Sonntag, 21. Juni 2020

Jenseits der Blogroll - 06/2020


Mit Anbruch des letzten Drittels des Monats wird es wie immer Zeit für die allmonatliche Link-Sammlung. Kurz in eigener Sache: Einigen ist bereits aufgefallen, dass es rechts unten eine neue Rubrik gibt mit einigen YouTube-Kanälen, die mir gefallen und bei denen ich regelmäßig vorbeischaue. FB goes Web 2.0 – endlich! Es ist auch beabsichtigt, die Liste auszuweiten. Nur gibt es bei einigen Kanälen leider Probleme mit dem RSS-Feed, sodass welche, in denen neue Videos erschienen sind, nicht automatisch nach oben rücken. Ich arbeite dran.

Politik. Stefan Sasse hat eine fundierte, faktenreiche fünfteilige Artikelserie über die Geschichte der Europäischen Union geschrieben. Teil 1: Genesis - Teil 2: Evolution - Teil 3: Sklerose - Teil 4: Union - Teil 5: Krise

Georg Seeßlen aus aktuellem Anlass über das uramerikanische Genre des Polizeifilms.

Patrick Schreiner über den Irrationalismus des Lebens im Neoliberalismus.

Ernst-Ludwig von Aster mit einem Feature über die Thüringische Ortschaft Kloster Veßra. Vor fünf Jahren hat der prominente Neonazi Tommy Frenck den 'Goldenen Löwen' gepachtet, die einzige Gaststätte am Ort. Dort wird u.a. jedes Jahr am 20. April Schnitzel mit Beilagen für 8,88 Euro verabfolgt. Ansonsten gibt Frenck den freundlichen Kümmerer von nebenan. Veranstaltet unter anderem Flohmärkte unter dem Motto 'Deutsche helfen Deutschen'. Dadurch ist das 400-Seelen-Dorf zu einer Hochburg der rechten Szene geworden. Doch inzwischen regt sich Widerstand. Zum Beispiel von Leuten wie Uwe. Der hat 2017 gegenüber vom 'Goldenen Löwen' den Imbiss 'Refektorium' eröffnet. Seine goldene Regel: Alle Menschen sind willkommen. Auch Frencks Kandidatur für den Gemeinderat klappte dank zivilgesellschaftlichem Engagement nicht so wie geplant. Macht Mut. Sollte ich mal in der Nähe sein, schaue ich bei Uwe auf ne Portion Mutzbraten vorbei, versprochen.

Lucas Schoppe hat einen Twitter-Thread von Lutz Bierend zur SPD-Kampagne #stattblumen in einen lesenswerten Blogpost umgewandelt.

Burkhard Schröder über Hengameh Yaghoobifarahs dußlige Polizei-Entsorgungsphantasie in der taz. Ein mahnendes Beispiel immerhin, was hinten herauskommt, wenn man Identitätspolitik zu Ende denkt: "[Das] Auftreten selbstherrlicher Subjekte, die die Integrität ihrer Person und die Unbestechlichkeit ihrer Urteile per Definition für sich reklamieren. Ich bin Opfer, Opfer, Opfer, und habe darum recht, recht, recht." (Deniz Yücel)

Wissenschaft.1798 veröffentlichte der schottische Arzt Edward Jenner eine Schrift, in der er die Wirkung der von ihm entwickelten Pockenimpfung beschrieb und das Verfahren schilderte. Und schon damals erschienen Impfgegner auf der Bildfläche. Mit Argumenten, die einem zum Teil vertraut erscheinen.

     "Jenner’s earliest and most vocal opponents had been men of the church, who reasoned that smallpox was a God-given fact of life and death. If the Almighty had decided that someone would be smitten by smallpox, then any attempt to subvert this divine intention was blasphemy. Vaccination was also bestial, because humans were being poisoned with disgusting stuff from an animal. Even religious people subscribed to the view that smallpox was a force for good because it tended to cull the children of the poor: if vaccination were allowed to take hold, society would quickly be overrun by the lower classes.
     Doctors were also quick to clamber onto the anti-vaccination bandwagon. Many were making a tidy income from useless but lucrative “cures” for smallpox, like leeches, purgatives or silver needles to release the mayonnaise-like pus from the thousands of pustules that studded the patient’s skin. To them, Jenner’s “Inquiry” was an existential threat that had to be neutralised at all costs. Lurid reports of the dangers of vaccination began to appear in medical journals and the popular press."* (Gareth Williams)


Kultur/Gesellschaft. Simon Sahner erinnert an die Zeitschrift 'Tempo', die zwischen 1986 und 1996 erschien. Die sollte es nach Meinung des ersten Chefredakteurs Markus Peichl geben, weil "der Wiener so schön war, aber nicht schön genug, Weil der Spiegel beeindruckend viel Gehirn hat, aber beängstigend wenig Gefühl. Weil der Stern mal toll war, es aber anscheinend nicht mehr sein will. Weil Cosmopolitan viel Sex hat, aber nicht genug Erotik."

Spiegel und "beeindruckend viel Hirn" - Kinder, wie die Zeit vergeht!

Stephan Reich über Roger Sharpe, den einst besten Flipperspieler der Welt. Flipperautomaten waren in den 1970ern in weiten Teilen der USA als Glücksspiel eingestuft und durften nicht öffentlich aufgestellt werden, was den Herstellern natürlich nicht gefiel. Sharpe demonstrierte 1976 bei einer Anhörung durch die New Yorker Stadtverwaltung, dass Flippern ein reines Geschicklichkeitsspiel ist. Mit Erfolg. Das Verbot wurde gekippt.

"Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich nannte das Einfamilienhaus einmal eine »aufwändige Form der Asozialität«, das dem Individuum womöglich Glück bringt, der Gemeinschaft jedoch Vereinzelung, Zersiedelung, Flächenfraß und Pendlerstaus. […] Für Konrad Adenauer war das Einfamilienhaus [...] ein »Bollwerk gegen den Bolschewismus«." (Henning Sußebach)

-- Warum sehen sich viele Einfamilienhäuser eigentlich so ähnlich? Das ist unter anderem das Verdienst von Jürgen Dawos Firma Town & Country und ihrem Bestseller 'Flair 152'. Ein Konfektionseigenheim von der Stange, das offenbar den Wünschen und Sehnsüchten vieler Häuslebauer entspricht. Überdies ein Lehrstück in Marketing. Der Auftritt der Firma ist nach eigenem Bekunden "sehr weiblich". Denn man hat bei Town & Country begriffen: "Selbst wenn im Verkaufsgespräch meist der Mann das große Wort führt, am Ende entscheidet seine Gattin." Übrigens: Eine Variante des Modells 'Flair 152' heißt 'Glückswelthaus'.

Uli Krug erläutert, wieso es ein Missverständnis ist, den im Mai verstorbenen 'Kraftwerk'-Mitbegründer Florian Schneider zum "Erfinder des Techno" zu machen.

Sport. Der aus Ghana stammende Otto Addo ist 2002 mit Borussia Dortmund Meister geworden. Inzwischen hat er eine DFB-Trainerlizenz und arbeitet seit einem Jahr für seinen alten Verein als Nachwuchstrainer. Im Interview mit Thilo Adam spricht er über Rassismus und People Of Color im deutschen Fußball. Entspannt, rational, sachlich. Supertyp.

Essen und trinken. Was mein Vater 'Wagenschmiere' nannte (und auch so aussah), wurde von meiner Mutter heiß geliebt. Die Rede ist von Rübenkraut. Das ist eingedickter Zuckerrübensirup, der ungefähr die Viskosität von Honig hat, aber dunkler ist. Geschmack? Nach meiner Erinnerung vor allem süß. Nochmals süß. Dann leicht karamellig. Im Abgang ein Hauch bitter. In vielen Gegenden des Landes ist Rübenkraut vor allem als Brotaufstrich bekannt. Im äußersten Westen ist es in der Küche allgegenwärtig, weil man es hier liebt, auch Deftiges zu versüßen. Ein rheinischer Sauerbraten ohne Rübenkraut ist quasi nicht denkbar, im Münsterland gibt man es über gebratenen Panhas, in den Niederlanden werden süße Pfannkuchen stets mit Stroop gereicht und in die Vlaamse Karbonnade gehört Lütticher Sirup. (Nur in einem echten Pumpernickel hat Rübenkraut, entgegen eines hartnäckig sich haltenden Gerüchts, nichts zu suchen.)

Bei meiner Mutter waren womöglich Kindheitserinnerungen im Spiel. Mein Großvater betrieb einen Lebensmittelladen. Vieles kaufte man damals abgewogen und lose. In der Ecke stand ein großer Eimer Rübenkraut, aus dem die Hausfrauen sich Gläser abfüllen ließen. In der Nachkriegszeit war Rübenkraut eh beliebt, weil es billig und nahrhaft war. Heute ist der 'Goldsaft' der Firma Grafschafter im charakteristischen gelben Becher quasi-Monopolist. Auch bei Michael Ringel kommen Kindheitserinnerungen hoch. Ich mag das picksüße Zeug bis heute nicht besonders.

Arno Frank fragt sich aus aktuellem Anlass: Macht Bio wirr?

Das Rezept. Pasta Carbonara ist eines dieser Gerichte, um dessen Originalrezept bzw. dessen einzig authentische Zubereitung wahre Glaubenskriege toben. Carbonara, das bedeutete, nachdem deutsche Touristen und Kantinenköche den Italiener in sich entdeckt hatten: Spaghetti mit einer Kochschinken und Schmelzkäse enthaltenden Sahnesauce, die für die gewisse Pampigkeit ggf. mit Mehl gebunden wurde. Und Tütenparmesan. Gleich mehrere Sakrilege, für die jeder italienische Koch an Ort und Stelle geteert, gefedert und unter allgemeinem Hallo aus der Stadt verbracht würde.

Für ein so berühmtes Rezept hat Carbonara erstaunlich kurze Tradition. Entstanden sei das, so will's die Folklore, am Ende des zweiten Weltkriegs, als die Amerikaner in Italien waren und (nord)italienische Köche Zugriff auf deren Rationen bekamen, die unter anderem Bacon und Eier, meist in Pulverform, enthielten. Die brachten sie zusammen mit dem, was ihnen in Kriegszeiten noch zur Verfügung stand: Pasta und etwas Parmesan. Seither gilt: Alles andere als Eigelb, Speck (Bacon/Pancetta/Guanciale), geriebener Hartkäse (Parmesan/Pecorino/Grana) und grober schwarzer Pfeffer ist Sünde. Und Maggificks erst recht.


(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)

Die Bezeichung 'Carbonara' (i.e. 'nach Köhlerart') jedenfalls führt in die Irre, da sie suggeriert, das sei ein traditionelles, frugales Mahl armer Köhler gewesen. Der Name soll aber angeblich entstanden sein, weil der zum Schluss über die fertige Pasta gegebene schwarze Pfeffer an Kohlenstaub erinnerte. 'Authentischer' wäre wohl 'Pasta alla Bacon and Eggs'. Gudrun Harrer begibt sich auf Rezept-Spurensuche. Überraschung: In älteren Rezepten taucht durchaus auch Sahne auf.


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* Übers.: "Jenners erste und vernehmbarste Gegner waren Kirchenmänner, die einwandten, dass die Pocken eine gottgegebene Sache seien, die zum Leben und Sterben halt dazugehörten. Wenn der Allmächtige entschieden hätte, dass jemand von den Pocken getroffen werden sollte, dann sei jeder Versuch, diesen göttlichen Willen zu durchkreuzen, Blasphemie. Zudem sei die Impfung bestialisch, da Menschen mit widerlichem Zeug aus einem Tier vergiftet würden. Sogar religiöse Menschen machten sich die Ansicht zu eigen, dass die Pocken eine segensreiche Sache seien, da sie vor allem die Kinder der Armen befielen: Wenn Impfungen sich erst einmal ausbreiteten, dann würde die Gesellschaft sehr bald von den niederen Klassen förmlich überrollt werden.
Auch Ärzte sprangen bald auf den Zug auf. Viele erwirtschafteten ein nettes Einkommen, indem sie nutzlose, aber einträgliche 'Kuren' gegen die Pocken verkauften, etwa Blutegel, Abführmittel oder silberne Nadeln, um den mayonaiseartigen Eiter aus den tausenden Pusteln zu entfernen, mit denen die Haut der Patienten überzogen war. Für sie war Jenners ‚Inquiry‘ eine existenzielle Bedrohung, die mit allen Mitteln neutralisiert werden musste. Grelle Berichte über die Gefahren des Impfens begannen in medizinischen Zeitschriften und der Presse zu erscheinen."





2 Kommentare:

  1. Apropos Rezepte. Heute ist der perfekte Erntetag für Pfälzer Trüffel. Meine Schwester hat sie bereits eingelegt. An Weihnachten kann man sie genießen. #Entschleunigung

    https://www.mein-schoener-garten.de/lifestyle/gesund-leben/schwarze-nuesse-gruene-walnuesse-einlegen-23386

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    1. Interessant, ich kannte grüne Walnüsse nur als Zutat in Omas Pflaumenmus.

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