Dienstag, 25. Oktober 2022

Jenseits der Blogroll - 10/2022


Die Links und Fundstücke des Monats. Dieses Mal steht das politische Chaos in Großbritannien zunächst im Fokus. Gut, die Dreiviertelmilliarde Pfund wird das Vermögen des ehemaligen Hedgefond-Managers und aktuellen, von einer Handvoll Parteimitgliedern gewählten britischen Premierministers Rishi Sunak geschätzt, sind Peanuts gegen das, über das die Royals so verfügen. Aber das Vermögen seines Schwiegervaters soll sich auf knapp zwei Milliarden Pfund belaufen. Kann also durchaus passieren, dass es demnächst bei der wöchentlichen royalen Audienz heißt: "Oi, pass auf, was du sagst, Segelohr, wir kaufen hier den ganzen Laden und du fliegst als erster raus!"

Constantin Seibt: Die Queen ist tot, der Wahnsinn regiert. Eine wuchtige Abrechnung mit der Schmierenkomödie, die Westminster seit mindestens 50 Tagen aufführt.

"Der Brexit war die grösste Wunsch­vernichtungs­maschine der britischen Geschichte. Alles, was an kapitalistischen Wünschen da war, erfüllte sich nicht. Alles, was an anti­kapitalistischen Wünschen da war, erfüllte sich nicht. Alles, was an patriotischen Wünschen da war, erfüllte sich nicht. Der Brexit war kein Geschäft, keine Befreiung, kein Orden." (Seibt, a.a.O.)

Bernhard Torsch nennt Truss schlicht "Schweinemarktfrau".

"Forgive me for not buying the line that the rise of our third prime minister in 50 days is proof that 'the system' works." (Marina Hyde)

Mehr Politik. Gereon Asmuth über Pazifismus.

"Pazifismus in Zeiten schweigender Waffen ist ein modisches Accessoire, das man sich wie den Button mit der Friedenstaube ans Revers heftet. Wenn es wie jetzt zur Sache geht, verschwindet er bei den meisten schnell in der Kiste mit den anderen Jugendidealen, die man sich abgeschminkt hat. Schlaghose, Palituch, BAP-Platte, Peace-Zeichen. Alles verdammt lang her. [...] Hinzu kommt: Der Pazifismus leidet mal wieder extrem unter einer ganzen Reihe seiner Fürsprecher:innen. Da sind zum einen die offensichtlichen Putin-Versteher:innen, mit denen man ums Verrecken nicht einer Meinung sein möchte. Die sind auch keineswegs gegen Gewalt, sondern allenfalls gegen Gewalt gegen Russland. Zum anderen sind da die Friedensfürsten, die mit einer unerträglichen Hybris mittlerweile nahezu täglich im TV oder in einer großen Zeitung darüber klagen dürfen, dass sie nicht zu Wort kämen. Als wäre Pazifismus nur was für Labertaschen." (Asmuth, a.a.O.)

Anne Applebaum meint, die Deutschen debattieren in der Frage, ob man Kampfpanzer an die Ukraine liefern soll, vor allem mit sich selbst.

Günther Wallraffs Buch 'Ganz unten' von 1986 hat sicher seine Meriten, doch es ist schlecht gealtert.

Kicher...


Kultur/Wissenschaft/Gesellschaft/Gedöns. Die Entwicklung eines Modells des DNA-Moleküls durch Watson und Crick (und Wilkins) 1953 gilt gemeinhin als Sternstunde der Wissenschaft. Wohl zu Unrecht. Den entscheidenden Durchbruch lieferte die 1957 an Krebs verstorbene Rosalind Frank. Schon Lise Meitners Verdienste um die Entdeckung der Kernspaltung wurden viel zu lange beschwiegen. Jetzt verdichten sich die Anzeichen, dass Watson und Crick Franks Anteil mit teils brutalen Mitteln aus der Öffentlichkeit heraushielten. Da tut sich ein Abgrund an Mobbing und Misogynie auf. Man muss kein Feminist sein, um das beschämend zu finden.

Wiesn-Nachlese: Die bayerische Krachlederne hat eine lange Tradition? Träumen Sie weiter

Nils Minkmar über die Roger Willemsen-Ausstellung der Deutschen Kinemathek und über das Arbeiten mit Willemsen. Er fehlt. So sehr.

Bernhard Hiergeist über Dieter Nuhr und seine Sendung 'Nuhr im Ersten'. "Owning the libs".

Lisa Ludwig hat das Bücherlesen verlernt. Ich fühlte mich ertappt.

Wer Kinder hat bzw. mit ihnen zu tun hat, entkommt ihnen nicht. Conni-Bücher! Sophia Lother liefert 3 Gründe, warum die Dinger realitätsfern und problematisch sind.

Musik. Ein Interview mit dem inzwischen 81jährigen Dirigenten Riccardo Muti. Der sagt da wunderbar kluge Dinge. Die Entscheidung der Mailänder Scala, das N-Wort aus dem Text des ersten Aktes von Verdis Ballo in maschera zu streichen, kommentiert er:

"Es ist wichtig, dass die nachfolgenden Generationen wissen, was in der Vergangenheit los war, im Guten wie im Schlechten. Wir ziehen ja auch Michelangelos David keine Unterhosen an.  [...] Heute wissen wir, dass Diskriminierung, ob ethnisch oder sexuell, ein entsetzlicher Fehler ist. Aber wir müssen den jungen Leuten sagen: Schaut her, diese Fehler wurden damals gemacht, passt also auf, nicht in die gleiche Falle zu tappen." (Muti, a.a.O.)

Über die Wiener Philharmoniker meint er:

"Mehr als jedes andere Orchester der Welt haben sich die Wiener Philharmoniker die Wurzeln ihrer glorreichen Tradition bewahrt: Die typisch wienerische Phrasierung, die sich unmöglich erklären lässt, die Farbe, der Klang. Wenn die Wiener Streicher spielen, geben sie nicht nur Töne von sich, sondern sie sprechen, sie lassen Worte und Stimmen erklingen, das ist wahrhaft magisch. Dieses Orchester kann einem jähe Momente vollkommener Schönheit bescheren - wenn es den Dirigenten mag." (ebd.)

Hören und sehen Sie sich an, wie er zu seinem Achtzigsten Strauss' 'Kaiserwalzer' dirigiert und spüren Sie dem nach. Nein, Muti dirigiert gar nicht, er lässt dieses Orchester einfach das machen, was ihm eh im Blut liegt. Oder sehen Sie sich das breite Grinsen auf den Gesichtern im Orchester an, als John Williams seinen 'Star Wars'-Soundtrack dirigierte:


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Sport. Ron Ulrich mit einer Typologie der Kreisliga-Spieler.
 
Essen, trinken, gut leben. Alex Aïnouz aus Paris war wieder nicht untätig. Auf seine lange Reihe zu selbstgetrockneter Pasta folgte eine über die beste Creme brûlée von Paris, wofür er er zu meiner Überraschung nur zwei Folgen brauchte (1, 2). (Fun fact: Der Koch, der angeblich die beste Creme brûlée von Paris macht, reißt überwiegend Tetrapaks auf.) Dann, nach einem Intermezzo zum Éclair au café, macht er sich nun an Bœuf Bourgignon, einen der Grundpfeiler französischer Kocherei. Das könnte wieder länger werden. Zunächst im Restaurant. Dann verrät er uns das Rezept seiner Großmutter:

(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)


Ein Monet-Gemälde mit Kartoffelpüree zu attackieren, ist die eine Sache. Ein quasi flüssiges Instant-Zeugs zu nehmen, eine ganz andere. Meint Celina Plag. Ganz meine Meinung. Wenn Dekadenz, dann bitte richtig und eines a'la Siebeck, wenn's recht ist!

Das Rezept. Muti zum letzten. Im oben verlinkten Interview sagt er den wunderschönen Satz: "Wenn man Trost sucht, muss man Mozart hören, der uns erzählt, wer wir sind, und Verdi, der letzten Endes sagt: "tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone." ("Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch ein geborener Tor").

Über Marcella Hazans Rezept für Tomatensauce mit Butter und Zwiebel schreibt Mercedes Lauenstein: "Sie kommt immer gut. Am besten aber kommt sie, wenn man Trost braucht. An verregneten Sonntagabenden, nach langen, aufreibenden Reisen, an Katertagen. Und am allerbesten macht sie sich eigentlich, wenn man sie sich nicht selbst macht, sondern wenn man sie gemacht bekommt oder für jemanden macht, der Trost braucht."

"Eine Tage ohne Pasta iste nixe guter Tag!" (Klink)

Das ist schön. Vor allem aber ist dieses Rezept eines: Einfach. Nun bin ich alles andere als ein Experte für italienische Küche, aber mir fällt auf, dass sehr viele Menschen sie offenbar missverstehen. Von Ausnahmen abgesehen, geht es bei vielen italienischen Rezepten weniger um Raffinesse, sondern um beste Zutaten und klare geschmackliche Statements. Tomaten, Mozzarella, Olivenöl, Salz, Basilikum, aus und fertig. Nicht noch tausend Kräutlein und Spezereien, erst recht nicht Balsamico bzw. das gesäuerte Himbeersaftimitat, das in 99,9 Prozent aller Fälle absolut niemand braucht. Und auch keine weiteren Kräuter, Gewürze und sonstiges. Es gibt welche, die sagen, in ein ragù alla Bolognese käme noch nicht einmal Olivenöl, weil schon das den Geschmack verfälsche.






8 Kommentare:

  1. Der Artikel zum Pazifismus bekommt von mir eine +1. Mehr gibt es auch nicht dazu zu sagen, weil er die Propaganda beider Seiten zu diesem Thema aufzeigt und damit in der aktuellen Debatte vor allem diejenigen abwertet, die militärische Gewalt in jeder Hinsicht ablehnen, ohne dabei die russische Aggression zu verklären.

    Am Ende zeigt sich immer mehr, dass wie auch hier im Artikel erwähnt eine Ukraine nicht "gewinnen" kann. Es bleibt weiter die Annahme, dass trotz aller Hilfe die Ostukraine verloren und es eine Frage der Zeit und der dafür gestorbenen Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten ist, bis das passiert. Oder wie es Thomas Fischer etwas jovial beschreibt:

    "Man sollte der Tatsache ins Auge sehen, dass die Ukraine das Menschenmaterial und »wir« den Rest beisteuern, von der Aufklärung über die Planung bis zur Bewaffnung. Die Formel, dass die Ukraine »auch für uns« kämpfe, hat recht zwiespältigen Gehalt. Sie wird genauso lange kämpfen, wie wir die finanziellen Kosten dafür tragen."

    Und genauso wie beim enfant terrible Melnyk habe ich auch mit dem frisch gekrönten "Friedensnobelpreisträger" Zhadan so meine Bauchschmerzen bei solchen Aussagen.

    Auf emotionaler und persönlicher Ebene kann man das durchaus verstehen, weil u.a. auch der Kontext fehlt, in welchem diese Zitate entstanden sind. Das Problem daran ist, dass ein als Schriftsteller ein hoffentlich intellektueller, intelligenter und reflektierter Mensch sich zu so etwas hinreißen lässt und das sehr wahrscheinlich öffentlich. Dabei verbal alle Russen in Sippenhaft zu nehmen und sich mit den Drohungen selber aus den Werten einer Demokratie zu nehmen, die auch dem ärgsten Gegner angedacht gehören, um nicht selber auf deren Niveau zu sinken, sollte jedenfalls einem so Prämierten nicht passieren.

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  2. Für mich ist die offene Frage bezüglich einer pazifistischen Haltung, die keine Verklärung der Gewalt der russischen Regierung betreibt dennoch: Wie reagiert man darauf?. Konsequent angewendet würde das doch bedeuten, dass man zwar verbal die Aggression kritisiert aber praktisch nichts dagegen unternimmt was eine autoritäre oder gar totalitäre Führung in irgendeiner Form davon abbringen oder deren Position im Land schwächen würde. Anders ausgedrückt würde eine Einstellung der Militärhilfen an die Ukraine und das Drängen suf eine Verhandlungslösung jetzt Menschenleben retten, allerdings zu dem Preis, dass die Aggression in ca. 5 Jahren mit größerer Wucht fortgesetzt würde, sich gegen die restliche Ukraine, Georgien und irgendwann das Baltikum richten würde und noch deutlich mehr Leben fordern und gefährden würde. Ich denke nicht, dass ein einseitiger Pazifismus eine Haltung ist, die angewendet auf einen aggressiven Akteur mittelfristig Leben rettet sondern eher mittelfristig mehr Menschenleben fordern würde.

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  3. "Man sollte der Tatsache ins Auge sehen, dass die Ukraine das Menschenmaterial und »wir« den Rest beisteuern"
    Tja, so haben die USA das bis 1941 im Groben auch gesehen.
    Ich würde gerne hier und jetzt mal die Frage stellen, was muss Russland eigentlich anstellen, um die Nato "komplett" mit einzubeziehen?
    Hat man evtl. doch zuviel Angst vor "der Bombe"?

    Ratlos
    Jens

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  4. "Für mich ist die offene Frage bezüglich einer pazifistischen Haltung, die keine Verklärung der Gewalt der russischen Regierung betreibt dennoch: Wie reagiert man darauf?"

    Die ultimative Antwort hat keiner und ich damit auch nicht. Ob jedoch am aktuellen Kriegsverlauf die inzwischen 100 Milliarden Euro alleine in D für das Sondervermögen - die damit u.a. der parlamentarischen Kontrolle entzogen sind - und den weiteren 200 Milliarden für einen imho sinnlosen Raketenabwehrschirm daran etwas ändern, die der Rüstungsindustrie in den Rachen geworfen werden? Die aktuellen Zahlen der bisher an die Ukraine gelieferten Waffen und Güter sind hier zu finden. Wenn es wirklich zu einem Atomschlag kommt, wird Russland jedenfalls nicht warten, bis der fertig ist.

    Genauso kann unter jetzigen Gesichtspunkten eine NATO oder auch die USA alleine nicht selber militärisch eingreifen, ohne selbst das Völkerrecht zu brechen. Wobei da Letztere vermutlich mit der entsprechenden "Begründung" die geringsten Probleme hätten einzugreifen. Leider sieht auch jetzt das Handeln des Westens nicht nach Deeskalieren aus, wenn in einer Phase dieses Kriegs, in der sich beide Parteien den Bau einer schmutzigen Bombe zwecks eines lokalen Atomschlags vorwerfen, z.B. genau dieser Fall noch inszeniert wird als Übung. Eine "Angst" vor der Bombe sehe ich bei den Akteuren nicht, sondern die bekommen so oder so andere auf´s Dach.

    Der Vergleich mit den USA im Zweiten Weltkrieg hinkt etwas, denn bisher ist der Ukraine-Krieg nach wie vor ein "lokaler" Krieg, während sich im Zweiten Weltkrieg die USA zwar auf den abzusehenden Kriegseintritt vorbereitet und die Gegner Deutschlands unterstützt haben, zu diesem Zeitpunkt aber bereits deutlich mehr Staaten mit Deutschland im Krieg standen. Der Eintritt in den Krieg erfolgte mit der Kriegserklärung durch Deutschland. Bisher ist weder ein NATO- noch ein EU-Mitglied durch Russland direkt angegriffen worden. Angesichts der Umstände kann ein Spiel mit dem Feuer jedoch sehr schnell dazu führen, dass dieser Fall mit einer erneut fingierten Aktion Tatsache wird und wir wirklich "mit drin" hängen. Da muss nicht Putin in die Hände gespielt werden.

    Was mich weiterhin so fuchst an der ganzen Sache, ist die Frage, warum in anderen ungerechtfertigten Kriegen nicht mit der gleichen Verve wie jetzt gegen Russland reagiert wurde? Ein Krieg ist ein Krieg und Menschen im Irak oder wo auch immer leiden nicht weniger darunter als die in der Ukraine! Und wenn ich militärische Gewalt zum Beenden eines solchen als ggf. auch letztes Mittel befürworte, dann gilt das für alle Kriege und damit auch die der eigenen Verbündeten. Das vermeintliche Wegbomben eines Diktators mit unzähligen zivilen Opfern als Preis und "Kollateralschaden" war und ist kein Kriegsgrund genauso wie die idiotische Entnazifizierung der Ukraine. Dabei heisst Pazifismus eben nicht, nichts zu tun, sondern zivilen Widerstand vor Ort unterstützen und denen Hilfe bieten, die sich wie die Kriegsverweigerer beider Seiten diesem sinnlosen Sterben entziehen wollen und weiter auf ein verhandeln drängen, so aussichtslos das nach wie vor zu sein scheint angesichts der russischen Ignoranz.

    Es ist völlig klar, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelt, bei dem der Wunsch nach Unabhängigkeit der Ukraine von beiden Seiten als Hebel zum Erweitern des eigenen Einflussbereichs dient. Nicht ohne Grund biedert sich Scholz mit der Phrase "Marshall-Plan" bereits jetzt an, um auch der deutschen Wirtschaft nach dem Rüstungsgeschäft einen guten Stück des Kuchens bei einem Wiederaufbau zu sichern. Aus reinem Humanismus und Empathie für die Menschen in der Ukraine macht er das sicher nicht.

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    1. Teil 1 meiner Antwort auf den Kommentar von "Siewurdengelesen"

      Bei der Bewertung weltpolitischer Aktionen und Aussagen kann man (bedauerlicherweise) nicht die moralischen Maßstäbe anlegen, die man als Mensch im kleinen sozialen Umfeld anlegt. Es würde auch mich erfreuen, wenn die westlichen Demokratien konsequent wären. Wenn es keinen Irak-Krieg gegeben hätte, der mit offensichtlich Fadenscheinigen Begründungen gerechtfertigt wurde. Wenn es keinen Vietnam-Krieg gegeben hätte, keine Interventionen in Südamerika und keinen ersten und zweiten Weltkrieg der von Deutschland begonnen wurde.

      Die Realität des menschlichen Verhaltens und der Organisation unserer Demokratien erfordert allerdings Kompromisse (teils sehr große) bei der Bewertung all dieser Aktionen. Ein Verbot der Einreise von Russen nach Litauen ist ein gutes Beispiel. Konsequent angewandt zeigt der moralische Kompass klar, dass man Flüchtling, die sich dem Militärdienst entziehen wollen aufnehmen sollte. Auf der anderen Seite tun sich Demokratien traditionell schwer damit Einwanderungswellen zu verkraften. Das kann zu gesellschaftlichen Zerwürfnissen führen und im Extremfall die Demokratie des betreffenden Staats selber gefährden. Machen wir ein Gedankenexperiment. Angenommen die deutsche Regierung stünde vor der Wahl, sagen wir 10 Millionen Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufnehmen zu wollen. Es wäre jetzt in diesem Beispiel abzusehen, dass falls sie die Regierung das ermöglichen würde, bei der Wahl in 6 Monaten eine faschistische Partei (nennen wir sie mal "Alte Naive für Deutschland") durchaus die absolute Mehrheit gewinnen könnte. Sagen wir mal diese Partei hat schon durch die Blume angekündigt, dass sie ein Präsidialsystem bevorzugt mit einem starken Präsidenten und die Idee von zusätzlichem Lebensraum von "früher"(TM) gar nicht so schlecht fand. Was wäre nun die bessere Entscheidung? Die Flüchtlinge alle aufnehmen und soviele Menschenleben retten wie möglich zu dem Preis, dass das Land in 4 Jahren wahrscheinlich autoritär wird und vielleicht in den Totalitarismus abdriftet? Oder keinen Aufzunehmen und sich das rassistische Gedankengut quasi selbst aneignen? Oder irgendein durchwurschteln zwischen diesen Extremen?

      Ganz genau. Wegen der Realitäten und Unzulänglichkeiten die wir überall sehen, ist das durchwurschteln genau das was passiert und was wahrscheinlich die beste Option. Von einem moralischen Standpunkt aus wirkt das immer übel und unbefriedigend. Ich weiß das, da ich in meiner Jugend diesen Standpunkt selbst innehatte.

      Man könnte natürlich sagen, dass der Tschetschenien-Krieg damals schon ein Vorzeichen war und berechtigterweise beklagen, dass die westlichen Länder nichts unternommen haben. Man kann auch die ganzen moralisch ungerechtfertigten Interventionen, die ich im ersten Absatz erwähnt habe beklagen. Allerdings ist das kein Argument jetzt zu sagen: "Oh, wir haben auch viel Mist gebaut, naja, da halten wir jetzt lieber den Ball flach und geben der Ukraine keine militärische Hilfe". Nur weil man in der Vergangenheit eine seine moralischen Maßstäbe gebrochen hat, ist das keine Begründung sie nicht mehr zu beachten und darauf zu warten, dass irgendwoher ein moralisch einwandfrei agierender Erlöser kommt.

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    2. Teil 2 meiner Antwort auf den Kommentar "Siewurdengelesen"

      Sind wir mal ehrlich. Ohne militärische Unterstützung (also nur mit Unterstützung des zivilen Widerstands) würde die Ukraine eingenommen werden. Es gäbe auch in diesem Fall Kriegsverbrechen der Besatzer, Vergeltungsaktionen der Ukrainer, Folter und Tote. Immerhin wäre das Land dann unter der Herrschaft eines totalitären Regimes, was für die Zahl ziviler Opfer nie etwas gutes bedeutet. Genau da würden wir sein, wenn wir keine militärische Hilfe leisten. Ganz im Gegenteil würde ein Land, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Demokratie aufbauen könnte nach dem Krieg, da die eigene Bevölkerung daran interessiert ist und sich Richtung Westen orientiert völlig im Totalitarismus verloren gehen. Das eine Land hätte es besetzt und die anderen Länder hätten, aus sicht der Ukrainer, nichts gemacht. Genau so würde die Situation nämlich betwertet werden, wenn wir nur zivilen Widerstand unterstützen und Verhandlungen anstreben mit einem Verhandlungspartner der keine Verhandlungen möchte.

      Die Gefahr einer atomaren Eskalation ist natürlich heute deutlich größer als noch vor einem Jahr. Dennoch ist sie relativ gering. Die atomare Doktrien der russischen Förderation zeigt relativ klar, dass dieses Mittel nur bei einer Gefahr für das Bestehen der russischen Förderation angewendet werden könnte. Der verbale Schlagabtausch, den wir sehen ist Taktik. Gerade autoritäre oder totalitäre Regime können diese Taktiken gut benutzen um Demokratien zu beeinflussen, deren Bevölkerung zu ängstigen, die dann Druck ausübt. Etwas, mit dem ein totalitäres Regime natürlich keine Probleme hat. Auch die wirtschaftlichen Vorteile einer westlichen Beteiligung am Aufbau der Ukraine sind eigentlich gut. Westeuropa muss seine Wirtschaft im Auge behalten um autoritäre Tendenzen nicht mehr Futter zu geben. Das ist ja eher eine Win-Win-Situation.

      Auch der militärisch-industrielle Komplex, den die meisten wirtschaftlich starken Länder haben ist nicht (nur) negativ zu bewerten. Die Realität zeigt, dass ein glaubhaft wehrhaftes Land eben weniger schnell angegriffen wird. Der Grund warum Russland in die Ukraine einmarschiert ist und nicht in Polen ist die NATO-Mitgliedschaft und damit die klar größere Wehrhaftigkeit. Um das zu gewährleisten benötigt man eine Produktionskapazität für Waffen und da das ein gesellschaftlich relevantes Thema ist, wird es zum Komplex. Wie gesagt, nicht notwendigerweise nur schlecht.

      Unterm Strich sind die westlichen Demokratien aber das beste was wir haben, auch wenn sie von einem Idealzustand der Welt weit entfernt sind. Es ist besser sich gegen die Ausbreitung von Totalitarismus zur Wehr zu setzen - auch militärisch - als einfach zu akzeptieren, dass Demokratien degradieren und schwächer werden

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  5. Eine Antwort meinerseits - Teil 1:

    "Bei der Bewertung weltpolitischer Aktionen und Aussagen kann man (bedauerlicherweise) nicht die moralischen Maßstäbe anlegen, die man als Mensch im kleinen sozialen Umfeld anlegt."

    Genau das geschieht hier aber interessanterweise, indem dass Russland unter Putin ganz in der Tradition der Kalten Krieger medial zum Erzfeind Nr.1 stilisiert wird und nahezu nur moralisiert wird. Da gibt es kein Dazwischen. Kritik oder ein Abweichen von dieser Linie wird sofort in die Keule Pro-Putinismus umgemünzt und erschlagen. Genau in derselben Methode des Übererfüllens gibt es neben der anscheinend einzig möglichen militärischen Lösung des Problems keine Alternativen bzw. werden sie rundheraus und vorgreifend als untauglich abgelehnt. Über die Gründe kann nur spekuliert werden, das Vorgehen selber erinnert mich an Zeiten bis 1989.

    Um mich zu wiederholen: Angesichts der plötzlich möglichen exorbitanten Ausgaben für die Rüstung ohne direkten Einfluss auf den aktuellen Kriegsverlauf liegt zumindest ein Zweck auf der Hand. Und das geschah quasi sofort, solange alle noch "entsetzt" über den Angriff waren und andererseits kriegsbesoffen. Vieles davon auf offizieller Seite halte ich ohnehin für geheuchelt und zumindest dafür wurde dieser Krieg von den Rüstungsunternehmen mindestens billigend in Kauf genommen.

    Punkt 2 dabei ist, dass zwar auf einem solidarischen Prinzip herumgeritten wird, eine Regierung sich aber weder bemüßigt fühlt, dem nur zu oft nicht gerechtfertigten Preisanstieg irgendwie entgegenzutreten. Stattdessen werden Scheinlösungen in Form irgendwelcher Bremsen praktiziert, damit der Urnenpöbel beschwichtigt wird. Im gleichen Atemzug, in dem preiswerte Nahverkehrstickets, jetzt seitens der CDU ein Veto gegen das Bürgergeld und andere eher geringe Summen für ein Entlasten der Menschen verweigert werden, hat man kein Problem mit s.o. solchen Milliardenausgaben oder für das Pampern der Unternehmen wie im Fall Juniper – to big to fail?!

    Viele Unternehmen speziell in der Energiebranche feiern sich ein zweites Loch in den Hintern wegen der dank künstlichen Verknappens "explodierenden" Preise und schreiben Gewinne ohne Ende. Genauso viele machen bei diesem Selbstbedienen fleißig mit und schlagen auf, obwohl teils auch da der Auftrieb zumindest in der Höhe nicht gerechtfertigt ist.

    Als Dank dafür darf man sich in schier verhöhnender Weise noch tollen Spartips geben lassen, die in ihrer Art zu Sarrazins Zeiten schon mehr als out waren und nur zeigen, wie weit weg diese Typen vom Alltag der Menschen teils sind.

    Damit sind wir am Punkt sich radikalisierender Gesellschaften. Durch diese nicht abzuschätzenden Folgen von Krisen, einer Pandemie und dem jetzigen Preisanstieg bei gleichzeitigem Verfall des Geldwerts an sich nimmt der Anteil Armer und Abgehängter zu. Der Erfolg rechter Populisten spricht Bände, die das ausnutzen, auch wenn sie nichts besser machen. Es steht also im Raum, dass die EU früher oder später so oder so daran zerbricht auch ohne einen Erfolg Russlands in diesem Krieg. Lehren aus der Geschichte am Allerwertesten, wenn die Betroffenen nur bis zur nächsten Mahlzeit denken. Der Ansatz eines Verhinderns Rechter durch das Wischiwaschi ist damit sowieso im Sack. Und dann haben wir wieder ein bis an die Zähne aufgerüstetes Deutschland, in dem sich sogar Atomwaffen befinden und eine AfD, die endlich aufhören kann, Kreide zu fressen...

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  6. Zu Russland und dem sowie den Krieg(en) selber:

    Genau da wäre es eben nicht moralisierend, wenn jeder Krieg für sich bewertet und kritisiert würde, egal ob er von einem Gegner oder Verbündeten geführt wird. Es handelt sich in allen Fällen um imperialistische Kriege, die in der einen oder anderen Weise dem Erweitern von Macht und Einfluss dienen, um dabei Zugriff auf Ressourcen und Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Ein kleiner Lichtblick in diesem von beiden Seiten aufgeladenen Krieg ist z.B. so eine Nachricht. Wer hätte es gedacht.

    Was ist jetzt am Ukraine-Krieg das wirklich Riskante aus Sicht des Westens?

    Das im Gegensatz zu den meist fern von uns geführten Kriegen der in erster Linie USA diesmal die EU direkt bedroht ist und wir uns gegenüber einem Putin nicht freikaufen können, weil eine instabile EU neben anderen Mächten auch Russland nützt? Denn dieser Aspekt treibt doch zuvörderst um und dann vielleicht die Frage nach einer demokratischen Ukraine, die aber lieber vom Westen abhängig sein soll als von Russland. Wenn wirklich die Gefahr eines autokratischen Russlands unter Putin so vorhergesehen wurde, warum wurden dann nichts unternommen, um aus der energetischen Abhängigkeit auszubrechen? Doch nicht etwa wegen der mit den billigen Rohstoffen verbundenen Profite, ohne sich um deren Produktion nach westlichen Standards kümmern zu müssen und im Glauben, dass ein so aggressives und innenpolitisch zerrüttetes Russland ewig mit ein paar "Almosen“ wie der Krim stillhält? Das Vorgehen reicht ja bis in die Ära Schröder zurück. Und statt jetzt wenigstens die richtigen Konsequenzen zu ziehen, wird lieber Atomenergie wieder salonfähig und grün, ein Lindner blökt nach Fracking uswusf. Oder wo ist da auf einmal die "Moral“ und Ethik? Ist da Leid und Sterben ebenfalls weniger wert als in der Ukraine, weil es ja nicht auf uns zurückfällt? In ganz ähnlicher Weise laviert die EU beim Umgang mit Flüchtlingen und schaut lieber weg, wenn ein weiterer Autokrat namens Erdogan Verbrechen begeht, solange er uns die Flüchtlinge vom Leibe hält. Vom Umgang mit den Beteiligten ganz zu schweigen, der das tägliche Sterben im Mittelmeer oder der Hunger und das Elend in der Dritten Welt wegen unserer Wirtschaftsweise zur Folge hat.

    Die Frage, welches Vorgehen jetzt mehr oder weniger (Kriegs)leid zur Folge hat, ist für mich daher so etwas semi und spekulativ. Das Leid ist für alle Betroffenen gleich und die Verbrechen dabei sind als solche und jedes für sich zu beurteilen. Das ist jedenfalls mein Verständnis einer Justiz, die sich nicht als die eines möglichen Siegers geriert.

    Ob ein wehrhafterer Gegner oder ein mit intensiverem Eingreifen und Liefern von mehr/besseren Waffen im Rahmen des Rechts den Angriff Russlands zeitweilig verhindert, dauerhaft verhindert oder gar nicht hinausgezögert hätte und ob ein ukrainischer "Sieg“ einen dauerhaften Frieden bewirkt? Zumindest Letzteres bezweifle ich stark bei einem politisch unveränderten Russland.

    In dieser Gesellschaftsordnung ist Krieg eine der ultima ratio und daher kann dieses Mittel auch immer zum Einsatz kommen und das selbst im vermeintlich befriedeten Europa. Es wurde nur nach dem Ende des Sozialismus als angebliches Ende gesellschaftlicher Entwicklung ähnlich unter den Teppich gekehrt wie die Tatsache einer Klassengesellschaft, die wir nach wie vor haben und die so gerne mit Phrasen wie der Schere zwischen arm und reich; solange die oben genug haben, bekommen die unten auch mehr usw. verschmiert wurde. Jetzt fällt uns der Hammer dieser Erkenntnis auf den Kopf.Dieses Deckmäntelchen verschwindet gerade und Linke haben keine Antwort darauf, während rechter Populismus triumphiert.

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