Mittwoch, 20. Februar 2019

Von 'bösen' Onkeln und Vertrauenspersonen


Ein Schwank aus meiner Jugend, an den ich in letzter Zeit öfter denken muss

Im Sexualkundeunterricht, den wir in den Siebzigern immerhin bereits bekamen, wurde uns unter anderem beigebracht, dass es da draußen ganz bestimmte 'nette Onkel' gibt. In Wahrheit seien das aber 'böse Onkel', weil sie uns auflauerten, uns entweder mit Gewalt, meist jedoch mit Nettigkeit mit zu sich holten, um sich dann geschlechtlich an uns zu vergehen und uns schlimme Schmerzen zuzufügen (wie genau, verriet man uns natürlich nicht, es musste reichen zu wissen, dass so einer einem weh tun wollte). Daher sollten wir nie, niemals mit Fremden mitgehen. Nun ist dagegen, Kindern diesen Ratschlag einzuschärfen ja weiß Gott nichts einzuwenden, im Gegenteil. Nur erschienen diese 'netten Onkel' ausschließlich als namenlose, sadistisch veranlagte Perverslinge, die von außen in die heile Welt von uns Kindern einbrachen.

Der Gedanke, dass so ein 'netter' Onkel mit einiger Wahrscheinlichkeit auch ein Mensch aus dem persönlichen Umfeld sein konnte, ein Verwandter, schlimmstenfalls der eigene Vater (ja, auch Mütter sollen da durchaus aktiv sein), oder gar eine über jeden Zweifel erhabene Vertrauensperson wie etwa ein Priester, tauchte nirgends auf. Nada. Redete man nicht von. Was heute glücklicherweise zum Grundwissen über Kindesmissbrauch gehört, war damals undenkbar, wenn nicht unerhört.

Hätte man meinen Eltern, besser noch, meinen Großeltern, alles keineswegs dumme oder verbohrte Menschen, erzählt, es gäbe Priester, die sich an Kindern sexuell vergingen, sie hätten sich vehement dagegen gewehrt. Meine Eltern hätten wohl abgewunken und gesagt, ich sollte nicht so einen versauten Blödsinn erzählen und eventuell noch gefragt, wo ich den Mist nun wieder aufgeschnappt hätte. Meine Großmutter wäre entsetzt gewesen, hätte sich vermutlich sofort bekreuzigt und vielleicht sogar angefangen zu weinen, weil ich verdorbenes Kind überhaupt auf so einen Gedanken kommen konnte. Für sie war ein geweihter Priester eine Art höheres Wesen. Für uns waren sie selbstverständlicher Teil jenes Milieus, in dem wir großwurden.


Zufluchten

Erzähle ich jemandem, der mich nicht kennt, ich sei als Kind und Jugendlicher einige Jahre Messdiener gewesen und das gar nicht mal ungern, bekomme ich seit einigen Jahren oft die Frage zu hören, wie oft mir denn priesterlicherseits so unters Röckchen gegriffen worden sei. Meine Antwort lautet dann, ohne dass ich lügen oder etwas beschönigen müsste: Nicht ein Mal. (Nebenbei, für Nichtkatholiken zur Info: Messdiener tragen für gewöhnlich was drunter, in der Regel die volle Montur.) Im Gegenteil, bei den Messdienern fühlte ich mich wohl, da waren meine Freunde. Die meisten kannte ich aus der Schule, aber die meist sportlichen Arschgeigen, die einem mitunter ganze Schultage versauten mit ihrem Gemobbe, hatten freundlicherweise anderes zu tun. Oder aber man lernte sie bei den Messdienern von einer anderen Seite kennen und sie wurden zu Freunden. Ein paar Mal passiert.

Daher sind meine Erinnerungen an meine katholische Sozialisation auch überwiegend positiv. War ein normaler Teil des Lebens und ich habe das nie als sonderlich einengend oder problematisch empfunden. Ist ein Teil meiner Kindheit und Jugend, auf den ich durchaus wohlwollend zurückblicke. Dass ich kein sonderlich spiritueller Mensch bin, ging mir erst später auf und die ganzen Rituale begannen irgendwann hohl zu werden. Was mich zu dem Agnostiker werden ließ, der ich noch heute bin (obwohl ich ein gutes Brimborium nach wie vor zu schätzen weiß). Die Frage mit dem Röckchen indes, ist im Lichte jüngerer Enthüllungen natürlich verständlich. Zumal nicht ausgeschlossen ist, dass ich damals einem pädophilen Übergriff entgangen bin.

Bumm.

Als Kind neigte ich zu Pummeligkeit und Tapsigkeit sowie zu Eigenbrötlertum. Daher war ich immer dankbar und froh, wenn ich irgendwo akzeptiert und nicht gehänselt wurde oder sonstwie der Depp war, den man gnädigerweise so mitlaufen ließ. Wer mir einigermaßen freundlich begegnete, hatte schnell einen Extrakredit bei mir, was mich labil machte und leicht auszunutzen. Heute weiß ich, es gibt Menschen, die haben ein Gespür für derlei Bedürftigkeiten und keine Skrupel, so was auszunutzen. Zu Pummeligkeit und Tapsigkeit sowie zu Eigenbrötlertum neige ich immer noch, habe aber längst Wege gefunden, halbwegs souverän damit umzugehen. Wir haben eben alle unsere Macken.

Ende der Siebziger übernahm ein neuer Kaplan, dessen Name aus Gründen nicht genannt wird, die Messdienerarbeit in der Gemeinde. Ein seltsamer Typ. Ich mochte ihn nicht sonderlich. Irgendwie war er mir suspekt, vor allem fand ich ihn aufdringlich. Obwohl mir das Wort noch nicht geläufig war, kannte ich offenbar schon den Unterschied zwischen freundlich und scheißfreundlich. An mir schien er einen besonderen Narren gefressen zu haben. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, kümmerte er sich, erkundigte sich nach meinem Befinden oder nach Banalitäten wie, was es heute zu Mittag zum Essen gegeben hätte oder in der Art.


Ein Date ohne Folgen

Einmal, ich muss so neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, fragte er mich eines Nachmittags, ob ich nicht Lust hätte, ihn einmal besuchen zu kommen. Vielleicht nach der Gruppenstunde? Er wolle etwas mit mir besprechen. Ich erinnere mich, gleich eingewilligt zu haben und dass ich darin weder etwas Ungewöhnliches sah, mich aber auch nicht sonderlich geehrt fühlte. Der Herr Kaplan wollte halt mit mir reden und gut, wo sollte das Problem sein? Zwar war mir eingeschärft worden, niemals mit fremden Leuten mitzugehen, was ich auch immer beherzigte, aber das war doch etwas anderes, oder? Vielleicht wäre meine Großmutter sogar stolz auf mich gewesen, dass ein geweihter Mann mich würdig befand, ihn zu Hause zu besuchen.

Die Veranstaltung selbst habe ich als reichlich seltsam in Erinnerung. Ich saß wie Pik Sieben auf einem dieser hässlichen braunen Cordsessel, wie sie zu der Zeit modern waren, derweil er mir andauernd Gespräche über Glaubensfragen und persönliche Dinge aufdrängen wollte. Die ganze Situation stank mir irgendwie gewaltig und ich fühlte mich so unwohl, dass ich schon bald nach einer Ausrede suchte, den Ort des Geschehens wieder zu verlassen. Die rettende Idee war, ihm zu sagen, meine Mutter warte mit dem Abendessen auf mich, denn ich wusste, da vor würde er Respekt haben. Hatte er auch. Zum Abschied schenkte er mir ein Büchlein mit Gebeten und Meditationen für junge Christen, in das er noch eine persönliche Widmung schrieb.

Das fromme Traktätchen habe ich heute noch irgendwo herumliegen, glaube ich. Lange hatte ich das bloß als etwas schräge Episode abgetan, nicht mehr. Was es ja für sich betrachtet auch war. Wirklich skurril finde ich rückblickend, dass ich das nie als irgendwie problematisch empfunden habe. Erst als die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche publik zu werden begannen, erst dann sah ich die Sache in anderem Licht und stellte mir ernsthaft die Frage, ob es damals wirklich beim Reden geblieben wäre, wenn es weitere solcher Dates gegeben hätte. Zu denen ist es allerdings nicht gekommen, der Typ hat es danach auch nie wieder versucht.

Ein paar Jahre später wurde er versetzt und es ward nie wieder von ihm gehört. Es hieß, er habe an der Schule, an der er nebenbei als Religionslehrer dilettierte, im Unterricht irgendwann derartig faschistoide Sachen von sich gegeben, dass Eltern sich massiv beschwert hatten und er Teile des Lehrerkollegiums inklusive des Direx gegen sich aufgebracht hatte. Ob das der Grund war? Keine Ahnung. Kapläne pflegen nach ein paar Jahren eh regulär versetzt zu werden. Außerdem hatte die Kirche damals noch eine andere gesellschaftliche Position.

Es liegt mir einiges daran zu betonen, dass dieser Geistliche sich damals, abgesehen davon, dass er mich ohne ersichtlichen Grund in seine Wohnung mitgenommen hatte, nichts hat zuschulden kommen lassen. Weder hat er mich über das Handgeben hinaus berührt noch hat er sich entblößt vor mir und mich auch nicht aufgehalten, als ich wieder gehen wollte. Ich habe daher keinerlei Anlass, irgendetwas zu unterstellen, geschweige denn, ihm etwas vorzuwerfen. Stand er auf kleine Jungs, hat das aber nicht ausgelebt? War mein Hinweis auf meine Mutter für ihn ein Warnzeichen dafür, ich könne zu Hause etwas erzählen? Pure Spekulationen, daher müßig. Keine Frage, Kindesmissbrauch ist furchtbar, jemanden auf bloßen Verdacht hin des Kindesmissbrauchs zu bezichtigen, ist allerdings auch kein Spaß.


Was lernen wir?

Es geht um etwas anderes: Darum, wie völlig arglos ein Kind sein kann und wie sehr kindliche Wahrnehmung sich unterscheiden kann von erwachsener. Obwohl ich mich genau an dieses diffuse Unwohlsein erinnere (nicht ausgeschlossen, dass es tatsächlich seine Lüsternheit war, die ich da spürte und nicht einordnen konnte), wäre ich im Leben nie auf die Idee gekommen, dass das Setting leicht auch anders hätte ausarten können. Erschreckend, wie einfach es für ihn war, mich allein zu sich in seine Wohnung zu holen und eine Situation herbeizuführen, in der der Schritt zu handfesten Intimitäten nicht mehr groß gewesen wäre. (Und wenn es dazu gekommen wäre: Wie wären meine Chancen gewesen, dass man mir geglaubt hätte?) Was mich rückblickend ebenfalls erheblich irritiert, ist, wie lange ich Stillschweigen bewahrt habe darüber, obwohl mich niemand eigens dazu aufgefordert hat.

Was ich damit sagen will: Stellen Sie niemanden unter Generalverdacht und seien Sie nicht hysterisch, das bringt niemanden weiter. Schnappen Sie auch nicht gleich über, wenn Sie irgendein Gerücht hören, aber tun sie es nicht gleich als bloßes Gerede ab, insbesondere nicht Kindern gegenüber. Seien Sie aufmerksam und nehmen Sie Ihre bzw. jene Kinder ernst, die Ihnen anvertraut sind. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder bzw. jene Kinder, die Ihnen anvertraut sind, sich bei Ihnen so aufgehoben fühlen, dass niemals Angst oder Hemmungen haben müssen, etwas zu erzählen. Und vor allem: Seien Sie antiautoritär. Sehen Sie zu, dass niemand Kindern beibringen will, es gäbe Menschen, die bei ihnen mehr dürften als andere (und tun Sie das auch nicht). Das ist vielleicht das wichtigste.

Die Vorstellung, Priester stünden in gewisser Weise über den irdischen Dingen, hat zu Verbrechen und zu immensem Leid, zu massenhaft zerstörten Leben geführt, was zudem auf beschämende und für die Opfer unerträgliche Weise bis in allerhöchste Kreise vertuscht wurde und wird. (Die Frage, welchen Einfluss der im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittliche Anteil homosexueller Priester auf die von der Kirche propagierte Sexualmoral hat bzw. das propagierte Frauenbild, ist sicher interessant, würde aber hier den Rahmen sprengen.) Wer weiß, vielleicht hatte ich ja einfach Glück damals. Vielleicht war es aber auch nichts. Daran denken muss ich seit einigen Jahren jedenfalls öfter.

Apropos Brimborium: Die mehr oder minder latent homophile Dimension der ganzen Veranstaltung ist den meisten pubertierenden Messdienern durchaus irgendwie bewusst. So ist es gute Tradition, einem Weihrauch schwenkenden Kollegen in entsprechender Diktion mitzuteilen: "Süßer, dein Handtäschchen brennt!"




1 Kommentar:

  1. Zwei andere Beispiele:

    Es müssen nicht unbedingt irgendwelche Kirchenfürsten sein, die Kinder sexuell benutzen. Manchmal ist es auch das untergeordnete Kirchenpersonal, dass auf nichtsexuelle Weise folterte, demütigte und erbärmlich schikanierte:

    https://derstandard.at/2000093295474/Missbrauch-im-Kinderheim-Falltuer-auf-Kind-rein-Falltuer-zu

    Deneben gibt es noch den gesellschaftlich akzeptierten sozialen Missbrauch von Kindern. Als Beispile nenne ich die Casting-Show "The Voice Kids" auf Sat 1. Im Grunde werden hier Kinder zu Unterhaltungszwecken von Erwachsenen ausgebeutet. Bevor man mir jetzt vehement widerspricht: Dass die Kinder das freiwillig machen glaube ich gern, das ist aber kein gültiges Gegenargument. Denn Kinder sind in ihren Wünschen leicht zu beeinflussen und darüber hinaus ist nicht alles, was Kinder wollen auch gut für sie. UND... selbst wenn: dies ganze nutzt es für gewerbliche Zwecke aus - Im Grunde genommen ist das Kinderarbeit. Dass ausgerechnet diejenigen Kinder, die am wenigsten kindlich rüberkommen weiterkommen zeigt zudem, dass es um die Kinder hier am aller wenigsten geht.


    Die meiste und übelste Gewalt gegen Kinder findet entgegen landläufiger Meinung weder in Kirchen noch in Internaten noch bei den Kreuzberger Grünen statt. Sondern in Familien aka Keimzelle des Staates.

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