezahlen bzw. Gutscheine einlösen erhielt. Was soll's, ich war ja selbst schuld. Ich Doof musste ja unbedingt am Mittwoch nach Ostern herkommen, einem der umsatzstärksten Tage des Jahres, wie es aussah.

Am Ausgang nahm ich noch ein paar Fischkonserven (ich liebe Hering!) und natürlich den unvermeidlichen Hot Dog. Hatte ich mir verdient nach der ganzen Rumkurverei und der Warterei an der Kasse, fand ich. Neurobiologisch ist auch das natürlich gut erforscht. Belohnungszentrum streicheln und so. Klar, jeder Einzelhändler versucht, seinen Kunden mehr zu verkaufen als sie eigentlich wollen, hier aber sind sie die unangefochtenen Weltmeister im Nudging und im Aufschwatzen. Man entkommt ihnen nicht, und wenn's nur ein Hot Dog ist. Und ein Teebecher. Und eine Quiche-Form. Und ein paar Gläser. Wenn ich mich recht entsinne, führte der Laden zu seinen Anfangszeiten den Slogan 'Das unmögliche Möbelhaus aus Schweden'. Heute nicht mehr. Wie man so viel in so wenige Worte gepackte Wahrheit derart schnöde entsorgen konnte, ist mir ein Rätsel.

Dieses Mal aber habe ich sie drangekriegt. Als ich endlich wieder im Auto saß, bemerkte ich nämlich, dass ich den Bleistift, den ich mir am Eingang genommen hatte, immer noch hinter dem Ohr klemmen und nicht zurück gegeben hatte. Ha, niemand kriegt Arsène Lupin zu fassen! Quid pro quo, ihr herumduzenden Schärenelche, quid pro quo! Man wird so bescheiden mit der Zeit.



Keine Kommentare :

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.