Sonntag, 3. Januar 2016

Die Welt geht schon wieder unter


"Aber weil jede ältere Generation neu darin ist, alt zu sein, denkt jede von ihnen, als sei es das erste Mal: Mit der Jugend geht's echt abwärts." (Matthias Lohre)

Mal kurz Hand hoch: Wer erinnert sich noch an Tamagotchis? Für die, die das nicht mehr tun: Tamagotchis waren mal eine sehr kurzlebige Mode in den Neunzigern. Für die Jüngeren: Es handelte sich um eine Art digitales Haustier in Form eines taschenuhrgroßen Gerätes mit LCD-Anzeige. Man musste es per Knopfdruck füttern oder ihm Zuwendung geben, wenn es via Piepton zu mehr oder weniger zufälliger Zeit danach verlangte. Befolgte man brav die Kommandos des digitalen Tierchens, wuchs und gedeihte es, tat man das nicht, ging es irgendwann ein. Damals, vor zwanzig Jahren, der heißeste Scheiß auf den Gabentischen, heute muss man sich ducken, damit man beim Verlassen des 1-Euro-Ladens keins an den Kopf geworfen bekommt.

An die Dinger würde sich vermutlich niemand erinnern, wenn es damals nicht eine beispiellose Panikmache seitens der bürgerlichen Presse gegeben hätte. Bedeutende Journalisten und Professoren schrieben seitenlange, apokalyptische Szenarien über die verderbliche Wirkung der Dinger. Eine ganze Generation von ferngesteuerten Hirnlosen wüchse da heran, die im Leben nichts weiter gelernt hätten als die Wünsche von Minicomputern zu erfüllen, hieß es.

Gut zehn Jahre zuvor war Ähnliches über die ab dem Ende der Siebziger aufkommenden Videogeräte zu lesen. Eine ganze Generation dumpfer Troglodyten mit viereckigen Augen wüchse da heran, hieß es (unter einer ganzen Generation machen es die hauptberuflich besorgten Apokalyptiker ja nicht). Ein paar Jahre vorher war Kriegsspielzeug noch die Bedrohung Nummer eins. Eine ganze Generation kleiner Möchtegern-Adolfs, -Napoleons und anderer Blutsäufer sei da dank Minipanzern und Plastiksoldaten in der Mache, hieß es. Und bis ins 19 Jahrhundert, so lange die Herrschenden noch profitierten vom Analphabetismus breiterer Bevölkerungsteile, warnten Gelehrte noch eindringlich davor, dem gemeinen Volk das Lesen beizubringen.

Was lernen wir daraus? Vor allem mal, dass sich mit Horrorszenarien über die aufgrund irgendeines aktuellen Phänomens in existenzieller Gefahr schwebende Jugend ein uralter Hut ist, der aber immer noch alle paar Jahre aus der Mottenkiste geholt wird. Momentan geht die Welt wegen einer App namens Tinder unter. Die Wisch- und Weg-App, mit der sich zuverlässig willige Sexualpartnerinn/en in der näheren Umgebung auftreiben lassen. Wegen der "rasche[n] Anbagger- und auch schon wieder Entsorgungskultur, die die Erfolgsformel der App ausmacht", wüchse eine ganze Generation empathieloser Sexmonster heran, die zu monogamen, emotionalen Bindungen gar nicht mehr fähig seien, klagt Angelika Hager im 'profil'. Soso. Holen wir vielleicht ein wenig aus.

Ende der Achtziger entstand in und um Seattle im US-Bundesstaat Washington eine Jugendkultur namens Grunge. Printmedien, die die Konkurrenz von Musiksendern wie MTV fürchteten, waren begierig darauf, ja keinen Trend zu verpassen und schickten scharenweise Reporter in den kühlen Nordwesten der USA, um alles über diesen neuen heißen Scheiß herauszufinden. Die dortigen Jugendlichen hatten bald spitzgekriegt, dass die ahnungslosen Medienleute, die im Schnitt etwa doppelt so alt waren wie sie, so ziemlich alles glaubten, was man ihnen erzählte und machten sich einen Spaß. Sie wetteiferten darum, sich haarsträubende Phantasienamen und -phänomene auszudenken und lachten sich einen Ast, wenn sie das ein paar Tage später 1:1 in irgendeinem Magazin wiederfanden.

Was lernen wir daraus? Wenn eine Hypemaschine erst einmal ins Rotieren gekommen ist, nimmt man's nicht mehr so genau mit der Recherche. Aktuelles Beispiel? Gern:

"'Eine Frau für schnellen, unkomplizierten Sex zu finden, ist auf Tinder so einfach, wie sich online eine Pizza zu ordern', bringt ein 24-jähriger, von profil danach befragter User, warum er sich bis zu 30 Mal am Tag einloggt, die These der Soziologin auf einen pragmatischen Punkt." (ebd.)

Hmmm, ein namentlich nicht genannter, aber offenbar total repräsentativer 24-jähriger User sagt das. Soso, aha. Ich sags mal so: Zu meiner Zeit gab es in jeder Schulklasse ein verklemmtes frühreifes Ferkel, das einen älteren Bruder hatte, daher alles über Mädchen und Sex wusste und auch angab wie ein Sack Seife. Wer schlau war, hatte irgendwann raus, dass es besser war, seinen Rat in Liebesdingen besser zu ignorieren. In Wahrheit hatte der Typ natürlich keine Ahnung, sein Expertenwissen war rein theoretisch und selbst zusammengereimt. Es würde mich nicht wundern, wenn es solche Typen noch heute gäbe. Wie klug wäre es, deren Aussagen unhinterfragt für bare Münze zu nehmen und als repräsentativ für eine ganze Generation hinzustellen?

Das Interessanteste an solchen Weltuntergangsszenarien ist ja immer, was genau nicht zur Sprache kommt und diskret unter den Tisch fällt. Gedanken wie die, dass Menschen und ihre sexuellen Bedürfnisse sich im Laufe eines Lebens ändern können etwa. Oder dass es eventuell ziemlich normal sein könnte, wenn Menschen es in jüngeren Jahren krachen lassen, während im reiferen Alter ein Bedürfnis nach Stabilität sich einstellt. Geradezu verboten scheint die Frage zu sein, was heutige Erwachsene der nächsten Generation eigentlich so vorleben.

Exakt jene Erwachsenengeneration nämlich, die da indigniert die Nase rümpft über das unverbindliche Gerammel einer Jugend, die angeblich keine Werte mehr hat und Sexualität im Zweifel eher pragmatisch angeht, hat es zugelassen, wo nicht aktiv betrieben, dass in den letzten Jahrzehnten die Welt, in die junge Menschen hineinwachsen, konsequent auf Raubtierkapitalismus privatisiert wurde. Und diese Erwachsenen wundern sich dann, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen zunehmend Warencharakter annehmen? Lustig.

Mit zwei Dingen lässt sich augenscheinlich immer noch hervorragend Auflage machen: Mit dem uralten, abgestandenen platonischen Lamento vom Werteverfall der Jugend und der Urangst der Bourgeoisie vor einem allzu zügellosen Liebesleben ihrer heranwachsenden Kinder. Denn während das in der Arbeiterklasse tendenziell mit einer gewissen Gleichgültigkeit hingenommen wurde, scheint die Angst der braven Bürgersfrau, des braven Bürgersmannes (die selbst vielleicht ihrerzeit auch keine Kinder von Traurigkeit waren) vor allzu frühzeitiger bzw. unstandesgemäßer Verpartnerung oder gar Vermehrung des privilegierten Nachwuchses nach wie vor tief zu sitzen.


2 Kommentare:

  1. Eben , locker bleiben , und vielleicht nicht nur in Bezug auf Jugend , sondern auch auf Musik , die , bei aller Wertschätzung für Lemmy , vielleicht doch etwas vorschnell ins Nirwana geschickt wurde.

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  2. „Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, daß sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, daß sie alt sind, und Junge begreifen nie, daß sie alt werden können.“ (Kurt Tucholski, Der Mensch, Lerne Lachen ohne zu Weinen, 1931)
    Jaja,über die Jugend wird schon 5000 Jahre geklagt.Die Menschheit hat sich immer noch nicht ausgerottet^^
    Erwachsene vergessen immer,dass sie mal jung waren.
    Unverbindliches Gerammel gab es ebenfalls.Immerhin gab es vor der Pille seeeehr viele junge Ehen;und überdurchschnittlich viele Mütter mit 7 Monatskindern^^Ein Schelm,wer schlechtes dabei denkt.
    Als Eltern kannst Kindern eh nur lieben,begleiten und hoffen,dass sie glücklich werden.

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