Mittwoch, 2. September 2020

Vom Querdenken u.a.


"Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. […] Die Nazis haben das Bewusstsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, daß sie sie darauf getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse und Parolen. […] Man hat es hier nicht mit Indoktrination zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden." (Hannah Arendt: 'Besuch in Deutschland')

Sind diese Erinnerungen, die einen manchmal überkommen. Damals, Ende der Achtziger etwa. Da fand mein jugendlich-unreifes Ich es cool und wohl auch ein Stück weit sexy, unter anderem auf 'Feten' (so hießen Partys damals) als 'Querdenker' oder, schlimmer noch, 'schon ein Stück weit ein Querdenker' aufzutreten. Der ausbleibende erotische Erfolg hätte mir eine Warnung sein müssen. Irgendwann stieß ich beim Durchblättern des 'Spiegel' auf die ganzseitige Anzeige einer inzwischen vom Markt verschwundenen Bank. Auf dem Bild berieten drei beschlipste, scharfgescheitelte Schnullis über dem grottenlangweiligen Modell eines Betonquaders, mit dem sie vermutlich demnächst eine weitere Innenstadt zu verschandeln trachteten.

Versehen ward das mit dem Spruch: "Wir brauchen Querdenker". Aha. Ein kluger Kopf sagte einmal, eine jede Modeerscheinung sei spätestens dann endgültig am Ende, wenn sie bei den Bankangestellten angekommen sei. Zwar hatte ich von Antikapitalismus nur wenig Tau damals, eines aber war mir sonnenklar: Wenn die Typen auf dem Bild allen Ernstes Querdenker sein sollten, dann bin ich definitiv was anderes. Und noch etwas stand für mich fest: Wenn das da Querdenker sein sollten, dann hätte die Menschheit nur eine Chance, wenn Menschen erst einmal wieder anfingen, halbwegs klar zu denken anstatt quer. Überflüssig zu sagen, dass ich mich danach nie wieder als 'Querdenker' bezeichnet habe. Eine Nullvokabel, ein Blähwort wie das seinerzeit ebenfalls allgegenwärtige 'sinnlich'.

(Von dem aktuell angesagten Quark mit dem 'Selberdenken' will ich hier übrigens gar nicht erst anfangen. Das bedeutet meist nix anderes als: Schule des Lebens, danach YouTube-Universität und sich seither bemüßigt fühlen, der Welt mit abenteuerlichen, selbstgeklöppelten Privattheorien auf den Dömmel zu gehen. Früher sollen solche Typen sich gern für Napoleon gehalten haben, heute wollen sie den Kaiser zurück, weil ja Diktatur herrscht.)

Tja, warum nennt man sie 'Covidioten'?


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Im Übrigen gilt für '#b2908' genau das, was für Pe- und andere -gidas, Freitaler Brüllwürfel und Chemnitzer Jäger gilt: Wer großen Wert darauf legt, nicht in die rechte Ecke gestellt zu werden, soll halt nicht mit Nazis gemeinsame Sache machen. Unstrittig wurde und wird von Neoliberalen mit dem Begriff der 'Selbst-' bzw. der 'Eigenverantwortung' arges Schindluder getrieben. Nur kommt es mir vor, dass einige inzwischen glauben, das sei deswegen quasi komplett abgeschafft und man sei irgendwie für überhaupt nichts mehr verantwortlich.


Das Hannah-Arendt-Zitat vom Anfang findet sich übrigens beim zu früh verstorbenen Wolfgang Pohrt (1945-2018), der sich in einem Essay mit dem Thema auseinandersetzt. Woanders findet sich bei ihm eine mögliche Erklärung, warum die 'Querdenker' nicht nur Jugendliche und/oder Pauperisierte anziehen, sondern viel Mittelschicht, teils im fortgeschrittenen Alter und durchaus situiert. Arrivierte, in deren Leben bislang wenig Härten vorgekommen sind. Deren Epizentrum zudem in einer vergleichsweise wohlhabenden Gegend Westdeutschlands liegt.

Mit 'Volkscharakter' oder anderen oberflächlichen Gruppenzuschreibungen bzw. Schubladen zu operieren, ist normalerweise Tünnef, weil da allzu oft untergeht, dass Menschen sich durchaus ändern können und nicht alles durch Peergroup/Kultur/Identität determiniert ist. Doch lassen sich zum Beispiel im Mindset des deutschen, sich 'links‘ bis 'linksliberal' verortenden Bildungsbürgertums, vor allem in dem Milieu, das Pohrt als "nichtgewerbliche Mittelschicht" bezeichnet, diverse gruppenspezifische Auffassungen und Denkstrukturen beobachten, die so häufig anzutreffen sind, dass man sie durchaus typisch nennen kann:

Irrationale Idealisierung des 'Natürlichen' bzw. des Urwüchsigen und einem Hang zum Esoterischen, bei gleichzeitiger Verachtung von Fortschritt, Technik und Wissenschaft (wiewohl Technik gern und intensiv genutzt wird).

Einen Hang, Empirie und Wissenschaft auf ein bloßes 'Die einen sagen so, die anderen so' herunterzubrechen und damit zu entwerten, sowie das eigene Erleben bzw. 'Bauchgefühl' als maßgeblich zu setzen.

Reflexhafte, oft kritiklose und schwärmerische Sympathie für Außenseiter und welche, die irgendwie dagegen sind.

Ein unaufgearbeitetes Verhältnis zu autoritären und antisemitischen Denk- und Handlungsmustern.

Romantische, von hohen moralischen Standards geprägte Vorstellungen davon, wie Politik, vor allem internationale Politik funktioniert bzw. zu funktionieren hat. Was zu Frust führt und zu zynischer Verachtung für alle politischen Akteure, die diesen Standards nicht gerecht werden.

Groteskes, nur mit magischem Denken erklärbares Überschätzen der Handlungsmöglichkeiten einzelner politischer Akteure und anderer Charaktermasken.

Maßloses Überschätzen symbolischer Aktionen.

Verzerrte Vorstellungen über die eigene politische Relevanz sowie über die Validität eigener 'Recherchen'.

Und schließlich: Nicht selten ein "gekränktes künstlerisches Sendungsbewusstsein“ (Pohrt, Werke Bd. 7, S. 59). In gewissen Milieus wimmelt es vor verhinderten Literaten/Künstlern/Intellektuellen. Aus den meisten aber ist, allen tollen Versprechungen auf der Abiturfeier und hochtrabenden Plänen zum Trotze, keine große Nummer geworden, sondern bloß einer jener öden 08/15-Funktionierer, der sie, mit schauderndem Blick auf die eigenen Eltern, niemals werden wollten. Was zu Verbiesterung und Verhärtung führen kann.

Tja, und dann kommen diese Politiker daher und wollen einen zwingen, beim Einkaufen diese Scheißmaske zu tragen! Frechheit! "Wozu ist man quälende acht oder zehn oder gar dreizehn Jahre plus Nachspielzeit zur Schule gegangen? Irgendwann muss es doch auch mal gut sein." (Hannemann)






10 Kommentare:

  1. Eine wunderbare Gesamtschau, der ich voll zustimme!

    Zur Mystifizierung der ach so "harmonischen" Natur hab ich im Gartenblog mal einen kleinen Rand verfasst, der gut passt:

    Im Einklang mit der Natur? Ein Mythos aus der Stadt!

    Selber denken ist nicht sehr verbreitet - und zugegeben wegen der über uns herein brechenden "Info-Stürme" auch nicht durchweg machbar. Auf Dauer aber sollte man schon dazu kommen, die etablierten "inneren Algorithmen" in Frage zu stellen. ("Natürlich ist immer gut, Gentechnik immer böse - außer in der Medizin").

    Das "gekränkte künstlerische Sendungsbewusstsein“ führt bei etlichen Publizisten derzeit dazu, dass sie am rechten Rand fischen und sich bei den "Covid-Skeptikern", ja sogar bei den Dummbratzen a la "Merkel muss weg" (und dann ist alles ok?) anbiedern. Ein Schauspiel zum Fremdschämen! (Aktuelles Beispiel G.Steingart - hier eine Leseprobe auf Über Medien.)

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    1. Es gibt Dinge, die man nicht auf nüchternem Magen und vor dem ersten Kaffee lesen sollte. Und es gibt Dinge, die man erst abends lesen sollte. Weil es dann nicht gar so auffällt, wenn man Schnaps trinkt.

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    2. Der thematische Bogen von „querdenken“ zu Amei­sen­schlacht ist in der Tat enorm. Empfehlung: viel Schnaps.

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  3. „Wer großen Wert darauf legt, nicht in die rechte Ecke gestellt zu werden, soll halt nicht mit Nazis gemeinsame Sache machen.“ – Die grammatisch vollständige Um­schrei­bung von „Kontaktschuld“. Zeitbezug: Demo am 29.8.2020 in Berlin.

    Ursprüngliche Ausprägung ist Ablehnung von Diskussion mit dem „Bösen“. Das Mo­ment der Moral dominiert.

    Erweiterte praktische Ausprägung der Kontaktschuld ist zu sehen bei un­er­wünsch­ter Demo: suche unter den Demonstranten nach den Farben Schwarz-weiß-rot, interpretiere großzügig als Bösewicht.

    Die Schwäche der „Kontaktschuld“ – sie kaschiert Folgendes:

    Erstens, der „Bösewicht“ handelt auf der Grundrechtedemo themenbezogen – er ver­tei­digt wie ich seine unveräußerlichen Grundrechte.

    Zweitens, weil er das darf, wird die Demo nicht durch seine Anwesenheit au­to­ma­tisch „böse“.

    Drittens. Ich auch nicht, wenn er zufällig neben mir her läuft.

    Viertens. Die resultierende Ausgrenzung des als „böse“ vermuteten führt zu ge­sell­schft­li­cher Spaltung. Kontraproduktiv weil gehirnschrumpfend.

    Der eingangs zitierte Satz hebt die Qualität des Artikels wegen Beispielhaftigkeit. Und das konkret am Rest des Artikels: die Anwesenheit von drei Grundfarben ent­hebt den Autor jeder weiterer Überlegung. Es reicht, die Demo als „böse“ dar­zu­stel­len statt – was ja denkbar wäre – als „dumm“, weil ge­sund­heits­ge­fähr­dend.

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    1. "Ich auch nicht, wenn er zufällig neben mir her läuft"

      Zufällig.
      Und die Erde ist 'ne Scheibe und mein Wohnzimmer ist der Mittelpunkt,

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    2. Der zitierte Satz ist hypothetisch. Er hat Regelcharakter.

      Anonyms Antwort behandelt den Satz als reales Ereignis – unter der Hand, durch das eingestreute Attribut „Zufällig“. Eine rudimentäre Form des Framing.

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  4. Moin Stefan

    Den Absatz nach »…Woanders findet sich bei ihm eine mögliche Erklärung, warum die 'Querdenker' nicht nur Jugendliche und/oder Pauperisierte…« sollte man als Pflichtlektüre dem Blogger und Kommentator aufzwingen. Mich selber eingeschlossen.

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  5. Leute, die sich Querdenker nennen, sind meistens Langweiler aus dem Marketing, deren Nonkonformismus gerade so für eine Micky-Maus-Krawatte reicht.

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  6. Der Querdenker denkt quer, weil das Brett vorm Kopf im Wege ist.

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