Samstag, 5. April 2014

Musikalische Jubiläen (1)


Es gibt diese Knackpunkte im Leben. Diese Momente, in denen einem klar wird: Scheiße, das war's jetzt wohl mit der Kindheit, der Jugend, dem Jungsein, endgültig. Sie kommen plötzlich, gern unerwartet, und man hat das sichere Gefühl, dass das Leben soeben unwiederbringlich ein anderes geworden ist. Zum Beispiel, wenn die erste große Liebe in die Brüche gegangen ist. Oder später, wenn der Arzt einem zum ersten Mal ans Herz legt, es mal ein wenig ruhiger angehen zu lassen. Oder wenn man irgendwann feststellt, dass der Job einen so müde macht, dass man am Wochenende lieber seine Ruhe hat und ausschläft, um wieder Kraft zu tanken, anstatt auf die Piste zu gehen. Während gleichzeitig die verrenteten Eltern, die sich zum Glück bester Gesundheit erfreuen, es ordentlich krachen lassen und länger aufbleiben als man selbst.

Irgendwann, meist mit Beginn der Pubertät, kommt auch der Punkt, an dem man Musik hört, die alles bis dahin Gehörte plötzlich bedeutungslos erscheinen lässt und einem fast körperlich klar wird, dass sich soeben eine neue Welt aufgetan hat. Oder man spürt, dass einem alle maßgeblichen Peergroups auf ewig verschlossen bleiben werden, wenn man nicht ganz schnell damit aufhört, die falsche Musik zu hören. Besonders peinlich konnte es Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger für einen beginnenden Teenager werden, wenn herauskam, dass man ABBA-Platten im Hause hatte. Wer in diesen Zeiten von Punk, New Wave, Neuer Deutscher Welle oder New Wave Of British Heavy Metal (die Disco-Welle hatte es nicht mehr bis an unsere Schule geschafft), offen gestand, gern ABBA zu hören, hatte spätestens ab Klasse sieben ein Problem.

Also hasste auch ich irgendwann ABBA. Natürlich hasste ich ABBA. Abgrundtief. Alle Jugendlichen, die halbwegs cool und amtlich sein wollten, hassten ABBA. Wie die Pest. ABBA war der musikalische Gottseibeiuns. Schlimmer als ABBA waren nur noch Heino und deutscher Schlager. ABBA zu mögen war so unfassbar uncool wie Eiskunstlauf gut finden. Sie zu hassen gehörte zum guten Ton in einem Umfeld, in dem Musik entweder politisch relevant, abgefahren oder hart, auf jeden Fall aber irgendwie schräg und unkonventionell zu sein hatte. Mindestens so unkonventionell jedenfalls, dass die Eltern einen anbölkten, gefälligst den Krach leiser zu machen, sonst flöge die Kompaktanlage, die man zu Weihnachten bekommen hatte, auf den Müll. (Heimlich diskutierten wir unter Jungs natürlich weiter, ob die blonde Agnetha oder die rothaarige Annifrid die Schärfere von beiden war.)

Das war natürlich unfair, denn musikalisch waren und sind ABBA ganz großes Kino. In der Popmusik vielleicht nur mit Lennon/McCartney und Jagger/Richards zu vergleichen. Legt man geschmäcklerische Scheuklappen ab, dann kann man stundenlang darüber fachsimpeln, wie jeder einzelne Song ein gewisses Extra hat, das ihn irgendwie interessant und zu etwas ganz Besonderem macht. Über die flimmernde Close Harmony der beiden hohen Frauenstimmen, Sopran die eine, Mezzo die andere. Über die eigentlich simplen, aber unglaublich effektiven Einfälle. Zum Beispiel, wenn im letzten Refrain eines netten, aber ziemlich belanglosen Liedchens wie Super Trouper eine der Frauen eine Terz höher singt und die Nummer dadurch auf einmal förmlich abhebt. Das Gespann Andersson/Ulvaeus schien im Akkord Sachen aus dem Handgelenk zu zaubern, für die eine Menge anderer Musiker getötet oder ihre Seele dem Teufel verkauft hätten. Das Problem lag woanders.

Wuchs man in den Siebzigern auf und hatte man Eltern, die ihrerseits mit Rock 'n Roll und Beatmusik sozialisiert waren und daher Englischsprachigem und Lauterem nicht prinzipiell abgeneigt, dann konnte es passieren, dass Eltern und Kinder die gleiche Musik gut fanden. Als Kind findet man das klasse, als Pubertierender aber will man sich abgrenzen.

Eines nämlich hatte ABBA niemals: Den leisesten Hauch von Ecken und Kanten. Sie waren so skandinavisch-pragmatisch, so harmlos, patent, proper und bodenständig wie der Volvo-Kombi, mit dem der Sowi-Lehrer morgens immer zur Schule gekarrt kam. Und wenn ihre Ehen in die Brüche gingen, dann gingen sie eben. Kein Grund für öffentliches Drama. No big deal, man ist schließlich erwachsen. Vielen Adoleszenten aber dürstet's nach Leidenschaft, nach Entgrenzung, Wildheit, Grenzüberschreitung, und zwar mit Schlagsahne. Die beiden schwedischen Ehepaare erschienen einem da irgendwann so grauenhaft nett, perfekt und lieblich, dass man kotzen wollte. Rock 'n Roll geht anders und das war das Problem. Bei aller musikalischen Brillanz waren sie und ihre meist reichlich belanglosen bis platten Texte so sehr Konsens wie Möbel von IKEA.

Jetzt, da sich das Bühnenjubiläum von ABBA zum vierzigsten Male jährt, ist das alles längst vergessen, der musikalische Horizont ist weiter geworden und es bleibt der Respekt vor einer der größten Popgruppen aller Zeiten. Auch mit vielem anderen heben sie sich wohltuend ab von anderen ehemaligen Showgrößen: Mit ihrer Fähigkeit zum würdevollen Altern und ihrer konsequenten Weigerung, noch einmal aufzutreten. Nicht aus Zickigkeit, sondern aus dem Bewusstsein, dass alles seine Zeit hat, dass es kindisch wäre, Vergangenes mit Gewalt wiederbeleben zu wollen und dass man Aufgüsse lieber denen überlässt, die sich damit auskennen.

Noch etwas fällt auf beim Betrachten diverser Portraits und Dokumentationen. Ihre Freundlichkeit und Bodenständigkeit war tatsächlich nie aufgesetzte Attitüde oder künstlich aufgepumptes Image, sondern wirklich echt. Auch dafür muss man sie ein wenig lieb haben in Zeiten, in denen jeder Anflug kalkulierter Unangepasstheit bloß noch ein Asset ist, das sofort massenhaft vermarktet wird. Aber das ist ein anderes Thema, das besser im zweiten Teil aufgehoben ist, in dem es demnächst um den zwanzigsten Todestag Kurt Cobains gehen wird.

So, es hilft nichts, es bleibt noch die Frage nach meinem Lieblingssong von ABBA. Dancing Queen? Nee, finden erstens alle toll und war mir zweitens immer schon einen Tick zu viel, obwohl musikalisch top (wie viele andere Popsängerinnen konnten so souverän hohe Cs raushauen?). S.O.S.? Geht schon ziemlich gut ab. Waterloo? Zu kurz. Außerdem: Diese Kostüme! Mamma Mia? Hm, Auch nicht. Voulez-Vous? Ein wenig überladen, bemüht funky. Summer Night City? Rockt sogar durchaus und wurde von Therion kongenial gecovert. Aber Lieblingssong? Nö.

Nein, mein liebster Song von ABBA ist Knowing Me Knowing You. Diese Harmonien! Wie sich das Ding nie recht zu entscheiden scheint. Wie das in der Schwebe bleibt und changiert zwischen Melancholie, Power, Optimismus und wieder zurück. Unerreicht.



8 Kommentare:

  1. "Take a chance on me" , als weiterer Vorschlag.

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    1. Ja, richtig, das fehlt in der Aufzählung. Groovt gut, geht einem tagelang nicht aus dem Kopf und hat ne Killer-Basslinie. (Überhaupt sollte man noch erwähnen, dass auch die ABBA-Begleitmusiker fast alles Top-Leute aus der damaligen Jazzszene waren.)

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  2. Siewurdengelesen5. April 2014 um 23:44

    Für mich ist "The Day Before You Came" die Nummer 1.

    Herrlich melancholisch und charakterisierend für die Zeit kurz vor der Auflösung. Musikalisch ist ABBA ohnehin nicht zu vergleichen, sondern steht für sich.

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  3. Also von der Herangehensweise was Sounhd und Gesang angeht, sind die Beach Boys sicherlich Pate gestanden. Und keiner hat die eigene Trennung so traurig besungen, wie ABBA in "The winner takes it all".

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    1. Beach Boys waren sicher ein Einfluss, deren Vokalarrangements waren allerdings weit komplexer. 'Winner Takes It All' war in der Tat schon ungewohnt traurig, aber als 'The Day Before You Came' herauskam, war klar: Das war's jetzt wohl (allein schon das Video mit dem Bahnhof im Dämmerlicht)

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  4. Ja, auch ich bin eine ABBA-Geschädigte. Ihre Musik ist für mich untrennbar mit meiner Jugend verbunden, der Zeit, zu der man alles noch für möglich hielt und die Zukunft wie ein großer Traum vor einem lag.

    Meine Lieblings-Songs:

    Fernando / When all is said and done / Slippin' through my fingers

    Beste Grüße
    Sibog1957

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  5. Also bei uns war es nie sonderlich verpönt, ABBA zu hören. Dass sie bei uns Jugendlichen trotzdem nie wirklich ein Bein auf den Boden bekamen, war wohl der Tatsache geschuldet, dass es damals jede Menge Popbands gab, die man sich gut anhören konnte: Smokie, Sweet, Bee Gees, ELO usw.. Wenn heute Sehnsucht nach ABBA aufkommt, dann wohl deswegen, weil die Ikea-Gemütlichkeit, die ABBA ausstrahlte fast schon wieder etwas Rebellisches hat. Sie haben gute Lieder komponiert und ansonsten die Fresse gehalten. Heute schreibt man lausige Lieder und reißt dafür aber die Klappe sperrangelweit auf(-> Miley Cyrus).

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  6. erst jetzt über diese schön reminiszierenden gedanken stoßend habe ich selten einen inhalt so sehr geteilt. danke dafür. ja, und knowing me knowing you als permanent reminder an eine zeit, in der ich trotz wahrlich härtester kindheit und jugend erwartungsvoll in eine gute zukunft geblickt hatte, löst heute noch ganz eigene gefühle und stimmungen in mir aus.

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