Sonntag, 4. Dezember 2022

Neues von Iwan - wer ist das Opfer?


"Denn was habe Russland seinen einfachen Bürgern zu bieten außer der Vorstellung, Angehöriger einer besonderen Gemeinschaft zu sein, die sich permanent gegen äußere Feinde verteidigen muss? Namentlich gegen den dekadenten Westen, der, so die Propaganda, sich die Ukraine geschnappt hat und nichts dagegen hätte, auch Russland in ein dekadentes, von homophilen Schwachköpfen regiertes Land zu verwandeln, »in dem bereits kleine Kinder zur Geschlechtsumwandlung gezwungen werden«." (Pawel Filatjew)

Vielleicht muss man manchmal das Undenkbare denken. Etwa, dass Russ:innen grosso modo nicht blöder sind als der Rest der Welt und nur ein kleinerer Teil von ihnen auf Quatschpropaganda hereinfällt, wie sie der russische Ex-Soldat Pawel Filatjew da schildert. Wenn dem so ist, dann sollte das aber auch für Ukrainer:innen gelten. Vielleicht haben die einfach mal gen Westen über die Grenze geguckt und gesehen, wie die Menschen dort leben, und dann gen Osten und haben verglichen. Und sind dann mehrheitlich ganz von selbst auf die Idee gekommen, dass eine Orientierung nach Westen irgendwie cooler wäre, ohne dass es dazu finsterer, von George Soros und aus Washington orchestrierter Propaganda- und Gehirnwäschekampagnen und/oder des Terrors ukrainischer Nazis bedurft hätte.

(Für viele Durchblicker immer noch ein völlig abwegiger, ja undenkbarer Gedanke: Dass der westliche Gesellschafts- und Lebensentwurf, der doch tagtäglich von ihnen als einziger Abgrund an Ausbeutung, Verlogenheit und Imperialismus entlarvt wird, vielen Menschen auf der Welt, bei allen offenkundigen Schwächen und Webfehlern, immer noch ziemlich verlockend erscheint. Unmöglich! Wie können die nur?)

Dass derzeit viel die Rede ist vom Holodomor, bei dem zwischen 1932 und 1933 geschätzte vier bis fünf  Millionen Ukrainer an Hunger starben, ist kein Zufall. Solange die Ukraine Teil der Sowjetunion war, wurde darüber nicht groß geredet, von wegen große sozialistische Völkerfamilie, die sich immer nur lieb hat und so. Darüber, dass der Holodomor stattfand, gibt es kaum Kontroverse. Lediglich über die Frage, ob es sich um einen gezielt ins Werk gesetzten Völkermord gehandelt hat oder ob die Toten billigend in Kauf genommen wurden, herrscht noch Uneinigkeit.

Klar scheint auch, dass Moskau keinerlei Gegenmaßnahmen ergriff, weil Stalin die Hungersnot für seine Zwecke nutzte: "Die Hungersnot war, so zynisch das klingt, unter herrschaftspraktischen Aspekten unglaublich effizient. Sie brach Widerstände, disziplinierte die Bevölkerung und machte klar, wer die Macht über Leben und Tod hatte.", wie es Robert Kindler formuliert. Weil ich nicht allzusehr im Thema bin, mag ich mich da nicht festlegen. Aus der Draufsicht erscheint das so, dass man ukrainischerseits anlässlich des Gedenktages am 26. November der russischen Erzählung, ein Opfer des Westens zu sein, die eigene Erzählung entgegensetzt, dass die Ukraine schon früher ein Opfer Moskaus gewesen ist. Mit dem Unterschied, dass die ukrainische durchaus auf historischen Fakten beruht.

Was die Resolution des Bundestages angeht, die den Holodomor offiziell als Völkermord einstuft, sollte man bedenken, dass unter die UN-Definition für Genozid nicht nur aktives Morden fällt, sondern u.a. auch "das Kreieren von Umständen, die ein Überleben unmöglich machen". Wozu auch vorsätzlich herbeigeführter, massenhafter Hungertod gehört. Hier und da war zu hören, durch die Resolution werde die Shoah profaniert und deren Opfer verhöhnt. Wenn das der Fall wäre, dann hätte die jüdische Community bzw. deren Organe da eigentlich protestieren müssen. Davon war aber eher wenig zu bemerken.

Wie dem auch sei, spülte mir mein treuer Browser mir die Tage beim Öffnen eines neuen Tabs einen Link zu RT Deutschland auf den Desktop (ich dachte immer, das wäre totenverboten, gesperrt und überhaupt, weil Diktatur und so). Ein gewisser Anton Gentzen macht sich daran, die westlichen Lügen über den Holodomor zu zerlegen. Und das ist, trotz des traurigen Anlasses, pures Comedy-Gold.

Merke:

"Die UdSSR in den Jahren 1932 und 1933 war keine Wildnis, in der man einfach so verschwand und dies unbemerkt bleiben konnte, sondern ein durch und durch bürokratisiertes Land. Jede Geburt und jeder Todesfall wurden von staatlichen Stellen registriert. Es ist unmöglich, dass Millionen Todesfälle nicht erfasst worden wären." (Gentzen, a.a.O.)

Ähh, auch NS-Deutschland war meines Wissens "ein durch und durch bürokratisiertes Land", in dem jede "Geburt und jeder Todesfall [...] von staatlichen Stellen registriert" wurde. Ferner versuchte man meines Wissens, den industriellen Massenmord der Shoah ab Ende 1941 geheim zu halten. Wäre es demnach ein Argument, wenn man sagte, die Shoah könne gar nicht stattgefunden haben, weil die ganzen Todesfälle nicht in irgendwelchen Dokumentationen erfasst wurden?

Sind alle Herero und Nama, die das deutsche Kolonialregime in Deutsch-Südwestafrika ab 1904 in den Tod getrieben hat, namentlich erfasst worden? Nein? Hat der Genozid demnach gar nicht stattgefunden? Sind alle Todesopfer des GULAG säuberlich erfasst worden? Nicht? Dann handelt es sich wohl um westliche Propaganda und niemand ist jemals in einem der Lager ums Leben gekommen.

Kreativ auch dies hier:

"Die sowjetische Regierung führte gerade in jenen Jahren mit Volldampf eine Industrialisierung des Landes durch und brauchte dafür Millionen Arbeiter sowie Millionen Soldaten für den bevorstehenden Weltkrieg." (Ebd.)

Welcher bevorstehende Weltkrieg? Wusste Stalin demnach schon 1932, dass Hitler unangefochtener Diktator Deutschlands werden, die Wehrmacht massiv aufrüsten und sich bald daranmachen würde, einen ausgewachsenen Weltkrieg vom Zaun zu brechen und in die Sowjetunion einzufallen? Ein Prophet, kein Zweifel. Oder heißt das, dass Stalin am Ende selbst vorhatte, einen vom Zaun zu brechen? Wir erfahren es nicht. Fragen über Fragen. Darüber hinaus gibt es noch jede Menge konfuses Demografiegetrickse. Es wird eine Studie als noch am ehesten seriös angeführt, der dann einen Abschnitt weiter grobe methodische Fehler vorgeworfen werden etc. etc.

Und schließlich:

"Dass sich eine Katastrophe anbahnt, war zu dem Zeitpunkt noch nicht absehbar: Sie sollte erst erkennbar werden, als im Spätsommer und Herbst selbst das Ausgesäte nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig abgeerntet wurde. Nun war die lokale KP, deren Führer genauso wenig Russe war wie Stalin, vollends davon überzeugt, es mit bäuerlicher Sabotage zu tun zu haben. Die lokalen Bürokraten trauten sich nicht, den erneuten Ausfall, der selbst gegenüber den mehrfach reduzierten Vorgaben eingetreten war, »nach oben« zu melden, denn er würde unweigerlich als ihr eigenes Versagen, gar als ihre eigene Sabotagehandlung gewertet werden." (Ebd.)

Ja watt denn nu? Erst gab es gar keine Katastrophe, sondern alles war bloß ein Missverständnis wegen böswillig falsch interpretierter  - wink, wink! - Übersterblichkeit (wie kann das passieren in einem "durch und durch bürokratisierten Land"?), dann doch wieder eine, für die aber keiner was konnte, weil doof gelaufen halt.

Nee, echt.






6 Kommentare:

  1. "Die sowjetische Regierung führte gerade in jenen Jahren mit Volldampf eine Industrialisierung des Landes durch ,,,"
    Genau so war es aber. Man hatte erkannt, dass die Niederlage 1917 unter anderem auf die mangelhafte Industrialisierung zurück zu führen war.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Wolgogradski_Traktorny_Sawod

    Diese Industrialisierung wurde mit Weizen bezahlt; sonst hatten sie nix.

    Gruß
    Jens

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  2. ... und hier steht es auch:
    https://dlf.uzh.ch/sites/stalindigital/2021/09/06/industrialisierung/

    Gruß
    Jens

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  3. Sicher würde es den Rahmen der Kommentarspalte sprengen, den Text sorgfältig auseinander zu nehmen. Daher nur wenige Beispiele:

    1. Die Attraktivität des westl. Gesellschafts- und Lebensentwurfs ist deshalb für viele attraktiv, weil es Ihnen in ihrer Heimat so richtig dreckig geht. Im übrigen ein beliebtes rechtes Argument, das in Klammern.

    2. "Wusste Stalin demnach schon 1932, dass Hitler unangefochtener Diktator Deutschlands werden, die Wehrmacht massiv aufrüsten und sich bald daranmachen würde, einen ausgewachsenen Weltkrieg vom Zaun zu brechen und in die Sowjetunion einzufallen?" Möglich, dass er Hitlers "Mein Kampf" gelesen hat und dort nachlesen konnte, was auf den "Ostraum" zukommt.

    3. UN-Definition für Genozid: "Nicht nur aktives Morden fällt darunter, sondern u.a. auch "das Kreieren von Umständen, die ein Überleben unmöglich machen". Oh. Ganz dünnes Eis Stefan. Nach Angaben der Welthungerhilfe stirbt alle 13 Sekunden auf der Welt ein Kind an Hunger, während im deutschen Wertewesten jählich Mio. Tonnen an genießbaren Lebensmitteln auf dem Müll landen. (Strukturelle Gewalt tötet effektiver. )

    4. Die Geheimhaltung des Massenmordes durch die Nazis ist ein Märchen. Literaturtipps: "Niemand war dabei und keiner hats gewußt" Hrsg. Jörg Wollenberg, Serie Piper. "Hingeschaut und - Hitler und sein Volk" Robert Gelately, DVA (Bestseller 2002).

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    1. Schon klar. Stalin war unschuldig und Putin ist das Opfer.
      1. Das mag sein. Kleiner Tipp: Gucken Sie mal nach China. Da ging es bis vor ca. 30 J. auch vielen noch sehr dreckig. Ist sicher auch bloß ein rechtes Argument.
      2. Dann war Stalin einer der wenigen, der MK wirklich ernstgenommen hat. Vielleicht hegte er am Ende selbst Expansionspläne?
      3. Lassen Sie das auch für Länder gelten, in denen diktatorische Regimes Hungersnöte billigend in Kauf nehmen?
      4. Dass die Nazis die Shoah möglichst geheim halten wollten (aber es nicht geschafft haben), ist ebenso evident. Befassen Sie sich dazu bitte mit der Aktion Reinhardt''.

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  4. Es ist immer wieder lustig, wie krampfhaft die Putinisten einen Völkermord leugnen, den Putin gar nicht begangen hat. Das erinnert mich an die Nazis, die auch 2022 noch den Holocaust leugnen :o)))

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  5. Warum "Ukrainer:innen" aber "ukrainischer Nazis" und warum von 1932-33 nur "Ukrainer"?

    Sind nur Männer verhungert oder gab es damals nur das Maskulinum?

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