Sonntag, 4. Juli 2021

Hasste was, biste was


"Die weltweite Bürgerrechtsbewegung hat den einst so stolzen Konservativen das Rückgrat gebrochen. Über Jahrhunderte konnten sie den Planeten durch Zufälle der Geburt (Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe) dominieren. [...] Nun wird aber die aus ihrer Sicht natürliche Überlegenheit in Frage gestellt, weil sie lästigerweise all die Menschen, die man immer ohne Gewissensbisse ausnutzen und ausbeuten konnte, respektieren sollen. [...] Migranten, Schwule, Frauen und Kinder gab es natürlich schon immer. Aber über Jahrhunderte hatten die sich unterzuordnen und öffentlich nicht in Erscheinung zu treten." (Tammox)

Es ist immer wieder schön anzusehen, wenn Propaganda die Luft ausgeht wie einem leckgeschlagenen Hüpfball. Die Grünen gelten in gewissen Kreisen ja als quasi allmächtig. Dominieren die Medien. 180 Prozent aller Jungjournalisten wählen wissenschaftlich erwiesen linksgründunkelrot. Die Redaktionsstuben werden gekapert von der Wokoharam. Und so werden wir alle 24/7 indoktriniert mit der wirklichkeitsfernen, urbanen bourgeiosen, woken Mittelschichtagenda: Klimakram, Genderwahn, Multikultispinnerei und Veggiegedöns. (Merke: Eine Verschwörung, die von dir aufgedeckt wird, ist meist keine.)

Das ist ungefähr so lachhaft wie die Vorstellung, es existiere eine (jüdische) Weltverschwörung, deren Ziel von jeher die Vernichtung des Endgegners Deutschland ist. Wäre das so bzw. wäre das je so gewesen, dann wären diese Verschwörer 1945 doch am Ziel all ihrer Wünsche gewesen. Kein deutsches Staatsgebiet mehr, Regierung im Bau, alles oberhalb eines Dorfbürgermeisters hat einen alliierten Kotroletti vor der Nase. Job done, get the Babyblut! Stößchen! Tja, und dann fragt man sich angesichts der Entwicklung seit 1949: Wie haben die das denn verbockt, diese Weltmeister?

Die Vorwürfe, die im Rahmen jener "intellektuellen Zumutung" (Schulte), die 'Wahlkampf' zu nennen sie sie Kühnheit besitzen, gegen Annalena Baerbock erhoben werden, sind vergleichsweise läppisch. Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie am lautesten erhoben werden von welchen, die sich ihrerseits in Milieus bewegen, in denen Korruption, Mauschelei und Käuflichkeit geradezu zur politischen Kultur gehören und man für Nebeneinkünfte wie die, die Frau Baerbock vergessen hat anzugeben, nicht mal den Arsch aus dem Bett lüpfen würden. (So was faselt dann von 'Charaktertest').


Das einzige, was sich jenseits politischer Differenzen ernsthaft gegen sie vorbringen lässt, ist, dass sie über keinerlei administrative Erfahrung verfügt. Sie war weder Ministerin noch Ministerpräsidentin und auch nicht Staatssekretärin. Nicht einmal Bürgermeisterin einer nennenswert großen Stadt. Kennt den Machtapparat nur von außen. Das ist in der Tat ein Argument, und zwar ein stichhaltiges (ceterum censeo: Habeck wäre geeigneter), alles andere ist dümmliche Propaganda. Vielleicht auch eine Generationenfrage. Denn Annalena Baerbock ist, vorausgesetzt, sie ist kein Deepfake, die erste Kanzlerkandidatin der Generation X, die unter den Bedingungen eines alternativlosen Neoliberalismus sozialisiert und schon in der Schule auf Selbstvermarktung gebürstet wurde.

"Baerbock neigt zu jener perfekten, auf Karriere getrimmten Selbstinszenierung, die den Um-die-40-Jährigen, der einstigen Generation Praktikum, gerne zugeschrieben wird. Sympathisch wirkt das nicht." (Ulrich Schulte)

Nun sind die Grünen mir einigermaßen egal. Sie waren tatsächlich einmal so was wie Motor des gesellschaftlichen Fortschritts. Haben sogar - shocking! - innerparteiliche Demokratie praktiziert. (Für geschlossenheitsfixierte Unionisten undenkbar. Wo kämen wir da hin?) Inzwischen sind sie längst bürgerlich rundgelutscht und vertreten überwiegend entweder Reihenhausbesitzer im öffentlichen Dienst, die im Biomarkt einkaufen oder urbane akademische Social Justice Warriors, die dafür kämpfen, dass jedes Gender einen eigenen Lokus kriegt. Milieus, die erstens nicht meine sind, und die zweitens von Avantgarde so weit entfernt sind wie einst Helmut Kohl. Eigentlich könnte mir die grüne Veranstaltung also irgendwo vorbeigehen. Die machen ihres, ich mache meins.

Wenn, ja wenn Baerbock nicht, wie schon Greta Thunberg, Claudia Roth, Anetta Kahane und andere, jene armseligen Wichte (und -innen) triggern täte, die sich von einer Frau in der Politik, die keine Nazibraut bzw. nicht bei der AfD ist (oder beides) derart provoziert fühlen, dass sie nur noch mit persönlichen Angriffen, Hass und Gewaltphantasien reagieren können. Hasste was, biste was. Deren Selbstherrlichkeit so weit reicht, dass sie, mit dem Fuß aufstampfend, schnauben: "Ich will aber nicht, dass SO eine...!" Gegen solche Leute hilft nur eines: Stets so handeln, dass sie sich noch mehr ärgern. Aus Prinzip. Auch wenn man sich dafür mit einer Annalena Baerbock gemein machen muss.






3 Kommentare:

  1. Ich würde Bärboch, den Grünen und eigentlich allen Parteien und Wählern empfehlen, zur Abwechslung mal über Inhalte und nicht über Personen zu quatschen.
    Und auf gar keinen Fall würde ich mich, nur um irgendwelche Gruppen zu triggern, mich mit einer Kandidatin gemein machen, die übelste Standpunkte hat. Diese f... Identitätspolitik hat null Mehrwert.

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    1. Eine schöne Bestätigung meiner Überschrift. Vielen Dank dafür.

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    2. Wie darf ich das verstehen? Soll ich einer der Hasser sein? Falls das noch nicht klar geworden ist: Mir sind identitätspolitische Faktoren bei Politikern (weiblich, männlich LGBTQ whatever) ziemlich egal. Ich kritisiere politische Standpunkte und nicht die Personen als Personen. Mir ist es daher auch relativ egal, ob die Dame Führungserfahrung hat oder nicht.

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