Dienstag, 27. Oktober 2015

Leben ist lebensgefährlich


... ob mit Wurst oder ohne

Schlechte Nachrichten für Atheisten. Dass Religiösität, Kirchen und traditionelle Frömmigkeit in unseren Breiten tendenziell an Bedeutung verlieren, heißt keineswegs, dass entsprechende Mechanismen und Denkweisen mit ausstürben. Wenn einem dort, wo das Christentum herrschte, früher etwas abgeklemmt werden sollte, das man gern tat oder mochte, dann hieß es, das sei Sünde und man käme in die Hölle, wenn man das nicht schleunigst bleiben ließe. Heute heißt es mit einiger Wahrscheinlichkeit, davon könne man Krebs kriegen.

Jüngste Übeltäter: Rotes Fleisch, also Fleisch von Säugetieren und verarbeitetes Fleisch, vor allem aber Wurst, soll die Darmkrebsraten in die Höhe schießen lassen. Alarm im Lande der Currywurst! Überdies gar nicht gut für die hippe Paläo-Diat, wenn Mammut & Co vom Speiseplan gestrichen sind. Darf man das dann mit Kohlenhydraten ausgleichen oder bleiben die böse? Überhaupt wird es schnell verwirrend, wenn man einfach mal ein paar ganz blöde Fragen stellt. Und der strenge Mief puritanischer Gesundheitserziehung weht einem auch um die Nase.

"Langsam sollte es keine Liste krebserregender Stoffe mehr geben, viel praktischer und kürzer wäre doch eine, auf der nur noch solche stünden, die garantiert keinen Krebs erregen." (Stefan Kuzmany)

Denn was ist zum Beispiel mit Leuten, die eventuell Karzinogenes nicht durch bloßes Bleibenlassen aus ihrem Leben verbannen können? Dieselbe WHO, die uns gerade Wurst und Säugetierfleisch madig machen will, hat vor Jahren bereits Dieselabgase als so krebserregend wie Zigarettenrauch eingestuft. Was, wenn man qua Geburt oder Finanzen an einer stark befahrenen Straße wohnt? Pech für Johnny? Was, wenn man zwar in einer der schönsten, saubersten Ecken Deutschlands lebt, dort aber leider ein reichlich angejahrtes französisches Atomkraftwerk gleich um die Ecke jenseits der Grenze liegt? Wegziehen oder mit dem Risiko leben? Oder doch lieber wieder an die große Himmelslotterie glauben? Zurück zur Wurst. Schauen wir uns die Zahlen doch etwas genauer an:

Der WHO zufolge sterben jedes Jahr 34.000 Menschen an Darmkrebs als Folge des Verzehrs von verarbeitetem und so genanntem roten Fleisch. Bei einer Weltbevölkerung von ca. 7,5 Milliarden Menschen wären das knapp 0,0005 Prozent. In statistischer Hinsicht also weniger als nichts. Weißes Rauschen. Zumal alles andere als sicher ist, dass sich überhaupt ein halbwegs eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen Fleischverzehr und Mortalität nachweisen lässt. Die ursprüngliche China Study etwa (eigentlich The China-Cornell-Oxford Project), so was wie der Goldstandard der epidemiologischen Ernährungsstudie und nicht zu verwechseln mit der fast gleichnamigen, 2010 auf deutsch erschienenen veganen Propagandaschrift, gibt das zum Beispiel leider überhaupt nicht her, noch nicht mal Korrelationen.


Und selbst wenn das anders wäre, dann wäre an hamburgerinduziertem Krebs zu sterben immer noch in etwa so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Ein jeder entscheide für sich, ob er ob dieses Risikos auf liebgewonnene Essgewohnheiten verzichten möchte. Immerhin, die Gefahr eines Haiunfalls oder eines tödlichen Blitzschlages ist noch geringer. Die Gefahr, in Deutschland im Straßenverkehr ums Leben zu kommen, dagegen zehnmal höher.

Weiterhin heißt es, pro 50 Gramm verzehrtem verarbeitetem bzw. rohem Fleisch stiege die Wahrscheinlichkeit für einen bösartigen Darmtumor um 18 Prozent. Ah, relative Größen, ick hör euch trappsen!

Preisfrage: Wie erhöht man bei einer Tombola seine Chancen auf den einen Hauptgewinn um 100 Prozent, will heißen: verdoppelt sie (vorausgesetzt, man ist der erste Loskäufer)? Einfach zwei Lose kaufen statt eines. Mit zehn Losen verzehnfachte sich die Chance sogar. Nur bringt das nicht wirklich viel. Bei 10.000 Losen im Topf stiege die Wahrscheinlichkeit, den Hauptgewinn zu ziehen, bei zwei Losen statt einem von 0,01 auf fette 0,02 Prozent, so die Antwort von Genosse Taschenrechner. Umgekehrt sönke die, den Haupttreffer nicht zu landen, von 99,99 auf 99,98 Prozent. Also kaum relevant, alles andere ist gefühlt, und das genau ist der Trick.

Es gehört zu den auch für Laien wie mich verständlichen statistischen Binsen, dass eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit auch nach einem dramatischen Anstieg derselben immer noch eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit bleibt. Tombola eben. Anders gesagt: Sobald es irgendwo heißt, durch dieses oder jenes stiege die Wahrscheinlichkeit zu sterben um soundsoviel Prozent, hat man es fast immer mit Angstmache zu tun, die einem Wurst sein sollte. Man lehnt sich sicher nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, beim Risiko, durch rotes Fleisch und daraus hergestellte Produkte an Darmkrebs zu erkranken, handele es sich um ein statistisches und damit ein eher theoretisches.

„Wie aber kann der Mensch vernünftig sein, wenn die Natur nicht vernünftig ist und er Teil der Natur ist? …
Die Natur interessiert sich weder für Vernunft noch für Freiheit.“ (Georg Seeßlen)


Damit wir uns auf keinen Fall falsch verstehen: Die Diagnose Darmkrebs zu bekommen, ist für jeden davon Betroffenen furchtbar, gar keine Frage. Nur bestünde angesichts des Datenmaterials meines Erachtens in so einem Fall wohl absolut kein Grund, sich Vorwürfe zu machen wegen seiner Ernährung bzw. sich sein Leben mit unbegründeten Ängsten diesbezüglich zu versauen. Leben ist leider lebensgefährlich.

Damit wir uns weiterhin nicht falsch verstehen: Es soll hier auch nicht ungezügelter Billigquälfleischfresserei das Wort geredet werden. Wiewohl ich weder Vegetarier noch Veganer bin, finde ich, dass es zahlreiche gute Gründe gibt, Fleischverzehr generell bzw. das Ausmaß unseres Fleischkonsums und dessen Begleitumstände kritisch zu diskutieren. Dann aber bitte immer auch inklusive sozialer und kultureller Beigeschmäcker. Etwa der Frage, inwieweit bestimmte, momentan propagierte Ernährungsweisen auch Klassenphänomene sind, also etwa als Statussymbole und damit der sozialen Abgrenzung dienen. Und vor allem mittels vernünftiger Argumente, ohne Umerziehung und ohne Bangemachen wie einst am Nikolausabend oder im Beichtstuhl.

Eigentlich logisch, das alles. In einer Zeit, in der, zumindest in unseren Breiten, der Glaube an ein Jenseits an Bedeutung verliert, gewinnt analog dazu der Wert eines möglichst langen Lebens um jeden Preis an Bedeutung. Mit der Frage, ob ein langes Leben automatisch auch ein gutes Leben ist, hat das allerdings überhaupt nichts zu tun.



12 Kommentare :

  1. Schöner Text, volle Zustimmung meinerseits! :)

    Mich erinnert die Debatte an die Acrylamidpanikmache Ende der 90er. Auf einmal galten Pommes als ganz doll krebserregend, insbesondere, wenn sie sehr heiß frittiert wurden. Was man unterschlug: Acrylamid ist nicht nur in Pommes drin, sondern in jeder gebackenen, gebratenen kurz: irgendwie gegarten Speise. Also auch in Knäckebrot. Oder Hirsekeksen. Oder Gemüsegratin. Das interessierte dann aber irgendwie keinen mehr. Ebensowenig wie die Tatsache, dass Acrylamid für Ratten zwar hochgradig karzinogen ist, aber nicht für den Menschen, der es gänzlich anders verstoffwechselt. Millionen Jahre des Kochens und Bratens sind halt nicht spurlos an unserem Verdauungstrakt vorbeigegangen.

    Mit dem Fleisch wird's nicht anders sein.

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  2. In einer Diskussion um gesunde Ernährung meinte ein Experte mal auf die Frage was man denn nun noch essen sollte ironisch: "Es ist nachgewiesen, dass jeglicher Nahrungsverzehr bisher immer noch immer unweigerlich mit dem Tod geendet hat."

    Also: Don't worry, be happy!

    PS meines 92 Jährigen Vaters:
    Arzt: "Wenn sie auf Rauchen, Trinken und Frauen verzichten können sie hundert Jahre alt werden."
    Patient: "Und weshalb sollte ich dann hundert Jahre alt werden?"

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    1. Oder die Variante: Wer sein Leben lang nie getrunken, geraucht, gefuttert oder sonstwie über die Stränge geschlagen hat und immer um zehn im Bett war, stirbt bei bester Gesundheit. Beste Grüße an den Herrn Vater.
      @UJ: Vielen Dank. Ja, die späten Neunziger. Frau Schmidt und Frau Künast übten sich damals nicht nur bei der Nummer mit dem Acrylamid im Verbreiten und Befeuern von Hysterie. Zum Beispiel auch, dass in Deutschland ganzbald nur noch dicke Kinder rumlaufen würden.

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  3. Fluchtwagenfahrer28. Oktober 2015 um 06:34

    Moin Stefan, alter Aluhut. Ihr werdet schon sehen was Ihr davon habt, ich beiß jetzt erstmal in mein Phosphat angereichertes Sojaschnitzel und trink ganz billig Wasser aus dem Hahn mit all den leckeren Hormonen und sonstigen Bestandteilen.
    Prost

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  4. Das ist wieder ein schönes Beispiel für das beliebte Spielchen "Lügen mit Zahlen" - wobei hier ja offenbar nicht einmal mehr belastbares Zahlenmaterial verwendet wurde, um das erwünschte Ergebnis zu erzielen, wenn man dem Herrn im verlinkten Video glaubt.

    Ich habe zum Thema vegane Ernährung im Blog Dudentity kürzlich einen Auftritt von Hagen Rether gefunden, der eine ganz andere Meinung vertritt (die ich freilich nicht teile) - vielleicht mag sich der eine oder die andere das auch anschauen.

    @ UJ: Die witzige Formulierung "Millionen Jahre des Kochens und Bratens" ist eine treffliche Satire, in der Tat - auch wenn sie vermutlich (?) gar nicht so gemeint war. ;-)

    Liebe Grüße!

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    1. Das Problem ist ja, dass die Daten durchaus seriös erhoben werden, aber dann so aufbereitet bzw. frisiert werden, dass da Propaganda bei herauskommt. Ein schönes Beispiel dafür ist die Harvard-Alumni-Studie, die der bereits bekannte Herr Pollmer ebenfalls genauer unter die Lupe nimmt.

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    2. Wenn ich den Herrn im Video richtig verstanden habe, geht es in diesem Fall ja gerade nicht um "seriös erhobene" Daten - er spricht doch sogar davon, dass es in mindestens einem Fall nicht nur um unterschlagene oder falsch interpretierte Daten geht, sondern um "herbeifantasierte", fiktionale Daten, für die es überhaupt keine belastbaren Belege gibt.

      Das Problem sitzt anscheinend also wesentlich tiefer und hat wohl mit Wissenschaft nichts zu tun.

      Liebe Grüße!

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  5. "Etwa der Frage, inwieweit bestimmte, momentan propagierte Ernährungsweisen auch Klassenphänomene sind, also etwa als Statussymbole und damit der sozialen Abgrenzung dienen."

    Sehe ich auch so. Die elitäre Konsumhaltung von Vegetariern, Veganern sowie Bio- und Öko-Verfechtern sorgt letztlich auch wieder nur für divide et impera: Fleischfresser vs. Veganer. Ablenkungsthema.

    Dabei esse ich auch vielleicht mittlerweile höchstens einmal die Woche Fleisch. Ich habe selbst bemerkt, dass es meinem Darm dann einfach besser geht. Weniger übelriechende Winde :D Aber ich gehe damit nicht hausieren oder erzähle das überall rum (außer hier jetzt). Und das macht die Veganer oft auch so unsympathisch: ihr dogmatischer Missionseifer. Und der naive Glaube, die Welt würde sich zum Besseren verändern, der Kapitalismus wäre überwunden, würden wir nur alle Veganer werden.

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  6. @epikur: Ach was, aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Pfurtz, wusste schon Luther. Im Ernst: Genau diese soziokulturellen Aspekte kommen mir bei der ganzen Ernährungsdiskussion regelmäßig zu kurz vor lauter ethisch korrektem Besseressen. Dabei sind die nicht minder interessant
    @eb: Nu ja, an Shrimps (kaltwasser, Nordatlantik/Eismeer, andernfalls bio) habe ich mich ja auch gewöhnen können. Warum sollte man so was nicht zumindest mal probieren?

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    1. Gewöhnen ist nur eine Frage des Leidensdrucks. Das ist eine vornehme Paraphrase von "Der Hunger treibts rein".

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