Montag, 15. Juli 2019

Schmähkritik des Tages (30)


Heute: Michael Herl über das weitgehend durchmediterranisierte Deutschland

"Fortan wurde die Mediterranisierung mit preußischer Gründlichkeit exerziert, und die Deutschen geben sich plötzlich einem Lebensstil hin, wie er selbst in Mittelmeerländern undenkbar wäre. Gegrillt wird heute auch im tiefsten Winter, Spaghetti Carbonara richtet man mit Sahne und Formvorderschinken hin, Lokale ohne Freisitze gehen im Sommer pleite, Bankangestellte tragen kurze Hosen und Gerichtsvollzieher Ohrringe. […] Pizzerien backen »Pizza Bierschinken« und Metzgereien »Pizza-Fleischkäse«, Oberstudienräte verabschieden sich mit einem lässigen »Ciao«, ganz normale Menschen watscheln über die Straße, als kämen sie gerade zu Hause aus dem Bad; da wir das Mittelmeer leer gefressen haben, futtern wir nun Frutti di mare aus vietnamesischer Aquakultur, und dank des Klimawandels wächst an der Mosel Merlot.

Wir gerieren uns so, wie sich unsere Altvorderen in kühnsten Träumen ein mediterranes Leben vorstellten. Aber sind wir deswegen lockerer, nonchalanter und unverkrampfter geworden? Es darf bezweifelt werden." (Frankfurter Rundschau, 03.07.2019)


Anmerkung: Landstriche wie die Provence, die Algarve, Katalonien oder die Amalfiküste gehören nach Meinung vieler zu den schönsten der Welt (so lange noch nicht zu viele auf die Idee gekommen sind und sich persönlich davon überzeugen wollen, versteht sich). Aber sobald ich irgendwo das Attribut 'mediterran' sehe, pflegt mir ein Messer in der Tasche aufzuklappen. Beim Essen etwa. 'Mediterran' ist normalerweise wortgewordene Ödnis und Phantasielosigkeit. Übersetzt heißt das: Dies Gericht enthält Spuren von Tomatenmark, Knoblauchpulver und eine italienische Kräutermischung. Mit viel Glück bekommt man einen Dash gutes Olivenöl. Hat man Pech, ist es mit Tomate und Mozzarella gefüllt oder überbacken. Wenn der Koch gute Laune hat, gibt es noch ein paar zerrupfte Basilikumblätter obendrauf. Und der Teller ist mit diesem als Crema di Balsamico verhökerten Weinessig-Glukosesirup-Himbeeraroma-Schmier vollgekleckert. Vonne Wege italiano, caspisce?

Auch in anderer Hinsicht ist das Etikett 'mediterran‘ hochgradig nichtssagend. Denn was ist mit den anderen Regionalküchen in Mittelmeerländern, die normalerweise nicht damit gemeint sind, da sie zu sehr vom Klischee abweichen? Gehören Cevapcici nicht zur mediterranen Küche? Serbische Bohnensuppe? Was ist mit den Küchen der Levante und des Maghreb?

Überhaupt ruft das Gewese um diese blödsinnige 'Mittelmeer-Diät' bei Menschen aus Mittelmeerländern normalerweise Unverständnis oder Amüsement hervor. Ein Arbeitskollege mit griechischem Hintergrund kann nach jedem seiner Besuche in der alten Heimat eine Zeit lang kein gegrilltes Fleisch mit Pommes mehr sehen. Ein anderer Bekannter mit Familie in Griechenland meinte, der Film 'My Big Fat Greek Wedding' habe weit mehr als nur einen wahren Kern. Und das Angebot einer Fressmetropole wie Bologna, ebenfalls mittelmeernah gelegen, treibt Internisten zuverlässig Schweißperlen auf die Stirn. Von ebenfalls mediterranen Köstlichkeiten wie Cassoulet ganz zu schweigen.

Vor allem aber ist das deutsche Mediterran-Gewese hochgradig verlogen und hat mit echtem Interesse an oder gar Respekt für andere Länder nichts gemein, dafür meist mit Projektionen. So rückhaltlos man den angeblich entspannten, genussorientierten Lebensstil des Mittelmeerraums bewundert und so verkrampft man ihn zu kopieren sucht, hört der Spaß mitunter schnell auf und man dreht exakt jenen Gegenden gnadenlos den Saft ab, um die Verbindlichkeiten hiesiger Banken zu bedienen. Das ließ sich sehr schön studieren am Umgang mit mediterranen EU-Ländern wie Griechenland oder Italien während der so genannten Staatsschuldenkrise. Denn genießen und den Lieben Gott einen guten Mann sein lassen, das dürfen, so das Credo der schwäbischen Hausfrau, wenn überhaupt, nur die, die sich das auch verdient bzw. erarbeitet haben.

Und wenn das nicht reicht, dann kann man sich bei entsprechender Gelegenheit immer noch Besserwissereien von vollmediterranisierten Landsleuten anhören darüber, wie komplett unauthentisch dieses oder jenes Mediterrane sei und dass kein Italiener/Grieche/Franzose/Spanier jemals so was essen würde. Um die Eingangsfrage wieder aufzugreifen: Nein, sind wir nicht.





4 Kommentare:

  1. Mein Lieferservice wirbt auf seinem Flyer mit dem Logo von "EchterItaliener.de". Bestellen kann ich meine Pizza bzw. am Samstag mein Jägerschnitzel mit Pommes frites (dieser Klassiker wurde sicherlich in Venedig erfunden) über Lieferando. Das klingt doch sehr italienisch. Das Ristorante Zur Post in Waldalgesheim ist so mediterran - es kaum zum Aushalten.

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    1. Wobei, das sollte erwähnt werden, paniertes Schnitzel in seinem Aggregatszustand als Cotoletta alla milanese wohl wirklich eine italienische Erfindung ist, wie inzwischen selbst Österreicher mehr oder minder widerstrebend zugeben müssen. Und Pollo alla cacciatora, wiewohl kein Pressfleischschnitzel mit Pilzsoße aus dem Eimer, ebenfalls.
      Ist nur was anderes als Lieferando-Helden normalerweise so verabfolgen. Und von diesen auf Italiano gemachten Kantinen namens Vapiano wollen wir lieber ganz schweigen.

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  2. Ja, das panierte Schnitzel kommt aus Italien. Aber diese braune Pampe, die man in Deutschland draufhaut, hat der Teufel erfunden.

    Bei Vapiano und anderen Systemgastronomen geht mir die Selbstbedienung auf den Sack. Wenn ich was selbst machen will, bleibe ich zu Hause.

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    1. Hurra, so denke ich auch. Und den "Kaffee-to- go kann ich auch entbehren. Entweder ich habe Zeit mich zu einem Kaffee zu setzen, oder ich trinke keinen. Was soll es für ein Genuß sein, aus einem Plastikbechher im Laufschritt Kaffee zu trinken?

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