Samstag, 22. Oktober 2022

Popkulturelles

 
Ein schönes Beispiel dafür, wie Popkultur funktioniert, ist folgendes: Der berühmte New Yorker Juwelier Tiffany & Co. hat 2017 im vierten Stock ein Café eröffnet. Warum erst 2017, fragt sich da. Wenn es denen bloß ums Geld gegangen wäre, dann hätten sie das doch schon vor Jahrzehnten machen können. Ich denke, die hatten einfach keinen Bock mehr, jeden Tag Legionen von Internetopfern zu erklären, dass man bei Tiffany nicht frühstücken kann und dann doofe Tripadvisor-Kommentare zu kassieren wie: "Sind extra nach New York, um bei Tiffany zu frühstücken. Das ist gar kein Café, sondern irgend so ein Schmuckgeschäft. Drecksladen, minus 5 Sterne!!!1!11!!!".

Vor kurzem ist Fred Fussbroich mit 82 Jahren gestorben. Ich habe mit der Serie 'Die Fussbroichs' immer ziemlich gefremdelt. Mir wollte nie recht in den Kopf, was daran so spannend sein sollte, einer in jeder Hinsicht durchschnittlichen Familie beim alltäglichen Alltagsleben zuzuschauen und sich für sie fremdzuschämen. Obwohl das definitiv nie Zweck der Übung war, war mir da bei zu vielen zu viel voyeuristisches Proll-gucken und sich auf deren Kosten besser fühlen im Spiel. In dem postumen Feuilletonlob auf Freds Unverbildetheit und seinen 'natürlichen' Anstand schwingt mir zu viel von diesem bourgeoisen "Ach ja, die kleinen Leute, die wissen noch..." mit.

Da war eine Familie, die dank Doppelverdienst, günstiger Genossenschaftswohnung und später auch Fernseheinnahmen über mehr Geld verfügte als manche Akademikerfamilie, nicht aber über entsprechende Codes wie Geschmack, Lebensart und höhere Bildung. Und der das absolut scheißegal war. So orderte Fred beim Essen im Spanienurlaub ganz schmerzfrei Ähzezupp, anstatt mit lokalen Spezialitäten Weltläufigkeit zu demonstrieren. Na wenn’s doch auf der Karte steht! Das konnte man irre cool finden oder lustig - Hihi, guck mal den da! - oder peinlich berührt sein. Oder das für große Kunst halten.

Auch dass für einen sozialen Aufsteiger wie Fred sichtbare Statussymbole wie ein Mercedes ('de Benz') eine ungleich größere Rolle spielten als für Arrivierte, die Konsumverzicht gern auch zur Distinktion einsetzen, wird für den einen oder anderen Lacher gesorgt haben. Oder wie Ehefrau Annemie, obwohl als Angestellte im öffentlichen Dienst vom beruflichen Status her über ihm, ganz im tradionellen Rollenverständnis von ihm belehrt und dominiert wurde.

'Die Fussbroichs' mag tatsächlich eine Pionierleistung des Reality-TV in Deutschland gewesen sein. Doch ist es anzunehmen, dass das, was kurz darauf televisionär über uns kam auch ohne den gefilmten Alltag einer Kölner Arbeiterfamilie über uns gekommen wäre. Wie ich auch immer skeptisch bin, wenn es heißt, inszenierte 'Realität' liefere mehr an Erkenntnisgewinn als jede Fiktion. Die griechischen Tragödien waren maximal entfernt von jeder 'Realität': Maskierte Schauspieler deklamierten da im hohen Tone Verse mit Versmaß. Und sind auch nach 2.500 Jahren noch relevant.

Vielleicht lässt der Erfolg der 'Fussbroichs' sich auch damit erklären, dass diese Familie emblematisch stand für die zentrale Verheißung der alten BRD West: Dass man alle Vorzüge des Kapitalismus haben konnte, ohne dessen Schattenseiten in Kauf nehmen zu müssen. Dass jemand, der ein, zwei Generationen zuvor noch Proletarier gewesen wäre, als gewerkschaftlich organisierter und tariflich abgesicherter Facharbeiter in die Mittelschicht aufsteigen konnte. Sohn Frank wollte noch höher hinaus, konnte den Anspruch nicht einlösen und glitt ab in die Kleinkriminalität. Auch das kann man, wenn man mag, allegorisch ausdeuten.

Laut meines Textverarbeitungsprogramms waren das jetzt 322 Wörter über eine Fernsehserie, die mich doch eigentlich kaum interessiert hat. Auch so geht Popkultur. Maach et joot, Fred!






6 Kommentare:

  1. Im ZEIT-Artikel habe ich gelesen, dass die Regisseurin und Autorin die Serie als Konsumkritik bzw. Sozialkritik angelegt hatte. Ist mir, trotz einschlägigem Studium, nie aufgefallen. Ich war in den 90ern mit einer Kölnerin zusammen haben wir das innovative Trash-Format einfach als Unterhaltungsprogramm genossen, so wie später das Dschungelcamp. Denken und Fernsehen hat doch gar nichts miteinander zu tun, oder? #Lanz #Precht #DSDS #GNTM uswusf.

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  2. "... dass die Regisseurin und Autorin die Serie als Konsumkritik bzw. Sozialkritik angelegt hatte."
    Das stimmt — allerdings nur die allererste Folge. Dort sollte eigentlich nur das Problem "zu viele Spielzeuge in deutschen Kinderzimmern" thematisiert werden.

    Gruß
    Jens

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  3. Was mich immer mehr nervt: Wenn Unterhaltungsfilme und -Serien zum Erziehungsfernsehen mutieren. Beispiel: Durch junge und sympathische Schauspieler wird veganes Essen gekocht und empfohlen, während ältere, hinterwäldlerische und unsympathische Darsteller das vegane Essen kritisieren müssen.
    #Wilsberg

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  4. Ja, den Artikel habe ich auch gelesen;)

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  5. Ich habe die späten Folgen zu Beginn meines Studiums genossen und "Da kannze nich nach Schwitze riechen!" ist ebenso hängengeblieben wie Annemie in Florida, die sich vorstellt mit "My name is enemy". Aber die Serie war weit entfernt von scripted reality und RTL2-Trash.
    Gute Reise, Fred! Und Annemie und Frank gutes Erinnern.

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