Mittwoch, 3. August 2022

Neun Euro. Der Selbstversuch

 
Wieder einmal stand der alljährliche mehrtägige Besuch bei einem alten Freund an, der in der Nähe von Bremen residiert. Die Alternativen waren: Entweder mindestens eine Tankfüllung verballern, und das zu den momentanen Preisen, dafür komfortabel und unabhängig sein von Fahrplänen und Anschlüssen. Oder sich in vermutlich überfüllte Züge quetschen, sich an Fahrpläne halten, auf Anschlüsse hoffen und Maske tragen. Andererseits würde die Reise auf keinen Fall mehr als neun Euro kosten. Ein No-brainer, wie der Angelsachse da sagt. Zumal ich Urlaub hatte, ein verpasster Anschluss oder eine Verspätung mich nicht aus der Bahn werfen (hihi!) würden.

Auch war die Verbindung unkompliziert: Regionalexpress bis Osnabrück, dort in den nächsten Regionalexpress nach Bremen. Danach eine Station zurück nach Delmenhorst. Machbar. Planmäßige Fahrzeit: Gute drei Stunden, also über die Hälfte länger als per Auto. Für den Rückweg war der Plan etwas anders. Mit der (privaten) Nordwestbahn von Delmenhorst über eine andere Route nach Osnabrück, dann wieder in den Regionalexpress von DB Regio gen Heimat. Fahrzeit ungefähr dieselbe, da die Regionalbahn zwar länger unterwegs ist, aber die Schleife über Bremen wegfällt.

Und, wie war’s nun? Fangen wir mit dem Positiven an: Die von mir genutzten Züge waren technisch wirklich gut und auch sauber. Top gefedert, dröhnten nicht. Die Fahrt mehr ein Schweben (was natürlich auch an den inzwischen durchgängig geschweißten Schienen liegt). Klimaanlagen funktionierten tadellos, ebenso die Toiletten. Früher, zu rumpeligen Silberling-Zeiten, in denen der Großteil meines Bahnfahrer-Lebens stattfand, kostete so ein Fahrkomfort Intercity-Zuschlag. Doch, muss man sagen.

Bei aller ansonsten berechtigten Kritik an der Deutschen Bahn kann man ihr schlecht einen Vorwurf für die vollen Züge machen. Damit war zu rechnen zu Sommerferienzeiten und es gab kaum eine Chance, da kurzfristig gegenzusteuern, da das Neun-Euro-Ticket ein politischer Schnellschuss war. Die personellen wie materiellen Ressourcen sind, wie es sich für einen privatwirtschaftlichen Konzern geziemt, spitz auf Knopf genäht (außer bei Vorstandsgehältern). Mal eben einen Waggon mehr dranhängen ist nicht ohne weiteres machbar im Regionalverkehr, wenn nicht alle Bahnsteige die entsprechende Länge haben. Der Zug nach Osnabrück hält nicht nur in Düsseldorf, Essen und Münster, sondern auch in Bohmte, Kattenvenne und Westbevern.

Irgendwo in Niedersachsen

Und so geriet die Hinfahrt zur argen Prüfung. Im Regionalexpress nach Osnabrück erwischte ich zuerst einen Platz auf der Treppe, ab Münster dann einen richtigen Sitzplatz. Im Zug nach Bremen aber bekam das Wort 'überfüllt' noch einmal eine neue Bedeutung. Gute eineinhalb Stunden lang quetschte ich mich eingeknickten Nackens an die Wand des Fahrradabteils. Die gute Nachricht: Umfallen konnte ich nicht. Überflüssig zu sagen, dass natürlich auch an jeder Station diverse Drahtesel durch die Menschenmassen hinein- und hinausbugsiert werden mussten. Wieso ich ausgerechnet das Fahrradabteil nutzte? Weil ich froh war, überhaupt irgendwo in den Zug hineingekommen zu sein.

Voll? Geht so.

Nett auch die Geräuschkulisse. Anwesend war eine größere Kernfamilie. Das meiner Beobachtung nach zweitjüngste Kind namens Jossi war ausgestattet mit einem ausgeprägten, obertonreichen Organ sowie einer Menge Ausdauer und hatte sich offenbar zum Ziel gesetzt, den Laden dergestalt zu beschallen, dass, wäre es ein Arbeitsplatz, Gehörschutz vorgeschrieben gewesen wäre. Dem milden Vater ward schon irgendwie klar, dass das irgendwie nicht gönge und er versuchte sich nicht minder ausdauernd als Pädagoge. Das ging dann so:

SCHREI!!!
sanft "Jossi..."

KREISCH!!!
sotto voce "Jossi..."

JUCHZ!!!
dolce "Jossi..."

PAPAPAPAPAPAPAPA!!!!!!
piano "Jossi..."

QUIIIETSCH!!!
pianissimo "Jossi.,,"

WÄÄÄÄHHH!!!!!!!
piano pianissimo "Jossi..."

So ging das in Endlosschleife. Bis Bremen. Zehn Minuten war zwischendurch Pause. Da hat das Kind mal geschlafen. Um dann, erquickt an Seele, Körper und Geist, genau so weiterzumachen. Natürlich hätte ich mir per Ohrstöpsel Musik geben können. Nur hatte ich erstens keine dabei und zweitens hätte ich gehörschädigend laut Musik hören müssen, um den hyperaktiven Brüllwürfel zu übertönen.

Dafür kann DB Regio natürlich nichts. Dass die Züge voll, ja übervoll sein würden, zumal NRW und Niedersachsen mitten in den Sommerferien steckten, war, wie gesagt, abzusehen und ich würde das als Kritikpunkt daher nur eingeschränkt stehen lassen. Außerdem waren die Züge am Donnerstag generell deutlich leerer als am Montag und es gab keine Probleme, einen Platz zu kriegen. Auffallend für mich aber, wie entspannt und unaufgeregt die Stimmung war. Alle nahmen es gelassen, niemand mopperte rum, niemand drängelte. Nur Berufspendler mochte man da nicht sein.

Weit interessanter war da schon der direkte Vergleich:

DB Regio: Kein Netz. Ganz schwaches Netz. Funkloch. In Stadtnähe mit Glück mal Netz. Aber nur kurz. Zugpersonal? Fehlanzeige auf ganzer Strecke. Nirgends. Nicht einer. Auch am Donnerstag, als die Züge leerer waren.

NordWestBahn: Durchgehend 4G-Netz. Freundlich-resolute Zugbegleiterin, die akribisch Karten kontrollierte, im Kopf hatte, wer zugestiegen war, sich von Neun-Euro-Ticket-Inhabern sogar den Ausweis zeigen ließ. Dafür sorgte, dass möglichst alle sitzen können ("Jetzt packen Sie bitte mal Ihren Rucksack da weg, dann kann die alte Dame auch sitzen. Kann doch wohl nicht so schwer sein.")

Bin eigentlich kein Anhänger der Bahnprivatisierung, aber das fiel dann doch ins Auge.








1 Kommentar:

  1. ... ich bin ja dann eher der Typ, der dann recht laut im Sinne von "da Jossie und seine Eltern es ja nicht hinbekommen — schmeissen wir sie hier oder erst amBahnhof raus — wer macht mit — bitte Arm heben — OK, gleich fliegt ihr raus!!" kommuniziert. Widerliche weichgespülte Elternbrut!
    Gruß
    Jens

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