Montag, 6. August 2018

Vom Reisen


Es muss nicht zwingend schlecht sein, wenn etwas, das ursprünglich nur wenigen Privilegierten vorbehalten war, zum Massenphänomen wird. Gesundheitsversorgung etwa. Dass Arztbesuche und andere medizinische Maßnahmen in vielen europäischen Ländern keine reine Frage des Geldes mehr sind, hat die durchschnittliche Lebenserwartung nachweisbar nach oben gedrückt. Überhaupt ist immer Vorsicht geboten, wenn es heißt, es könne ja wohl nicht jeder... Bzw. solle denn jetzt etwa jeder...? Das ist meistens ein sicheres Zeichen, dass da jemand seine Privilegien gefährdet sieht und die Strickleiter der Solidarität, auf der er vielleicht einst selbst emporgeklettert ist, lieber wieder einziehen möchte. 

Andererseits gibt es eine Reihe von Dingen, die einst als Privileg weniger Begüterter angefangen haben und nicht unbedingt zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit zu Massenphänomenen geworden sind. Autos zum Beispiel. Jedem Menschen sein eigenes Auto ist inzwischen zum kaum hinterfragten Imperativ geworden. Keine Ahnung, wie das woanders war, aber zu meinen Kindertagen in den Siebzigern war ein Zweitwagen Zeichen von Reichtum, dass die Chefarztgattin einen VW Käfer oder einen Renault R4 vor der Tür stehen hatte, die große Ausnahme. Inzwischen nimmt jeder einzelne der SUFFs, mit denen die moderne Helikopterhausfrau den verzogenen Nachwuchs von Krethi nach Plethi und wieder zurück kutschiert und dabei gern Rettungswege blockiert, so viel Platz weg wie mindestens zwei Renault R4.

Hier an der Straße verfügen zwei Familien, keineswegs stinkreich, mit insgesamt fünf volljährigen Personen über nicht weniger als sechs Autos, darunter ein Wohnmobil und zwei Transporter. Mit denen okkupieren sie nicht selten alle Parkplätze vor dem Haus vollumfänglich. Als ich mich einmal mit einer der Mütter unterhielt und die sagte, hach, die jüngere Tochter werde ja bald 18, da brauche sie auch ein Auto, da hätte ich am liebsten geantwortet: "Nein, das braucht sie definitiv nicht! Ihr habt nämlich schon so viele von den Dingern, dass es reicht, hier regelmäßig alles zuzuparken. Wie viele von den stinkenden, sperrigen Dreckskisten müsst ihr eigentlich noch zwanghaft anschaffen? Wann seid ihr mal zufrieden? Wenn ihr, wie einst der selige Bhagwan, für jeden einzelnen der 365 beschissenen Tage des Jahres einen eigenen Rolls-Royce habt, oder was?" Statt dessen meinte ich bloß, kostenpflichtige Anwohnerparkplätze seien ganz sinnvoll. Was aber auf heftigen Widerspruch stieß. Wer denn das bezahlen solle. Und überhaupt, man sei auf die Autos doch so dringend angewiesen. Aha.

Oder Reisen. Das hatte von jeher immer auch mit sozialer Distinktion zu tun. Alles erlebt. Der wohlhabende Unternehmer, der mit Zigarre in der Fresse seine auf diversen Safaris zusammengemordeten Leichenteile, vulgo: Trophäensammlung herzeigte. Scheinbar beiläufiges Reden über Wochenenden in Davos. Dass man sich zwei Wochen Rimini, Mallotze oder Tunesien leistete, während es bei Malochers von nebenan bloß für Spazierengehen im Sauerland reichte. Wenn überhaupt. Heute ist der klassische Pauschaltourist die Lachnummer schlechthin. Haha, die doofen Konsumtöffel! Kaufen sich ganz unindividuell im Reisebüro zwei Wochen Strand. Wie gut, dass man da ganz anders ist, nicht wahr?

Das Faszinierende am Kapitalismus ist ja, dass er auch Antikapitalismus in ein Geschäft verwandeln kann. AirBnB etwa verkauft vor allem eine Illusion. Nämlich die, irre individuell unterwegs und noch mal zwanzig zu sein. Sich zu fühlen wie damals, als man total unkompliziert mit dem Schlafsack in anderer Leute Wohnungen aufkreuzte und sich irgendwo langmachte. Hey, es ist genug Wohnraum für alle da, wieso ihn also nicht teilen? Ein sympathischer Gedanke eigentlich. Der sich aber zuverlässig ins Gegenteil verkehrt, wenn er kapitalistischer Verwertungslogik anheim fällt. Auch Backpacking war ursprünglich bloß eine preisgünstige Art des Reisens. Ein paar Notwendigkeiten in den Rucksack und mal sehen, wohin der Wind einen so trägt. Inzwischen ist das längst eine Massenveranstaltung gut situierter Mittelschlichtler, die sich einreden, besser und cooler zu urlauben als der doofe Pöbel, der sich bloß an den Strand knallt und sich Hautkrebs holt dabei.

Nein, sie wollen ganz tief eintauchen in eine fremde Kultur. Sich unter die Einheimischen mischen. Hehre Ansinnen, funktionieren, aber, sollte es inzwischen noch irgendwo ein unberührtes Fleckchen Erde geben, leider immer nur kurz. Dann fallen dank sozialer Netzwerke die Lemminghorden ein und Schluss ist. Die Galapagos-Inseln sind mittlerweile ungefähr so unberührt wie eine Sexarbeiterin mit zwanzig Jahren Berufserfahrung, am Mount Everest bilden sich während der Klettersaison kilometerlange Warteschlangen und in Macchu Picchu geht es zu wie auf dem Leipziger Hauptbahnhof zur Rush hour. Zweite Tür links, jeder nur ein Kreuz. Wir sind alle Individuen! Wir haben uns diesen Ualaub haaat eraaabeitet, den wird man uns ja wohl nicht madig machen wollen.

Banana Pancake Trail, so nennen Einheimische in Südostasien die touristisch aufbereiteten Backpacker-Trampelpfade mit Blick auf das süßfrühstückende Publikum von der Nordhalbkugel. Sich auf dem Jakobsweg Blasen zu latschen war lange Zeit das exklusive Vergnügen katholischer Jugendgruppen und anderer Strenggläubiger. Dann kam Hape Kerkeling mit seiner Selbstfindungsschwarte, die gefühlt unter jedem zweiten Weihnachtsbaum lag. Und so bevölkerte sich der Jakobsweg bald mit Hekatomben skistockschwingender Funktionsjackenträger, die selig grinsend spirituelle Erlösung suchten aus ihrer grenzenlosen Langeweile. 

Und wenn es außer der Tiefsee, der Antarktis und der Sahara keinen touristisch unvergewaltigten Ort mehr gibt auf Erden, dann können sie immer noch ihren Leistungsfetisch aufs Urlaubmachen ausdehnen. Wer kriegt die meisten Places to be via Selfie abgehakt? Wer stopft seinen Urlaub mit den meisten Aktivitäten voll und geht nach der Rückkehr aus selbigem den Kollegen im Büro am längsten damit auf den Dömmel? Obwohl das ja auch nicht mehr nötig ist, kann man in Zeiten von Instagram schließlich 24/7 die ganze Welt in Echtzeit mit seinem irresuperen Leben behelligen.

Zwei Ausreden gilt es noch abzuhandeln. Erstens: Reisen bildet! Nö, nicht zwingend. Es ist problemlos möglich, mehrere Wochen zu verreisen, ohne auch nur einmal in die Gefahr zu geraten, seinen Horizont zu erweitern oder sonstwie ein besserer Mensch zu werden. Reisen bildet zuvörderst die, die dazu bereit sind. Zweitens: Tourismus schafft an den Reisezielen Jobs und Wohlstand. Ebenfalls nicht ausnahmslos. Wohlstand entsteht durch Tourismus vor allem dort, wo gesetzlich gewisse Standards in puncto Bezahlung und soziale Absicherung herrschen. Ansonsten viele schlecht bezahlte Ameisenjobs, die kaum jemanden reich machen. Die gigantomanischen Kreuzfahrtschiffe beherbergen in ihrem Bauch ganze Heere dienstbarer Ameisen, meist aus Südostasien, die endlose Schichten kloppen zu Diensten der Damen und Herren von der Nordhalbkugel auf den oberen Decks.

Daher gehört ironischerweise der zwei Wochen verweilende Pauschaltourist im Vergleich noch zu den sanftesten Touristen, so lange er sein Ghetto aus Bettenburg, Strand und Ballerburg nicht verlässt. Gentrifiziert keine Innenstädte, latscht nicht in Horden durch Sehenswürdigkeiten, und wenn, dann kanalisiert, und bleibt weitgehend unter sich. Und sorgt wirklich für einen gewissen Wohlstand am Reiseziel.

Vor allem lügt er sich und anderen nicht andauernd die Taschen voll. Sagt ganz offen, dass es ihm um nichts anderes geht, als für möglichst wenig Geld ein, zwei Wochen zu relaxen und einen drauf zu machen. Nicht meins, so was, aber erfrischend. Und allemal ehrlicher als das verblasene Getue von denen, die sich selbst nie als Touristen bezeichnen, sondern als Reisende. Die im Urlaub auch menschlich ein Stück weiterkommen wollen. Die ihr Billiggefliege und AirBnB-Abgesteige für smart halten.

Natürlich ist auch pauschaler Massentourismus nicht problemlos. Auch dafür wird Natur zubetoniert und Kerosin in Flugzeugtriebwerken verbrannt. Aber im Vergleich zu den Horden, die ganz individuell um den Globus jetten, das für sanft halten und - soziale Distinktion - den Malle-Touris das Fliegen verbieten würden, wohl das kleinere Übel. Sanfter sind nur noch die, die ihren Urlaub im Umland verbringen, in der Gartenlaube bzw. Datsche. Oder bescheidene Wandersleute, die durch den Harz juckeln und in Jugendherbergen nächtigen. Solange sie nicht singen, versteht sich.

Ich will‘s ja keinem ausreden. Ich reise auch gern. Man sollte sich nur verdammt noch mal nichts vormachen. Oder sich irgendwie für besser dünken.




1 Kommentar:

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