Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
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Mittwoch, 24. April 2019
Schmähkritik des Tages (27)
Heute: Stefan Gärtner über Akademisches für Kinder
"Im Buchladen ist Satire jetzt tatsächlich in die Realität gewandert: »Allgemeine Relativitätstheorie für Babys«, ein Pappbilderbuch »ab 2 Jahren«, darin etwa ein von einem schweren Objekt gekrümmtes Raumzeitgitter, und wenn ich schreibe: Das ist kein Witz, dann stimmt das nur zur Hälfte. »Allgemeine Relativitätstheorie für Babys ist eine heitere und verständliche Hinführung zu Albert Einsteins berühmtester Theorie. […] Auf unnachahmlich leichte Weise und stets mit einem Augenzwinkern schafft es der Quantenphysiker und Familienvater Chris Ferrie, Kinder und Erwachsene gleichermaßen zu inspirieren. Die Bücher der Baby-Universität sind der einfachste Weg, um schon unsere Jüngsten für die Wunder der Wissenschaft zu begeistern.« [...]
Und wieder bin ich gezwungen, auf unsere Bildungsbürger und Mittelschichtsmuttis einzuhauen, die ja glauben, sie verdienten Mitleid, aber statt irgendeiner Art von Reflexion (oder gar Selbstreflexion) nur immer den allerärgsten Unsinn und verächtlichst vulgärdistinktorischen Scheißdreck ausbrüten und ihre Kleinsten jetzt auch noch mit Einstein traktieren, der allerdings wusste, dass die menschliche Dummheit noch viel unendlicher ist als das Universum. Falls es hier um persönliche Dummheit geht und nicht um die schlichte Konsequenz der Tatsache, dass Krieg herrscht und dass, wer kann, sich bewaffnet, der eine mit dem Messer, die andere mit Einstein und beide mit zu großen Autos.
Mag sein, die bürgerliche Gesellschaft ist nie etwas übertrieben Geistreiches gewesen; aber mit welch grimmer Entschlossenheit und immer noch einmal saublöder das voranwürgt und -walkt und -spinnt, ist vielleicht doch ein Indiz dafür, dass sie, in ihrer Schwundform als »Chancen-« bzw. »Wissensgesellschaft«, jetzt wirklich in die Auflösung rast und kurz vor knapp noch ebenjenen Geist in die Kleinsten zu peitschen versucht, den sie auf ihren realen Baby-Universitäten an Bertelsmann verschenkt. [...]" (Gärtners kritisches Ostersonntagsfrühstück, 21.4.2019)
Anmerkung: Man verstehe mich nicht falsch. Es spricht nichts, aber auch gar nichts dagegen, ein besonderes Talent oder ein Interesse, das sich bei einem Kind offenbart, nach Kräften zu fördern. Bei der Lektüre des oben Zitierten hingegen geriet mir spontan dieser Cartoon der Herren Hauck und Bauer in den Sinn.
Dass beflissene bildungsbürgerliche Supereltern ihren Nachwuchs zuweilen als hochbegabtes Elitenprojekt betrachten, der frühestmöglich mit möglichst viel möglichst akademischem Zeugs vollgestopft wird (a.k.a. 'Frühförderung'), auf dass er einmal einbiege in die begehrte Karriereüberholspur, ist wahrlich keine neue Entwicklung. Die scheint aber in der oben angeführten, allen Ernstes 'Baby-Universität' genannten Buchreihe des Loewe-Verlages, mit der bereits Kleinkindern neben Relativitätstheorie auch Evolution, Quantenphysik und andere Raketenwissenschaft beigebogen werden soll, in der Tat einen weiteren traurigen Höhepunkt erreicht zu haben. (Ganz neu ist das übrigens nicht. Die ehrwürdige Deutsche Grammophon führt schon länger eine Reihe namens 'Der kleine Hörsaal' im Programm.)
Gut gemeint ist eben von jeher das Gegenteil von gut.
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