Freitag, 25. November 2022

Schmähkritik des Tages (63)

 
Heute: Stefan Reinecke über Friedrich Merzens Sieg über das Bürgergeld

"Friedrich Merz behauptet, dass die Union den »Kern des Bürgergeldes« zerstört habe. Die CSU, die in der Debatte durch besonders unschöne Hetze gegen Arbeitslose auffiel, klopft sich auf die Schulter und bescheinigt sich, »schwere Systemfehler« beim Bürgergeld gestoppt zu haben. Wenn man recht versteht, hat die Union mit ihrem tapferen Widerstand gerade noch so verhindert, dass die Mittelschicht in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar ihre Jobs kündigt und es sich in der sozialen Hängematte gemütlich macht. Wer sich so wuchtig selbst lobt, scheint es nötig zu haben." (taz, 22. November 2022)

Anmerkung: Es mag zynisch klingen, aber Merz hat, ohne ihn hier freilich unnötig loben zu wollen, exakt das gemacht, worum es in der Politik geht. Schwachstellen des politischen Gegners offenlegen, politische Stimmungen aufnehmen und dann punkten. Das mag man angesichts der Tatsache, dass es hier um diejenigen geht, die eh am wenigsten haben, verwerflich und/oder unmoralisch finden, aber so funktioniert Politik nun einmal.

Was Merz begriffen hat: Sanktionen gegen Leistungsempfänger sind bis weit ins Kleinbürgertum und die Restarbeiterschaft hinein durchaus beliebt. Es ist nur eine Beobachtung, aber in meinem werktätigen Umfeld wird das geplante Bürgergeld nicht eben freudig begrüßt. Im Gegenteil, auch Menschen um mich herum, die ich immer für sozial eingestellt gehalten habe, empören sich über diese vermeintliche Einladung, sich in die o.g. soziale Hängematte zu legen und fragen rhetorisch, wieso sie dann überhaupt noch arbeiten göngen.

"Das Hartz-IV-Sanktionsregime ist sehr populär [...]. Es ist gleichzeitig völlig ineffizient und kontraproduktiv. Das »means testing« in den USA etwa schafft Monsterbürokratien und kostet wesentlich mehr Geld als es potenziell sparen könnte, aber praktisch keine Mehrheit für eine Sozialmaßnahme ist ohne eine eingehende Prüfung der finanziellen Verhältnisse der Empfänger*innen vorstellbar. Armen Menschen werden entwürdigende Maßnahmen aufgebürdet und ihr Recht auf Privatsphäre wird praktisch aufgehoben, nicht weil es sinnvolle Politik wäre, sondern weil die Gesellschaft möchte, dass der Empfang dieser Leistungen mit einem Preis verbunden ist, einer Strafe." (Stefan Sasse)

Argumente wie das, dass vielfach mit falschen Zahlen gearbeitet wird, verfangen da nur zum Teil. Und sind auch nicht immer so stichhaltig wie sie scheinen mögen. Dass noch der geringste Geringverdiener mit Erwerbsarbeit mehr hat als mit Bürgergeld mag ja stimmen. Was aber bringt es, einen Job anzutreten, für den man rechnerisch, sagen wir, 150 Euro netto über Bürgergeld bekommt, man aber pendeln und 120 Euro für eine Monatskarte oder 200 Euro für Sprit ausgeben muss? Klar, das kann man sich im Folgejahr zum Teil über die Steuererklärung wiederholen. Aber was bringt das, wenn man aufgrund absurd gestiegener Lebenshaltungskosten eh nur von Monat zu Monat rechnen kann?

Über den rosa Elefanten im Raum spricht interessanterweise kaum jemand: Dass zwar die Hartz IV-Regelsätze seit 2005 regelmäßig an die Inflation angepasst wurden (weswegen auch die Erhöhung um gut 50 Piepen ab 2023 bei im Schnitt 10 Prozent Inflation in 2022 bloß ein Inflationsausgleich ist), die Löhne und Gehälter hingegen nicht in gleichem Maße. Und das auch nicht werden. Weil Gewerkschaften sich nach wie vor mit Mogelpackungen abspeisen lassen und weil große Teile der hiesigen Kleinbourgeoisie immer noch auf der Seite des Kapitals sind und auf die Wehklagen von Kapitalisten einsteigen, die über unverschämte Lohnforderungen jammern.  

Dass die CDU das ausnutzt, kann man ihr schwerlich zum Vorwurf machen. Ob und inwieweit man das christlich nennen kann, steht freilich auf einem anderen Blatt.








6 Kommentare:

  1. "Ob und inwieweit man das christlich nennen kann, steht freilich auf einem anderen Blatt."
    ... den Begriff "christlich" wählte man damals aus reinem Machtkalkül. Das hat so gesehen nix mit Kirche und so zu tun. Wären fast alle Deutschen, sagen wir Angler, hätten die Parteigründer diesen Begriff mit in den Parteinamen aufgenommen.

    Gruß
    Jens

    AntwortenLöschen
  2. Was zum Thema Bürgergeld in meinem Bekannten- und Freundeskreis geäussert wird, ist partiell zum Fremdschämen, das neoliberale Gift wirkt.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, so sieht das aus...
      @Jens: Es ging auch darum, eine Nachfolgeorganisation für das abgehalfterte (katholische) Zentrum zu finden, und so gab man sich ökumenisch - damals ein Riesenschritt.

      Löschen
  3. "und so gab man sich ökumenisch" — yepp, so wars, haste Recht!

    Gruß
    Jens

    AntwortenLöschen
  4. Selbst Steuer wird an die Inflation angeglichen (Gratismental?)
    SGB Regelsatz seit 2005 um ca 30% erhöht (mehr nicht, dem Steuerfreibetrag geschuldet), der Grundgreibetrag "Hinzuverdienst" für ALG2 dagegen nicht, heisst, man darf etwa 30% weniger anrechnungsfrei hinzuverdienen, als noch 2005.
    Steuerrückzahlungen werden, wie auch Erbe, als Einkommen angerechnet.
    Warum wird eigentlich Erbe im Steuerrecht nicht als Einkommen, sondern als Vermögen betrachtet?

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.