Mittwoch, 13. Oktober 2021

Strukturwandel, manifest (2)


Preisfrage: Woran erkennt man, dass eine Stadt/ eine Region definitiv auf dem absteigenden Ast ist?

Versuch einer Antwort: Unter anderem am Ausmaß des pathetisch-nostalgischen Boheis, der um eine vermeintliche Identität veranstaltet wird und mit dem man sich gegen den Abstieg zu stemmen versucht (anders als etwa in Berlin, wo man Chaos und Ranz einfach für sexy ausgibt). Der Getränkemarkt meines Vertrauens wurde vor kurzem aufwändig umgebaut und auf Ruhrpott getrimmt. Kassenzone wie eine Lohnhalle. Das Tor zum Leergutlager ist wie ein Stollen gestaltet. Und dann diese Deko hier:



"Ruhrpott
Auf Kohle geboren
mit Stahl in den Adern"

Lava in den Eiern
Titan in der Wirbelsäule
Karbon im Knie
Staub in der Lunge
Pulsschlag aus Stahl
Eisenpimmel
Dicke Eier, Weihnachtsfeier
Frauen hamm auf Schicht nix verloren
Auf Kur im Sauerland

Kähr, watt hammwir früha malocht!

(Merke: frei assoziierte Satzfetzen untereinandergereiht sehen aus wie Lyrik)

Jeden Morgen kommwa pechschwarz vonne Nachtschicht auffe siebte Sohle. Aus dem Loch im Boden vonner Wohnküche. Dann in den Badezuber, in dem vorher schon der Rest der Großfamilie war. Schrubben uns eine Stunde lang mit Kernseife und Wurzelbürste blutig. Danach Bratskartoffeln und Pilsken zum Frühstück.

Hart, herzlich, ehrlich. Uga.

So geht’s zu bei uns anne Ruhr.

Die letzte Tonne Kohle wurde übrigens Ende 2018 in Bottrop aus der Erde geholt. Der Job der verbliebenen Bergleute besteht vor allem darin, die Pumpen zu kontrollieren, damit die Gegend hier nicht absäuft (und Hunte wie der abgebildete wurden spätestens ab den 1970ern ausgemustert. Die nicht mehr gebrauchten Wägelchen stehen seither überall in der Gegend herum, meist als riesige Blumenkübel).

Steht also noch einiges zu befürchten in Sachen Identitäterä.







7 Kommentare:

  1. Derartig verkrampfte Nostalgie bzw. Traditionsideen scheinen sich auch anderswo zu etablieren:
    https://tinyurl.com/3mwsbx24

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  2. Ein Phänomen, welches auch z.B. aus dem "verruchten" St.Pauli bekannt ist (welches heutzutage als Rastplatz für reiche junge Akademiker dient, bevor sie sich nach dem zweiten Kind ein Haus in den reichen Vororten bauen...).
    Halt noch ´n Euro rausquetschen

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  3. Da hatte Accept/Udo Dirkschneider mehr Ruhrpott-Folklore als dieser Kitsch

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    1. Obwohl, 'Teutonic Terror' war schon grenzwertig... Ach nee, das kam später.
      @altauto: Warum erinnert mich das gerade daran?
      @Anonym: Geht eigentlich allen Szenevierteln so. Kaum sind sie als solche etabliert, rückt die Bourgeoisie an und gentrifiziert.

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  4. Ergänzung: Ich meine daran. Wird wohl nicht zu vergleichen sein.

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  5. .... auweia — da hatte aber jemand nen richtig schlechten Tag. Soo schlimm finde ich die Ruhrgebietsnostalgie nun auch nicht. Abgeshen von dem schon erwähnten St. Pauli kommt mir spontan sowohl die Nordseeküste und das Alpenland in den Sinn ...

    Gruss
    Jens

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  6. Da ist mir die Berliner Variante echt lieber! ;-)Es gibt hier einfach zu viele "Identitäten", als dass sich solche Nostalgie begründen ließe. Der "Ranz" hat auch positive Seiten: Wildkräuter dürfen wachsen, der Artenvielfalt wird dadurch gedient - und es sieht nicht so furchtbar aufgeräumt aus wie in Bayern, wo ich sogar im Wald auf asphaltierte Wege trag und einfach jedes Eckchen sauber geputzt und versiegelt ist.

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