Sonntag, 15. November 2015

Krieg und westliche Werte


Es heißt, die IS-Killer von Paris hätten deswegen in einem Konzert um sich geballert, weil sie Musik für ein Zeichen westlicher Dekadenz halten, das sie bei sich zu Hause streng unterbinden. Wie Schweinefleisch, Alkohol, Erotik, Humor. Ja, ich weiß, wir, der Westen, sollten uns nicht einfach hinstellen und mit dem Finger auf die unserer Meinung nach Schuldigen zeigen. Den IS und vergleichbare Veranstaltungen vor ihm haben wir, der Westen, mit unserem Verhalten erst herangezüchtet und so richtig erfolgreich gemacht, ist mir bewusst.

Das bedeutet aber nicht, dass ich mich deswegen genötigt sähe, auch nur einen Funken Verständnis aufzubringen für Menschen, die sich aus lauter Heiligkeit für berechtigt halten, anderen schöne Dinge wie Musik mittels blauer Bohnen und anderer Mordwerkzeuge abklemmen zu dürfen. Ein jeder mag meinethalben gläubisch sein nach seiner Facon, aber das ist so ein Punkt, an dem meine Bereitschaft zum Differenzieren definitiv erschöpft ist.

Die Toten sind noch nicht ganz kalt, die Tränen längst nicht trocken, da werden bereits ohne Restbestände von Anstand Ängste geschürt und es wird instrumentalisiert, dass sich die Balken biegen. Man verbittet sich, die schrecklichen Ereignisse zu instrumentalisieren und fordert im gleichen Atemzug schamlos: Grenzen dicht, Ausländer raus! Wer es wagt zu widersprechen, ist ein Verräter, denn er hilft den Terroristen. Nein und nochmals nein! Wenn es irgendetwas gibt, das Terroristen wirklich hilft und ihnen am Ende den Sieg bringt, dann, auf exakt solche Panikmache reinzufallen und die Hosen voll zu haben.

Es ist verrückt. Wir fliegen zum Mond (ja, wir tun es nicht, aber wir könnten es), wir kommunizieren in Lichtgeschwindigkeit, reisen um den Globus, tragen Minicomputer in der Tasche, die vor Jahrzehnten nicht mal in Science Fiction-Filmen vorkamen, wir haben tödliche Krankheiten weitgehend besiegt und könnten alle so alt werden wie nie zuvor, aber in einem Punkt erweist diese verfluchte Menschheit sich regelmäßig als erstaunlich lernresistent. Wenn's um Krieg geht. Geschichte ist halt nicht MINT. Braucht man nicht. Irrelevantes, wirtschaftlich nicht verwertbares Gelaber.

(Fun fact am Rande: Ihr könnt, liebe Pegidalatscher, Bürgerwehren, Salonrassisten, Brandstifter und Besorgte Bürger, dichte Grenzen fordern bis zum Sankt Nimmerleinstag. Werdet ihr sicher auch tun. Wird nur nicht passieren. Allein schon deswegen nicht, weil der Kapitalismus von offenen Grenzen profitiert. Ich wollt's halt nur mal erwähnt haben.)

„Mehr Sicherheit? Das hat ja offensichtlich nach den Angriffen vom Januar 2015 nichts genutzt. Warum also nicht: "Mehr Lehrer?" "Mehr Sozialarbeiter?" "Mehr Jobs?" Mehr Bildung, mehr Aufklärung, mehr Möglichkeiten, sich als Teil dieser Gesellschaft zu sehen, die es gilt, in ihrer Freiheit und Schönheit zu bewahren?“ (Georg Diez)

Vor allem nämlich werden leichtfertig Kriegsworthülsen abgesondert. Einige scheinen ihn mit wohligem Schauer förmlich herbeizusehnen, ihren Krieg. Wie 1914, am dollsten jene Schreibtischtäter, die selbst praktischerweise nicht mehr in die Verlegenheit kommen, an der Waffe dienen und die Knochen hinhalten zu müssen. Dekadente Kinnmuskelspanner, die Pazifismus nicht als zivilisatorischen Fortschritt begreifen, sondern als Zeichen von Verweichlichung. Und damit exakt so ticken wie die, die sie bekämpfen wollen.

Es kursiert die These, dass Kriege unter anderem ausbrechen, wenn Gesellschaften zutiefst gelangweilt sind. Wer weiß, vielleicht ist ihnen ja langweilig. Dann wäre der letzte Krieg, bei dem hierzulande echter Flurschaden entstanden ist, offenbar wieder so lange her, dass Kriegstreiberei wieder salonfähig wird, und niemand "Moment mal!" ruft. Dabei kennen wir das alles doch vom letzten Mal. Remember, remember, elfter September! Eskalation hat damals schon super funktioniert. Wie eigentlich immer. Hat massig Menschenleben und Geld gekostet und uns die aktuelle Mörderbande, wir erinnern uns, erst eingebrockt.

Der Bundesjockel gauckte sich gar im bebend pastoralen Duktus was zusammen, von wegen, wir seien Opfer einer ganz neuen Art von Krieg. Ehrlich? Kann ja sein, dass dem aus der Zone stammenden Präsi mit Religionshintergrund das neu ist, aber wenn er mal die Kollegen auf der Insel fragte, würde er erfahren, dass die Briten diese nigelnagelneue Art des Krieges unter der Bezeichung 'The Troubles' einige Jahrzehnte lang am Hacken gehabt haben. Es haben nur keine fanatischen, verpeilten Muslime gemordet, sondern Nordiren. Christen. Weiße. Professionell organisierte und agierende Kämpfer auch sie. Von der verlogenen Leier, die da gekurbelt wird, nämlich die vom armen, unschuldigen Westen, der doch nur seine Geschäfte machen und sein Leben leben will, nur Gutes im Schilde führt und dafür völlig zu Unrecht ins Fadenkreuz des Terrors gerät, fange ich besser nicht erst an.

Krieg ist ja völkerrechtlich einigermaßen klar definiert: Ein souveräner Staat geht einem anderen souveränen Staat mit Waffengewalt ans Leder, alles andere ist Bürgerkrieg. Führen wir in Afghanistan mit regulären Truppen etwas, das äußerlich alle Kriterien eines Krieges erfüllt, außer dass die Taliban kein souveräner Staat sind, darf das um Himmels willen nicht so genannt werden. Haben wir es hingegen mit etwas zu tun, das keine Züge eines Krieges trägt, außer dass Menschen getötet werden, dann schwallen sie vom Krieg herum. Das ist so absurd, dass es verdächtig ist.

Auf jeden Fall ist es Kokolores jetzt herumzuunken und so tun, als hätte der IS das Rad erfunden. So was ist furchtbar, so was hat es gegeben, so was gibt es und so was wird es weiter geben, leider. Vermutlich werden wir uns auf weitere Troubles einstellen müssen und das wohl für längere Zeit. Vielleicht der Preis unseres Lebensstils und unseres Agierens in der Welt.

Es traf sich, dass gestern Abend ein Livekonzert anstand. Mit netten Leute hin, nette Kneipe in angenehm verranzter Rustikal-Optik, ordentliches Bier im Ausschank. In dem Laden war ich noch gar nicht, obwohl ich den Wirt von früher kenne. Die Band? Leopardenjacken. Weiße Anzüge. Vintage-Gitarren. Vintage-Röhrenverstärker, Vintage-Schweineorgel. Massig Effektpedale. Seventies-Wohnzimmer-Deko. Und mangels Drummer eine Rhythmusmaschine von 1974, die ganz ironisch scheiße klingt. Zwei schöne Stunden lang wurden gekonnte Coverversionen von Klassikern geboten. Stones, Creedence Clearwater Revival, Hendrix, Doors, Prince. Angetütert und beseelt, Hirn und Seele freigespült, verlässt man hinterher den Ort so eines Geschehens. Hochwillkommen, wenn die Rübe schwer ist vor drückenden Gedanken.




Laute, wilde Musik mit teils unzüchtigen Texten, Spaß, Exzess, einen draufmachen, was trinken und auf dem Heimweg eine Currywurst – jetzt erst recht! Das und nicht Säbelrasseln ärgert verbiesterte Frömmler immer noch am allermeisten. Wer sagt, dass für westliche Werte einzustehen keinen Spaß machen darf? Leider hatte die Wurstbude schon zu.



10 Kommentare:

  1. Das Problem ist doch, dass uns gerade die "westlichen Werte" den Terrorismus eingebrockt haben. Denn dazu gehört nicht nur Techno, Mcdonalds, Porno, Trash-TV und Mario Barth, sondern eben auch Imperialismus, Kriege für Rohstoffe und Transportwege, Freihandelsabkommen, Outsourcing von Ausbeutung (Sweat Shops), Neokolonialismus (Afrika) sowie Deregulierung, Liberalisierung und Flexibilisierung. Man kann nicht in weiter Ferne Kriege führen, Länder in die Steinzeit bomben, Wälder und Naturlandschafen mit chemischem Müll zerstören, Diktatoren mit Waffen beliefern - und sich dann Zuhause sicher fühlen wollen.

    Aber Du hast natürlich völlig recht, dass die Anschläge in Paris jetzt von den Söders, den Scharfmachern, Pegidäsen, PI-Fans und Nazis instrumentalisiert werden wird: "Wir haben es ja schon immer gesagt!"

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Dass uns »gerade die "westlichen Werte" (sic) den Terrorismus eingebrockt haben« ist (nicht nur im Zusammenhang mit den Pariser Attentaten) ein dermaßen empörend strunzdummer Kommentar, dass einem dazu wirklich nimmer viel einfällt außer Kopfschütteln.

      Löschen
    2. Stimmt. Unsere "westlichen Werte" sind natürlich Friede, Freude, Gerechtigkeit, Liebe, Freiheit und Eierkuchen. Die wir mit Waffenexporten in Steinzeit-Diktaturen (Saudi-Arabien), mit ökonomischen "Reformprogrammen" (IWF, Weltbank, EU, Troika etc.), die beispielsweise hunderttausende indische Bauern in den Selbstmord treiben, weil ihnen die ökonomische Existenz durch die neoliberale "freie Marktwirtschaft" und Monsanto genommen wurden und nicht zu vergessen mit tausenden Drohnenmorden erreichen. Der "freie Westen" hat schon echt tolle Werte. Die Bigotterie ekelt mich an.

      Löschen
    3. Nun, ich finde schon, dass es Werte gibt, die sich aus der Aufklärung ableiten, sich insofern als 'westlich' bezeichnen lassen und für die sich durchaus guten Gewissens einstehen lässt.
      Robert Misik hat mal ein paar zusammengestellt, für den Anfang:
      "1. Ein jeder soll nach seiner eigenen Facon glücklich werden. 2. In einer diversen, pluralistischen Gesellschaft gebührt jeden und jeder Respekt. 3. Ein jeder darf anziehen, was er will. 4. Keiner darf von jemanden anderen zu etwas gezwungen werden, sofern ein solcher Zwang nicht durch Gesetze, die gut begründet sein müssen, erlaubt ist. 4. Religion ist Privatsache. 5. Auch die Moral ist Privatsache, aber nicht nur, da moralische Vorstellungen ja auch das Zusammenleben mit anderen in Blick haben. Aber jede Moralvorstellung, die auch auf andere wirken soll, muss begründet sein, weil diese niemanden aufgezwungen werden kann – für sie kann man nur werben. 6. Wir sollen Notleidenden helfen. 7. Verleumdung, Verhetzung und das Streuen von Gerüchten widerspricht unseren Werten diametral. 8. Angst schüren vor Schwächeren widerspricht unseren Werten ebenso diametral. 9. Du sollst die Mächtigen kritisieren und kontrollieren, und nicht nach unten treten. 10. Wer Ängste vor Schwächeren schürt, ist ein unmoralischer Falott. 11. Die Werte unserer Gesellschaft sind die Solidarität, die Toleranz, die Vielfalt und die prinzipiell friedfertige Austragung, sofern es zu Konflikten kommt. 12. Männer, Frauen, überhaupt jedes Individuum hat die gleichen Rechte, ist gleich zu behandeln und ist von gleicher Würde."
      Ob die immer so praktiziert werden wie sie propagiert werden, ist natürlich eine ganz andere Frage - das heißt dann Bigotterie.

      Löschen
    4. "Ob die immer so praktiziert werden wie sie propagiert werden, ist natürlich eine ganz andere Frage - das heißt dann Bigotterie."

      Lieber Stefan, für mich ist das eben "keine ganz andere Frage", sondern schlicht das, worauf es ankommt. Die DDR war auf dem Papier auch eine Demokratie mit tollen "Werten", Diktatoren nennen sich selbst auch gewählte Präsidenten die sich für das Volk einsetzen, die SPD hat den radikalen Sozialabbau schlicht euphemistisch als "Reform" bezeichnet, Bombentote werden als "Kollateralschaden" bezeichnet, Kriegseinsätze als "humanitäre Interventionen", wir haben ein ganz tolles Grundgesetz, wogegen die Bundesregierung regelmäßig verstößt - ich könnte ewig so weiter machen.

      Mir ist wichtig, was ist und nicht, was irgendwo steht oder uns als "Werte" oder "Glauben" eingeimpft wird. Und wenn man da einmal ganz genau hinschaut, dann sind die tollen "westlichen Werte" sowie die "Wertegemeinschaft" eine eher hässliche Veranstaltung.

      Löschen
    5. Strunzdumm (und ich beharre darauf) habe ich Ihren Kommentar deswegen genannt, denn welches unausgesprochene Resümee soll der denn bitte implizieren: dass man den westlichen Werten, welche »uns« den Terrorismus eingebrockt haben [was »uns« offenbar recht geschieht(?)], abschwören [und etwa gar die dschihadistischen Werte anerkennen(?)] müsste damit uns kein Terrorimus mehr eingebrockt wird? Ich glaube nicht dass Sie das so meinen, wie es für den Leser daherkommt. Die Wahnsinnstaten von geisteskranken Psychopathen lapidar mit »Das Problem liegt doch an den "westlichen Werten" - die sind halt eine eher hässliche Veranstaltung« zu kommentieren, ist so absurd dass mir dazu wirklich nix mehr einfällt, entschuldigen Sie.

      Löschen
    6. Nochmal. Also zum dritten Mal. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, vielleicht will man mich auch nicht verstehen.

      Mit "westlichen Werten" meine ich explizit NICHT, die bigott-abstrakten Ideale von Frieden, Freiheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit etc. (oder das was Stefan von Robert Misik oben geschrieben hat) - welche uns jahrelang eingetrichtert und eingeimpft wurden. Die klingen alle ganz toll und wir wollen gerne daran glauben, dass wir "die Guten" sind. Aber genau diese werden eben nicht gelebt. Von deutschen Banken nicht, die Kriege fördern, das Geld der Mafia waschen, mit Lebensmitteln spekulieren, von internationalen Pharma- sowie Rüstungskonzernen nicht, für die Profit vor Menschenleben stehen, für einen Großteil der Bevölkerung nicht, die bis vor kurzem ALG2-Empfänger als Schmarotzer, die dem Staat "auf der Tasche liegen" bezeichnet haben, kein Mitgefühl mit Obdachlosen haben und nun ihren Haustieren mehr "leben" gönnen wollen als den Kriegsflüchtlingen, von der Politik sowieso nicht, die nur Politik für die Reichen und gegen die Bevölkerung machen und so weiter und so fort. DAS sind unsere westlichen Werte. Neoliberalismus, Neokolonialismus, Kriege für Rohstoffe, Ausbeutung (sweat shops), Lohnarbeitszwang, Profite vor Menschenleben. Und genau der lässt Terrorismus erst entstehen!

      Der Mythos, wir seien eine ach so tolle, freie Gesellschaft und die islamistischen Terroristen wollen "einfach so", weil sie eben "böse" sind, einen Gottesstaat aus Europa machen ist absurd und lächerlich. Die sprengen sich in die Luft, weil die USA und die EU seit Jahren im Nahen Osten bomben, töten und ökonomisch vernichten, wo sie nur können. Da werden systematisch Terroristen produziert. Viele Menschen, die durch westliche Bomben ihre Familien verloren haben finden dann zulauf zu den radikalen Extremisten und werden Terroristen.

      Abgesehen davon gehören für mich zu den "Wahnsinnstaten von geisteskranken Psychopathen" auch die Angriffskriege des Westens gegen den Irak, gegen Afghanistan, Syrien, Libyen und gegen das ehemalige Jugoslawien. Begleitet von kranken Lügen wie: Saddam hatte Atomwaffen und reißt Babys aus Brutkästen und in Jugoslawien gäbe es KZ´s (Scharping).

      Abgesehen davon will ich damit weder etwas relativieren, noch beschönigen. Mord bleibt Mord. Mein Mitgefühl haben aber nicht nur zivilie Opfer in Paris, sondern auch alle unschuldigen Bomben- und Drohnenopfer in Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan...

      Löschen
  2. Geiler letzter Absatz!

    AntwortenLöschen
  3. https://plus.google.com/u/0/106701079280378758319/posts/EGfoUkGqhMA

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.