Donnerstag, 19. Januar 2023

Bildungscontent, mittelalt


Das Mittelalter hat nicht den besten Ruf. Nicht selten wird es immer noch mit dem Attribut 'finster' belegt. Dabei gerät oft außer Acht, dass die Wahrnehmung des Mittelalters vor allem durch die Renaissance geprägt wurde (allein die Bezeichnung ist eine Fremdzuschreibung -- kein Mensch, der zwischen dem 6. und dem 16. Jahrhundert lebte, hätte 'seine' Epoche so genannt). Man wollte eine Brücke schlagen zur gloriosen Antike und sich abgrenzen von den als primitiv gesehenen Jahrhunderten zuvor. Auch das 19. Jahrhundert, in dem das Mittelalter zur bloßen Vorgeschichte des Deutschen Kaiserreichs gemacht und deutschnationalisiert wurde, war eher wenig hilfreich.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich das Mittelalter im Studium sowohl philologisch als auch historisch eher mit spitzen Fingern angefasst habe. Die Antike hat den Vorteil, dass die Quellenlage in Puncto Textquellen vergleichsweise übersichtlich ist. Ab der Neuzeit dann wird es immer vielgestaltiger. Aber auch näher dran. Erschließt sich leichter. Einen Trumm wie 'Parzival' mit seinen 25.000 Versen - m.W.n. der dickste einzelne Brocken der deutschsprachigen Literaturgeschichte - muss man erstmal stemmen. Auch die ganzen lateinischen Urkunden und Handschriften machen es einem nicht leicht. Als ich das erste Mal in der Bibliothek vor dem imposanten MGH-Regal stand, dachte ich, trotz Latinum im Gepäck: "Willst du wirklich...?" Und kam mir sehr klein und dumm vor.

Dabei ist das Mittelalter durchaus populär. Es gibt Reenactment, es gibt Mittelaltermärkte allüberall, man kann Ritteressen buchen und -- Es wird jede Menge Schwachsinn erzählt und verbreitet übers Mittelalter. Nicht weniges davon so hanebüchen, dass das sogar mir als eher Nicht-Experte (s.o.) direkt ins Auge fällt. Nicht ganz unschuldig daran ist das Fernsehen, öffentlich-rechtlich wie privat, in denen andauernd irgendwelche 'Dokus'  laufen, die man höflich als 'von unterschiedlicher Qualität' bezeichnen kann. Aber auch die Lehrpläne im Fach Geschichte in den Schulen. Da kann man froh sein, wenn irgendwo zwischen Antiken Hochkulturen, Französischer Revolution und Zweitem Weltkrieg noch Dreifelderwirtschaft und Ständepyramide drankommen.

Schaut man sich populäres Wissen über das Mittelalter an, dann stößt man unter anderem auf so was:

Die haben - ihhh! - mit den Fingern gegessen (stimmt zum Teil, aber das tut man in Teilen Indiens und Afrikas bis heute, ohne dass das jemand unzivilisiert findet) und hatten auch sonst keinerlei Tischmanieren (Quatsch).

Die haben damals im Sitzen geschlafen (nö).

Die Menschen wurden nicht älter als 30, 35 Jahre (nein, nur wenn man die hohe Kindersterblichkeit mitrechnet, aber die gab es bis ins 19. Jahrhundert).

Im Mittelalter haben sie überall hingeschissen (wohl nicht) und in den Städten kippte man den Nachttopf einfach aus dem Fenster (nein).

Es wurden Ketzer (stimmt) und Hexen (stimmt nur zum Teil) verbrannt.

Die Kirche kontrollierte jeden Aspekt des Lebens (nein, in den Klöstern sicher).

Die allermeisten Menschen waren bettelarm und ernährten sich von trockenem Brot und Getreidebrei (nein, kann man so nicht sagen).

Alles, was irgendwie akzeptabel war, kam entweder von den alten Römern (was genau, wird meist nicht erwähnt) oder wurde bei den Kreuzzügen aus dem Nahen Osten importiert (nein, es gab schon vorher regen Fernhandel und Kulturaustausch)

Und so weiter und so fort.

Warum erzähle ich das hier? Weil ich einen YouTube-Kanal ans Herz legen will, nämlich 'Geschichtsfenster' von Andrej Pfeiffer-Perkuhn. Andrej ist nicht nur vom Fach und ein Kenner der Quellenlage, sondern auch ein hervorragender Erzähler und Vermittler. Hat mir in den letzten Wochen eine anregende Zeit bereitet und mein Interesse für diese von mir so schändlich stiefmütterlich behandelte Epoche wieder geweckt. Sehr schön finde ich immer seine Reaktionsvideos. Etwa das hier, wo er sich anschaut, was so auf TikTok übers Mittelalter verzapft wird (darüber, was für eine Reichweite so was hat, sollte man vielleicht besser nicht nachdenken).


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11 Kommentare:

  1. Tja, bei den MGH hatte ich leider keine Wahl -- ich musste die aber nur katalogisieren und nicht lesen. :-D
    Mit diesem Mammutwerk kann man gut das Katalogisieren verschachtelter mehrbändiger Werke mit ihren Unter-, Unter- und Unterunterreihen lernen.

    Neben dem Geschichtsfenster (ich kann die Videos von Andrej leider nicht mehr gucken, weil ich ständig Angst habe, dabei zusehen zu müssen, wie er vor laufender Kamera einen Herzinfarkt erleidet) möchte ich noch dieses bescheidene Blog zum Thema empfehlen:
    https://inforo1300.wordpress.com/

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  2. ... das Mittelalter wird z.B. in Großbrittanien als "The Dark Centuries" bezeichnet. Im Stern gab es einen Beitrag, welcher sich auf dieses Buch bezog: The First Kingdom: Britain in the age of Arthur.
    Also zumindest auf der Insel wars wohl nicht so lustig ...

    Gruß
    Jens

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    1. Vorsicht, das mit den 'Dark Centuries' bezieht sich meines Wissens darauf, dass da nach dem Abzug der Römer politisch ein Vakuum und wohl auch ziemliches Chaos herrschte, u.a. weil die schottischen Pikten mangels römischen Garnisonen nicht mehr an ihren Raubzügen gehindert wurden und noch die Angeln, Jüten und Sachsen um die Ecke kamen. In puncto Lebensstandard und Alltagsleben kann man davon ausgehen, dass die römische Infrastruktur nicht verschwand, sondern weiter genutzt wurde.

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  3. Siewurdengelesen20. Januar 2023 um 12:03

    Das Mittelalter ist m.E. trotz der vergleichsweise guten Quellenlage im Gegensatz zur menschlichen Frühzeit und Ähnlichem eine der verkanntesten Epochen schlechthin. Da wird viel Anekdotisches für bare Münze und allgemein gültig angenommen, was sich bei genauerem Hinsehen oft nicht halten lässt. Vieles wurde eben im Volk nur mündlich nach dem Prinzip stille Post verbreitet und daran ist zu sehen, dass die sozialen Medien auch da schon genauso nicht funktioniert haben wie heute;-)

    Das ist auch an Jens´ Kommentar wieder zu spüren. Das Mittelalter bestand auch auf der Insel nicht nur aus der Ära King Arthurs und leider ist siehe oben der Alltag viel weniger präsent als die ganzen kriegerischen Auseinandersetzungen und Fehden, die eben auch künstlerisch mehr thematisiert wurden. Andererseits sollte einem doch klar sein, dass eine Zeitspanne von mehreren hundert Jahren nicht nur und nicht vorrangig aus Kreuzzügen, Eroberungen und dergleichen mehr bestanden haben kann.

    Das lässt sich sogar bis heute nachvollziehen, denn ist das 20.Jahrhundert Thema, dann dominieren wahrscheinlich subjektiv die in Summe 10 Jahre der beiden Weltkriege zwangsläufig das Wahrnehmen, während die "restlichen" 90 Jahre mit ihren zwar auch gesellschaftlichen Konflikten, aber auch vielen Fortschritten nicht ansatzweise diese Fülle an Aufmerksamkeit erreichen und da gab es so viel mehr. Genauso lässt sich das auch für das Mittelalter festhalten und auch da gab es große Leistungen alleine beim Bau.

    Für mich ist das sowieso eine "Unart", vergangene Zeiten grundsätzlich als primitiv, dumm und wie hier finster anzusehen, statt die Leistungen der damaligen Menschen an ihren Notwendigkeiten abzugleichen. Teils hatten die damals schon mehr drauf als wir in Summe, aber eben anders.

    Ich finde das "Geschichtsfenster" jedenfalls sehr unterhaltsam und auf diese Weise dennoch lehrreich, auch wenn der Macher teils ganz ordentlich rantet;-)

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    1. Wie es natürlich genauso ein Fehler ist, vergangene Epochen zu glorifizieren.

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    2. Siewurdengelesen20. Januar 2023 um 13:20

      Egal ob Mittelalter oder Anderes: Wenn so etwas "bierernst" praktiziert wird, kann es nur schiefgehen;-)

      Die Menschen hatten durch alle Epochen neben dem ganzen Geschichtsträchtigen genau wie wir heute meistens Alltag. Deswegen heisst der vermutlich auch so und ist natürlich medial weit weniger aufsehenerregend und damit berichtenswert.

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  4. Mit den Fingern essen - ich habe bisher noch nie im Vorbeigehen bei MCD Fastfoodkette jemanden seine Hühnernuggets und Pommes mit Messer und Gabel essen sehen.

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  5. @Siewurdengelesen
    ... das erwähnte Buch resp. der Stern-Artikel kaprizieren sich halt auch auf die von dir genannten Elemente: Wegfall der (römischen) Ordnung, nachfolgender Zerfall und Streit ethnischer Gruppen — wieso muss ich da eigentlich an Syrien, Irak und den Balkan denken ... daraus ergeben sich dann halt zwangsläufig schlechte Lebensbedingungen für die "Normalen Leute".

    Gruß
    Jens

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  6. "Hexen" (selten). Mit großem Fragezeichen. Anna Göldi (auch Göldin, weibliche Form; * 24. Oktober 1734 in Sennwald, heute im Kanton St. Gallen) war eine der letzten Frauen, die in Europa der Hexerei beschuldigt und hingerichtet wurden. Es war die letzte legale Hexenhinrichtung und rief europaweit Empörung hervor.

    Während des Zweiten Weltkriegs wird in London eine 46-jährige Frau wegen Hexerei verurteilt: Helen Duncan, Hausfrau und Mutter, angebliches Medium und Geisterbeschwörerin. Sie saß 9 Monate im Gefängnis.

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    1. Verzeihung, die Rede ist hier vom Mittelalter. An dessen Ende kam es in der Tat zu den ersten Hexenprozessen und auch vereinzelten Verbrennungen. Da ist mit dem 'Hexenhammer' auch die theoretische Grundlage entstanden. Ein entscheidender Faktor aber war die Ablösung des (germanischen) Akkusationsrechts durch das in der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 kodifizierte römische Recht. Man kann also sagen: Die Hexenverfolgungen nahmen ihren Anfang im (sehr) späten Mittelalter und fanden zum großen Teil in der frühen Neuzeit bis etwa ins 18. Jahrhundert statt.

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  7. Auch interessant (Video): Im 15. Jahrhundert war der pro-Kopf-Fleischkonsum wohl höher als heute.

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