Rammelstein

"Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus zwei Arten von Männern, aus solchen, die sagen, irgendwo sei eine Lasterhöhle ausgehoben worden, und solchen, die bedauern, die Adresse zu spät erfahren zu haben." (Karl Kraus)

Angeblich soll Till Lindemann, Frrrontmann der Rrrumms-Rrrocker Rrrammstein, sich systematisch junge Frauen für sexuelle Handlungen hat zuführen lassen. Den Interessentinnen soll aber vorab klargemacht worden sein, dass der Zugang zu Konzert und Party nur bei ausdrücklichem Interesse an Geschlechtsverkehr mit Till Lindemann gewährleistet sei. Das kann man selbstredend geschmacklos finden, unromantisch und/oder generell scheiße, da eventuell nicht deckungsgleich mit dem eigenen Verständnis von Liebe/Sexualität/Romantik. Solange aber kein Zwang stattgefunden hat und keine Gewalt im Spiel war, dann ist das nicht verboten und geht in Ordnung.

(Die Frage, ob Sex mit Lindemann etwas Erstrebenswertes ist, muss freilich ein/e jede/r mit sich selbst ausmachen.)

Hier könnten meine Überlegungen enden, denn viel mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Vielleicht aber doch.

Was bitte sehr haben die Damen denn geglaubt, wenn Ihnen mitgeteilt wird, sie sollten sich möglichst sexy anziehen und es müsse okay für sie sein, dass der Till bei ihnen eventuell noch einen wegstecken will? Dass dann Mau Mau gespielt und über Sartre und den Weltfrieden diskutiert wird? Dazu Zimtschnecken, Hagebuttentee und Lakritztaler gereicht werden? Und um 22:00 Uhr das Licht ausgemacht wird und alle in ihren eigenen Betten liegen? Einen romantischen Heiratsantrag? Verzeihung, wie viel Willenserklärung braucht es noch?

Ferner weiß man: Nach aktuellem Kenntnisstand soll Lindemann jederzeit ein Nein akzeptiert haben, wenn auch vielleicht nicht unbedingt begeistert. Soweit bekannt, waren alle beteiligten Frauen zum Zeitpunkt des Geschehens volljährig. Hatten das Wahlrecht, durften Auto fahren und einen Waffenschein beantragen. Und eben ihre Sexualpartner frei wählen. Alles Weitere, zum Beispiel die Frage, ob da ein Ehe-/Lebenspartner, Freund o.ä. betrogen wurde, müssen die unmittelbar Betroffenen tunlichst selbst miteinander ausklabustern und niemand anderes.

Und wenn in der taz mal eben behauptet wird, den "Opfern" sei unbedingt zu glauben, da falsche Vergewaltigungsvorwürfe "extrem selten" seien, dann sollte man dazu erstens anmerken, dass der Vorwurf der Vergewaltigung gar nicht im Raum steht (auch Shelby Linn, deren Tweets die Sache erst ins Rollen brachten, legt großen Wert darauf, nicht vergewaltigt worden zu sein). Zweitens kann man einwenden, dass seriösen Quellen zufolge mindestens 40 Prozent aller Vergewaltigungsvorwürfe falsch sind. Vielleicht habe ich auch nur andere Vorstellungen davon, was "extrem selten" bedeutet. Mag sein.

Fassen wir zusammen. Da gibt es Frauen, die sich aus Gründen, die wahrscheinlich allein sie selbst zu verantworten haben, auf etwas eingelassen haben, das ihnen später unangenehm, peinlich o.ä. ist. Der Unterschied zu den Fällen Wein-/Epstein ist der, dass der materielle Anreiz lediglich in freiem Eintritt zum Konzert und zu einer Party bestand und den (allesamt erwachsenen) Frauen vorab klar gemacht wurde, was von ihnen erwartet wird. Ein Nein hat ihnen, so weit man das beurteilen kann, keinerlei Nachteile gebracht. Außer dass sie ihre Konzertkarte selbst hätten bezahlen müssen, sie schlechtere Plätze gehabt und eine Party verpasst hätten. Fürwahr, eine perfide Missbrauchsmaschinerie!

Möglich auch, dass welche sich gedacht haben werden, ach komm, ist bestimmt alles nur Gerede, außerdem ist der Till eh ein alter Sack, der kriegt bestimmt keinen mehr hoch! Nicht auszuschließen, aber auch das wäre dann allein das Problem der Betreffenden.

Sicher, man kann einwenden, Lindemann habe sich gezielt seinen Rockstar-Nimbus zunutze gemacht. Ja, hat er wohl. Andererseits: Gäbe es keine Frauen, für die es, warum auch immer, eine reizvolle Vorstellung ist, in ihnen stecke ein großer Poppmusiker, dann hätten auch Serienrammler wie Lindemann deutlich weniger Erfolg. Die Evolution kann da sehr gnadenlos sein. Die alte Frage nach dem Huhn und dem Ei eben.

Weinstein, Epstein, Rammelstein -- ein Muster? Wohl nicht.

Dann ist da noch die erlesen bescheuerte Frage, ob man es denn nicht geahnt haben könnte. Wo Till Lindemann doch immer so schlimme Texte und Gedichte geschrieben hat. Nicht umsonst ist ja die Frage nach dem autobiographischen Gehalt von Kunst die Lieblingsfrage all jener Schmalspurintellektuellen, deren hermeneutischer Werkzeugkasten eher überschaubar ist, deren Menschenbild innerhalb schlichter Ursache-Wirkung- bzw. Input-Output-Schemata funktioniert, denen ernsthafte Analyse zu anstrengend ist und die auch sonst keine Lust haben auf Abstraktion.  

Es gibt ein lyrisches Ich und ein Autoren-Ich. Beide können miteinander zu tun haben, müssen aber nicht. Das sollte man idealerweise im Deutschunterricht ab Klasse 9 mal gelernt haben. Nicht so vermutlich Kerstin Gleba, Leiterin des Verlages Kiepenheuer und Witsch, wo Lindemanns Lyrikbände verlegt werden. Nachdem man seitens des Verlages nun Kenntnis erlangt hatte, dass Lindemann 2020 bei einem, wie es heißt, "Gewaltporno" mitgewirkt hat, in dem Frauen angeblich schlimme Dinge angetan werden, beendete sie die Zusammenarbeit mit Lindemann und ließ folgende Erklärung herausgeben:

"[...] Wir verteidigen aus voller Überzeugung die Freiheit der Kunst. Durch die Frauen demütigenden Handlungen Till Lindemanns im besagten Porno und die gezielte Verwendung unseres Buches im pornographischen Kontext wird die von uns so eisern verteidigte Trennung zwischen dem 'lyrischem Ich' und dem Autor/Künstler aber vom Autor selbst verhöhnt. Aus unserer Sicht überschreitet Till Lindemann für uns unverrückbare Grenzen im Umgang mit Frauen. Wir haben uns daher entschieden, die Zusammenarbeit mit Till Lindemann mit sofortiger Wirkung zu beenden, da unser Vertrauensverhältnis zum Autor unheilbar zerrüttet ist."

Unheilbar. Soso. War es denn krank, das Verhältnis? Dass aber auch ein "Gewaltporno", so abstoßend man ihn finden mag, kein Dokumentarfilm ist und tatsächlich auf Freiwilligkeit beruhen kann, so abwegig einem das erscheinen mag? Dass noch keiner der aktuellen Vorwürfe gegen Lindemann bisher bewiesen werden konnte? Unschuldsvermutung? Igitt, Täterschutz!

Fun fact: Glebas Vorgänger Helge Malchow hatte Lindemann noch verteidigt mit dem Hinweis auf Kunstfreiheit sowie Trennung von lyrischem und Autoren-Ich. Nun ja, zwei Lyrikbändchen aus dem Programm zu kicken, dürfte ein vergleichsweise geringes betriebswirtschaftliches Risiko darstellen für die Gelegenheit, sich als moralische Anstalt aufspielen zu können. Ob die Begründung ausreicht, einen Autorenvertrag einseitig aufzulösen, müssen freilich Juristen entscheiden.

Apropos Moral. Bleibt die Frage: Was soll das alles?

Als die ehemalige Pornodarstellerin Traci Lords später eine Karriere als 'seriöse' Schauspielerin beginnen wollte, erzählte sie den Medien, alles, was sie filmisch in jungen Jahren so getrieben habe, sei unter Drogen passiert, die man ihr gegen ihren Willen verabreicht habe. In einer immer noch zutiefst von puritanischer (Doppel-)Moral durchdrungenen Gesellschaft wie der US-amerikanischen geht das wohl nicht anders.

"In der moralischen Entrüstung schwingt auch immer die Besorgnis mit, vielleicht etwas versäumt zu haben." (Jean Genet)

Man kann es auch, wie eingangs zitiert, bürgerliche Moral nennen. Bürgerliche Moral bedeutet unter anderem nach wie vor, dass (nicht nur ungebundenen) Männern ein abwechslungsreiches Sexualleben zugestanden wird, sie vielleicht sogar dafür bewundert werden, während (ungebundene) Frauen für ein vergleichbares Verhalten schnell einen Stempel wie 'Schlampe' abbekommen. Sie in bestimmten Milleus, zum Beispiel bourgeoisen und religiösen, immer noch leicht als Frauen 'mit Vergangenheit' gelten, die man besser nicht heiratet. Darin, und nur darin, liegt der fortdauernde Skandal. Und exakt hier ist es auch sinnvoll, über so was wie Patriarchat zu diskutieren.

Ein Weg, damit umzugehen wäre dann, wenn betreffende Frauen glaubhaft machen können, das alles gar nicht gewollt zu haben, irgendwie gezwungen ("Zwing mich,", sprach die Nonne, "so ist es keine Sünde!"), mit Drogen gefügig gemacht worden zu sein etc.

Und zu guter Letzt ließe sich noch erwähnen, dass Lindemann als (alter) weißer Mann natürlich eine vergleichsweise sichere Zielscheibe abgibt. Käme, sagen wir, über einen schwarzen Gangster-Rapper ähnliches aufs Tapet, dann wäre das vermutlich nicht nur Whataboutis-, sondern auch übelster Rassismus und wir müssten alle ganz doll unsere Privilegien checken.

Disclaimer: Der Verfasser dieser Zeilen ist kein großer Rammstein-Fan, vermutlich aber auch nur neidisch.