Mittwoch, 17. Februar 2016

Zahlen lügen nicht


Zu den wichtigsten Aufgaben neoliberaler Lobbyisten und Lautsprecher gehört es, dafür zu sorgen, dass die Besitztümer des obersten Prozentes so unangetastet bleiben wie irgend möglich. Dazu ist es unter anderem hilfreich, möglichst allen einzureden, der Staat bzw. der Fiskus sei ein unverbesserlicher Gierlappen, der die Hälfte des hart errackerten Inhalts unserer Lohntüten gleich mal einkassiere, die direkten Steuern, vor allem auf Arbeitseinkommen, Vermögen und andere daher gar nicht genug gesenkt werden können. Entscheidend ist, dass gerade Kleinverdiener das auch glauben. Nicht dass am Ende noch jemand die Vermögensverhältnisse infrage stellt.

Ins Werk setzen lässt sich das bekanntlich auf ganz unterschiedliche Weisen. Neben direkter und indirekter politischer Einflussnahme natürlich mit allen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit. Werbung, PR in Talkshows und Medien (die Wirtschaftsredaktionen der meisten überregionalen Zeitungen sind stramm neoliberal ausgerichtet), aber auch Schulbücher sind längst nicht mehr sicher. In kaum einem Wirtschafts- und Sozialkundebuch, das mir in den letzten Jahren in die Finger geraten ist, fehlt noch die Horrorgeschichte vom baldigen Kollaps des Sozialstaats wegen dessen Unfinanzierbarkeit und das Halleluja von der Wichtigkeit privater Vorsorge.

Gut, das mag noch naheliegend sein bzw. es sollte einen nicht wundern. Schulbücher haben immer auch eine das herrschende System stabilisierende Funktion und das Kassandralied vom Zusammenbruch der Sozialsysteme wegen überzogenener Leistungsansprüche der Bürger gehört ja längst zur offiziellen Folklore.

Interessant fand ich aber, auf was ich letztens gestoßen bin. Es handelte sich um ein Übungsbuch für Fachrechnen in Lagerberufen. Im Kapitel über Prozentrechung stand unter anderem folgende Aufgabe:

Sven, ledig, erhält ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.700,00 €. Die an das Finanzamt abzuführende Lohnsteuer beträgt 25 % des Bruttolohns, die Kirchensteuer 8 % der Lohnsteuer. Die von Sven zu zahlenden Sozialversicherungsbeitragssätze belaufen sich zurzeit auf: 9,45 % Rentenversicherung, 8,2 % Krankenversicherung (inkl. 0,9 % Arbeitnehmer-Sonderbeitrag), 1,5 % Arbeitslosenversicherung, 1,275 % Pflegeversicherung.
a) Ermitteln Sie die einzelnen Abzüge.
b) Ermitteln Sie Svens Nettoeinkommen.


Rechnet man das getreulich aus wie angegeben, dann bleiben Sven nach Abzug aller Steuern und Abgaben gerade noch lumpige 878,57 Euro*. Niederschmetternde Erkenntnis: Fast die Hälfte von Svens hart verdientem Geld sackt der nimmersatte Vater Staat sich ein. Frechheit, so was! Und die faulen Arbeitslosen machen sich davon einen Lenz. Steuern senken, aber pronto!

Das Dumme ist nur, das stimmt so nicht. Der eine oder die andere wird sich vielleicht schon gefragt haben: Moment mal, was ist eigentlich mit dem Grundfreibetrag? Der wird auch steuerfreies Existenzminimum geheißen und lag 2015 für Ledige bei 8.472 Euro p.a. Das heißt, in Svens Fall werden nicht seine vollen 21.000 Euro Jahreseinkommen versteuert, sondern nur 11.928 Euro (20.400 - 8.472). Berücksichtigt man das und nutzt zum Ermitteln der Steuerschuld den Steuerrechner des Finanzministeriums, dann bleiben unserem wackeren Sven immerhin 1.079,38 Euro netto. Sofern ich mich nirgendwo verrechnet habe.

Man verstehe mich nicht falsch: Ich halte knapp 1.100 Euronen monatlich deswegen noch lange nicht für ein üppiges oder gar auskömmliches Einkommen. Um mit dem momentan geltenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde auf diese 1.700 Euro im Monat zu kommen, müsste man 200 Stunden ableisten, also etwa 47, 48 Stunden die Woche. Ich mag auch niemandem per se böse Absicht unterstellen. Vielleicht war's bloß Schlamperei oder Unkenntnis. Es handelt sich, wie gesagt, um ein Buch für den Bereich Logistik und der Verlag ist bekannt dafür, viel Material billig von Honorarschreibern einzukaufen. Zumal auch Schulbücher heutzutage längst nicht immer so sorgfältig lektoriert werden wie es eigentlich nötig wäre.

Andererseits: Hauptzielgruppe sind Auszubildende, die wegen der Höhe ihrer Ausbildungsvergütung meist noch nicht einkommenssteuerpflichtig sind. Denen ließe sich so - rein hypothetisch jetzt - gleich zu Beginn ihres Berufslebens schon einmal die Mär vom raffgierigen Staat ins Hirn pflanzen. Selbst wenn ich mir das alles unzutreffenderweise zusammenreimte, es würde schon sehr schön ins Gesamtbild passen.


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* 425 € Lohnsteuern (1.700 x 0,25), 34,00 € Kirchensteuer (425 x 0,08), 160,65 € Rentenversicherung (1.700 x 0,0945), 154,70 € Krankenversicherung (1.700 x 0,091), 25,50 € Arbeitslosenversicherung (1.700 x 0,015), 21,68 € Pflegeversicherung (1.700 x 0,01275).


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