Dienstag, 19. Juli 2016

Wir Vergleichgültigten


Besonders kindische Gemüter pflegen ja zu glauben, jemand, der mal die eine oder andere Sentenz getan hat, die ihnen irgendwie voll nicht in den Kram passt, disqualifiziere sich völlig für jedweden weiteren Diskurs. Im akademischen Umfeld scheint, was mich als gelernten Philologen schmerzt, diese Unsitte zur Zeit besonders in Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften modern zu sein. Traurige Berühmtheit erlangte die Komödie vom vorletzten Jahr, als an der Berliner Humboldt-Uni eine paar sich weigerten, sich in einer Einführungsveranstaltung im Fach Erziehungswissenschaften mit Texten von Kant, Rousseau und Voltaire zu befassen. Die jungen Gehirnakrobaten in spe waren der Ansicht, derlei Texte seien nichts weiter als von toten weißen Männern verzapfte, rassistische und eurozentrische Kackscheiße und somit komplett irrelevant. Wow, Meilensteine der Hermeneutik!

Jaja, ich weiß, damals, '68 sind noch ganz andere Dinge abgegangen an der Uni, dagegen ist das doch harmlos. Es geht ja auch weniger darum, dass da welche auch mal aufmüpfig sind und das, was man ihnen vorsetzt, kritisch, auch ideologiekritisch hinterfragen. Das ist, im Gegenteil, sogar sehr wünschenswert. Es geht auch nicht darum, falschen Respekt vor tatsächlichen oder vermeintlichen Geistesgrößen der Vergangenheit zu oktroyieren oder sie nicht kritisieren zu dürfen. Nein, es geht um die schandbare Oberflächlichkeit, die kindische Borniertheit, die ihrerseits überhaupt keinen Widerspruch duldet und sich komplett weigert, irgendwas jenseits des eigenen, begrenzten Horizonts überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Und es geht darum, dass da ein paar Schreihälse ihr inqusitorisches Zensierenwollen von Texten ernsthaft für Wissenschaft ausgeben und hinterher sich als Opfer stilisieren, wenn sie Gegenwind bekommen.

Ähnlich erging es Herfried Münkler, eines Zeichens Professor für politische Theorie an der HU Berlin. Dass der Mann alles andere als unkontrovers ist, darüber muss man genau nicht streiten. Es spricht einiges dafür, in ihm einen ungewählten inoffiziellen Regierungsberater und Stichwortgeber hinter der deutschen Außenpolitik der letzten Jahre zu sehen und man kann das selbstverständlich problematisch finden. Andererseits gehört es aber weder zu den Pflichten eines Politologieprofessors, links zu sein bzw. das, was man sich gemeinhin unter links vorstellt, bzw. außerparlamentarische Opposition zu betreiben. Auch ist es vom Staat bezahlen Wissenschaftlern nicht verboten, Politikern und Regierungen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Eigentlich war das auch nie anders. Streitbare Intellektuelle, die in der Öffentlichkeit präsent sind, gehören aber immer noch zum Besten, was einer Gesellschaft passieren kann, ob einem ihre Positionen nun passen oder nicht. So halte ich umgekehrt auch die Arbeit Lann Hornscheidts nicht per se für so abstrus und spinnert wie sie gern hingestellt wird. Klar, ich kann mir kaum vorstellen, so zu reden und zu schreiben. Die Vorstellung, dass Menschen in 100 Jahren vielleicht den Kopf schütteln werden darüber, wie man vor 100 Jahren so redete und schrieb, und dass Hornscheidts Arbeit dann als echte Pioniertat gilt, mag unwahrscheinlich sein, gänzlich auszuschließen ist das aber nicht, auch wenn Genderfresser und Sprachpuristen darob Krämpfe kriegen. Man weiß halt nie, was passiert und sah im Zweifel schon Pferde kotzen. Ich hätte es vor 20 Jahren auch für völlig undenkbar gehalten, dass es einmal ein fast totales Rauchverbot in der Gastronomie geben würde. So kann man sich täuschen. Wie dem auch sei, eine Uni in der sowohl Hornscheidt als auch Münkler ihren Platz haben, ist vielleicht nicht die Allerschlechteste.

Auch wenn letzterer, wie gesagt, gern mal aneckt (was ihm unter anderem diesen für ihn sicher nervtötenden, für Außenstehende jedoch zuweilen höchst amüsanten Watchblog eingebracht hat), ist es meist lohnend, zur Kenntnis zu nehmen, was er so schreibt  So findet sich etwa in seinem voluminösen Buch über den ersten Weltkrieg ein Kapitel über die ideengeschichtliche Entwicklung innerhalb des Deutschen Reiches während des Krieges, das sich mit viel Gewinn lesen lässt, viel Erhellendes liefert, das in solch konzentrierter Form noch nirgendwo anders zu lesen war. Auch seine vor allem gegen Sloterdijk gerichtete Analyse der so genannten Flüchtlingskrise bzw. seine Erklärung der Entscheidung der Regierung, die Grenzen offen zu halten (womöglich kam der Vorschlag ja von ihm, man weiß es nicht) gehört zum Unaufgeregtesten und Klarsten, was zu dem Thema gesagt wurde und ließ viele hysterische Grenzendichtmacher heftigst aufjaulen.

Vielleicht ist es dieser Hintergrund, der ihn auch in Pressekreisen unter besonderer Beobachtung stehen lässt. So hat Münkler nun angesichts der schlimmen Ereignisse in Nizza und anderswo eine Haltung empfohlen, die er 'mürrische Indifferenz' nennt. Also: "Bloß nicht aufregen, nicht trauern, nicht frohlocken, einfach nur weitermachen, als hätten Anschläge überhaupt nicht stattgefunden. Damit, so meint er, könne man Terroristen um die Frucht ihrer Taten bringen.", wie es Bernd Matthies zusammenfasst. Shit happens also, klassische Deeskalationstechnik. Erscheint mir gar nicht so blöde. Im Gegenteil, durchaus diskussionswürdig sogar. Nicht so Matthies. "Wie wäre", fragt er bezüglich des großen Trauergottesdienstes für die Opfer im Berliner Dom, "eine solche Veranstaltung wohl im Zeichen mürrischer Indifferenz abgelaufen?" Und schließlich: "Die vergleichgültigte westliche Gesellschaft ist möglicherweise kein Opfer mehr. Aber möchte jemand drin leben?"

Verstehe ich nicht ganz. Wo ist das Problem? Wir leben doch längst drin. Teilweise wenigstens. Diese Gesellschaft bekommt es mehrheitlich ganz prima hin, angesichts der tausenden im Mittelmeer Ertrunkenen oder sonstwie auf der Flucht Verreckten schulterzuckend bis mürrisch indifferent zu bleiben und diesen Schrecken nicht allzu nahe an sich heranzulassen. Das kommt in den Nachrichten, man findet's vielleicht schlimmschlimmschlimm und das war's. So läuft's doch. Was denn auch sonst?, heißt es dann. Wir können doch schließlich nicht um alle trauern, das Elend der Welt auf unsere Schultern nehmen. Ist doch normal, so was. (Wobei nicht selten auch unausgesprochen mitschwingt: Sind ja selber schuld, die Schwatten, sollen sie halt nicht fliehen. Weiß doch wohl jeder, wie gefährlich das ist.)

Man könnte es auch anders sehen: Wer Trauerzeremonien für die Toten von Nizza für einen Gradmesser der Wärme und Mitmenschlichkeit einer Gesellschaft hält, gleichzeitig aber das Ausbleiben selbiger für die Toten im Mittelmeer nicht mit gleicher oder zumindest vergleichbarer Verve beklagt, muss schon auch begründen können, wieso. Etwa weil es nur natürlich ist, dass die 'eigenen Leute' einem näher sind als 'die anderen'? Das grenzte ja, wenn schon nicht an Rassismus, so doch mindestens an Verlogenheit.

Ich sag's ja: Streitbare Intellektuelle - manchmal ein echter Gewinn.


5 Kommentare :

  1. 'mürrische Indifferenz' finde ich gut. Endlich habe ich einen passenden Begriff. Ich ignoriere übrigens schon längst jede Trauerfeier die nichts mit meinem unmittelbaren Erleben zu tun hat. Seit Prinzessin Diana bekomme ich bei so was immer sofort einen Brechreiz. Klarer Fall von Übersättigung.
    Und zu Rassismus und Tote: warum ist es immer soooo wichtig ob unter den Opfern auch Deutsche waren? Bisher hab ich noch keinen von denen gekannt. Gibt ja auch nur 80 Millionen. Ich fordere Informationen darüber wie viele der Opfer Alkoholiker, Jungfrauen oder überschuldet waren. Jawohl! (von überschuldeten alkoholabhängigen Jungfrauen will ich wiederum nichts wissen. Da bin ich konsequent inkonsequent).

    Im ernst: guter, nachdenkenswerter Artikel. Noch was technisches: ich erkenne deine Links im Text nicht. Da ich rot-grün blind bin weis ich nicht ob es daran liegt, dass sie nicht vom Text zu unterscheiden sind oder ob ich die Farbe nur nicht erkenne. Vielleicht ein besserer Kontrast wenn technisch machbar?

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  2. Hab den Text verstanden, und ist ja auch alles ok soweit; über Lann Hornscheidt bin ich dann doch gestolpert. Promotion wohl im Hauptfach Skandinavische Linguistik.

    Sommersemester 2016 keine Veranstaltungen.

    Was ich mich frage: hat sie in ihrem anderen Fach, „Gender Studies“, irgendwas veröffentlicht außer Kampfschriften? Bin ehrlich neugierig und halte meinen Hut beidhändig fest, damit er nicht wegfliegt.

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    1. Hehe, ich kann auch nicht behaupten, einx Anhängx von x zu sein und hab da auch so meine Probleme, aber x aufgrund oberflächlicher Lektüre in die Tonne zu treten, hieße, denselben Fehler zu begehen wie xs unentspannte Anhängxschaft in der eingangs erwähnten Vorlesung (boah, ist das doof, so zu schreiben...)
      @Wolfgang: Danke. Rot-grün-Blindheit hatte ich leider nicht auf dem Schirm, als ich das Ding hier seinerzeit zusammengebrasselt habe. Ich überleg mir mal was.

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    2. Wegen oberflächlicher Sekundärquellen verurteile ich sie natürlich nicht, allenfalls stelle ich die Lauscherchen auf.

      Aber ihre Weigerung zur Offenlegung seriöser Forschungspublikation dürfen wir doch gerne als „Feigheit vor dem Feind“ ansehen? Politischer Aktivismus ohne wissenschaftliche Substanz?

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    3. Also bitte, Forderungen wie die nach "seriösen Forschungspublikationen" sind doch nur Teil der patriarchalen Verschwörung, um Frauen und andere Gender an ihrer Entfaltung zu hindern...

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