Mittwoch, 2. Juni 2021

On the nose

 
Die Modekolumne

Wenn man mehr als vierzig Jahre lang keine Brille mehr getragen hat und einem der Augenarzt irgendwann mitteilt: Entweder Brille oder Auto fahren verboten wegen kurzsichtig, stellen sich einige Fragen aufs Neue: Wo hab' ich das verdammte Scheißding schon wieder hingelegt? Oder: War das dauernde Brilleputzen früher auch so lästig? Aber vieles ist auch besser geworden. Bei eher leichten Sehfehlern wie bei mir sind moderne Gestelle und Gläser leicht, unauffällig und man bemerkt sie kaum noch.

Über viele Jahrhunderte waren Brillen reine Sehhilfen und fertig. Notwendige Übel. Bis in die frühen Achtziger, als ein gewisser Günther Fielmann die Szenerie betrat, führten die gesetzlichen Krankenkassen eine eher überschaubare Auswahl an Modellen im Leistungskatalog ('Kassengestelle'). Im Wesentlichen gab es metallene, die 'Drahtbrille' genannt wurden, und schwere Hornbrillen à'la Ben Wisch. Die hießen 'Glasbausteine' und verliehen vornehmlich grauen Anzugträgern gravitätischen Ernst. Ferner bekamen Soldaten vom Militär eine Gasmaskenbrille gestellt und Arbeiter kriegten von der Berufsgenossenschaft auf Antrag eine Arbeitsbrille mit ums Ohr umlaufenden Bügeln. 'Modische' Brillen waren was für reiche Ehefrauen, Exzentriker und welche, die es nötig hatten.

Bei Kindern konnte das zum Problem werden. Die fanden und finden sich mitunter zwangsweise in einem Milieu wieder, das zu zirka 20 Prozent aus oberflächlichen, gewalttätigen Schulhoftyrannen besteht, die ihren Lebenzweck unter anderem darin sehen, Opfer scharfsichtig zu identifizieren und anschließend fortwährend zu terrorisieren. Womit deren intellektuelle Kapazitäten auch weitgehend belegt sind. Das macht aber nichts, weil Papa Anwalt ist.

Damals war das so: Hatten deine Eltern kein Geld und waren in der AOK, gab es wie bei den Erwachsenen im Prinzip nur die Wahl zwischen einer Nickelbrille und einer Hornbrille. Zumindest mit der letzteren sahst du, wenn du Pech hattest, aus wie der Sohn des seinerseits schon aus einem inzestuösen Verhältnis hervorgegangenen Jungbauern und seiner Schwester. In fünfter Generation. Verpassten deine Eltern dir dazu noch eine Seppelhose (wegen haltbar), stand einer Karriere als Mobbingopfer eigentlich nichts mehr im Wege.

Ich hatte damals das Pech, als Kind eine Brille zu brauchen. Die Nickelbrille, die man mir erst verpasst hatte, stand mir gut. Leider habe ich sie andauernd verbogen. Also bekam ich eine Hornbrille. Die sah scheiße aus, war aber nicht mehr zu verbiegen. Einmal wartete ich am Schultor auf meine Mutter, die mich abholen wollte. Weil es kalt war, hatte ich die grellgelbe Bommelmütze von der Verkehrswacht tief ins Gesicht gezogen. Dazu trug ich meine Hornbrille. Meine Mutter hätte mich, ihr eigen Fleisch und Blut, kaum erkannt. Dabei hatte ich noch Glück, dass die Eltern aus der Seppelhosenphase da bereits rausgewachsen waren. Schwein gehabt. War knapp.

Was ich damit sagen will: Auch als weitestgehender Modeignorant muss ich zugeben, dass ich moderne, gut gestaltete Brillen, die einen normalerweise nicht mehr entstellen, die Umwelt und Träger selbst teils sogar vergessen lassen, dass sie überhaupt da sind, schon für einen Fortschritt halte.

Und dann sind da noch die, die mit ihrer Brille unbedingt ein 'Statement' abgeben wollen. Für mich wäre das nichts, denn ich kann sehr gut für mich selbst sprechen. Das müssen weder Kleidung noch Brille oder sonstwas für mich erledigen. Einzig wenn ich in der Öffentlichkeit ein entsprechendes Bandshirt trage, kann das schon mal bedeuten: Back off, ich bin grad schlecht gelaunt und für Smalltalk nicht zu haben! Oder bei bedecktem Himmel eine Sonnenbrille. Das kann auf einen Kater hindeuten.

Zurück zu Brillen. Als damals Jürgen 'Mr. Shareholder value' Schrempp beim Daimler übernahm und dazu ein Modell trug, das den Charme einer rasiermesserscharf geschliffenen Machete verströmte, war klar: Obacht, dieser Typ ist nicht zum Nettsein hier! Mehr oder minder funktionale Funktionärstypen wie Alexander Dobrindt und Frank-Walter Steinmeier führten plötzlich massive schwarze Hipsterfahrräder auf den Nasen Gassi. Das sollte wohl heißen: Hallo! Auch ich habe den Kontakt zur Moderne noch nicht völlig verloren und finde das, was die jungen Leute so tragen, schon recht flott. Zumal ich ja auch ein Stück weit unangepasst bin, wie ich selbst finde.

Und dann ist da Heinz-Georg Maaßen. Was will die "verhaltensauffällige Klemmbrille" (Beisenherz) uns bloß sagen mit seinem Minimalmodell, das aussieht wie aus alten Büroklammern selbst zurecht gebogen? Die dekadenten Jahre sind vorbei? Weimarer Republik ist das neue cool?






3 Kommentare:

  1. ich glaube, ich schrieb das schon mal beim flatter: ich habe da immer die assoziation himmlerbrille.

    oblomow

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  2. wenn ich meinen Enkel mit seiner schicken Brille heute sehe, denke ich schon, hätte ich gerne gehabt.
    Hier mal ein link zu einem meiner Bilder, zu diesem Thema...

    https://www.fotocommunity.de/photo/du-musst-besser-sein-brille-manchmallyrik/41563067

    lg wolfgang

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  3. https://www.fotocommunity.de/photo/du-musst-besser-sein-brille-manchmallyrik/41563067

    lg wolfgang

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