Mittwoch, 31. Juli 2024

Sommerloch: Narratives


Eric Hobsbawm (1917-2012) prägte den Begriff der 'erfundenen Tradition'. Sein wichtigstes Beispiel: Schottische Clan Tartans. Diese Karomuster, so hieß es immer, seien viele Jahrhunderte alt und jedem Schotten wohlbekannt. So habe ich es auch noch im Englischunterricht gelernt. Hobsbawm entlarvte das als Humbug. Die Tartans waren eine Erfindung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ähnliches lässt sich über die deutschen Regionaltrachten sagen. Auch deren Tradition reicht nur bis ins 19. Jahrhundert und nicht bis in unvordenkliche Zeiten. Zwar gab es im Mittelalter Amts- und Standestrachten, aber die Idee, eine bestimmte uniforme Kleidung zu tragen, weil man irgendwo herkommt, war unbekannt.

Momentan macht der italienische Historiker Alberto Grandi in Hobsbawmscher Tradition Furore und sich in Italien eine Menge Feinde, weil er die 'authentische' italienische Küche größtenteils als Erfindung der jüngeren Zeit betrachtet. Die Pasta Carbonara als traditonelles einfaches Mahl der Köhler? Sicher doch. Italien war lange ein bettelarmes Agrarland und die meisten konnten von Pasta, Parmesan und Speck nur träumen. Und er sieht es keineswegs als Zufall, dass gerade rechte Politiker wie Salvini so sehr für 'echte' italienische Küche trommeln. Denn solche erfundenen Traditionen werden gern von nationalen Bewegungen zur Identitätsstiftung genutzt.

Vom Begriff der erfundenen Tradition zu unterscheiden ist der des 'Major Consensus Narrative'. Das lässt sich kurz definieren als das, was innerhalb einer bestimmten Gruppe von einer Mehrheit für die Wahrheit gehalten wird. Die Beispiele sind da durchaus zahlreich:

"Eskimos haben 100 Wörter für Schnee, Ärzte schwören auf den hippokratischen Eid, Hexenverfolgungen waren ein Phänomen des Mittelalters -- drei Ansichten, die in der Mehrheit der Bevölkerung weit verbreitet sind. Dass sie nicht stimmen, ist nicht so wichtig, denn dafür sind es einfach zu gute Geschichten, die hervorragend in unser Weltbild passen." (Erik Wenk)

Bei den genannten Beispielen handelt es sich um vergleichsweise harmlose Schnurren, die fürs große Weltgeschehen nicht wirklich relevant sind. Anders liegt der Fall mit politischen Konsensnarrativen oder welchen über die jüngere Geschichte. Denn damit wurde und wird Politik gemacht. Etwa: Die Berliner Mauer wurde für alle völlig überraschend am 9. November 1989 geöffnet (stimmt nicht, die Stadtoberen in Ost und West wussten mindestens eine Woche zuvor Bescheid und hatten entsprechende Vorkehrungen getroffen). Oder: Die Griechen sind an der Krise in ihrem Land selbst schuld, weil sie faul sind und sich einen aufgeblähten öffentlichen Dienst leisten. Man kennt das.

Dass zu vielem ein Major Consensus Narritive existiert, führt nicht wenige zu dem Fehlschluss, es gäbe so etwas wie eine amtliche, offizielle Wahrheit, der nicht widersprochen werden dürfe, und wer dies doch tue, habe schlimmstenfalls strafrechtliche Repressionen zu fürchten. Das ist natürlich Quatsch. Allerdings stellt, wer so einem Narrativ allzu offensiv widerspricht, sich mitunter ins Abseits oder muss mit z.T. heftigen Abwehrreaktionen rechnen. Ich habe vor über zwanzig Jahren als Student mal einem Prof gegenüber infrage gestellt, dass nunmehr in den Neunzigern, nach dem Kollaps des Kommunismus, die Menschheit in ein goldenes Zeitalter einträte, und gemeint, dass auch Kapitalismus arm mache. Der Mann reagierte ungewohnt heftig.

Konsensnarrative existieren auch in zahlreichen Peergroups. Gesellen Sie sich mal auf einer Party oder sonstigen Veranstaltung zu einer Gruppe impfkritischer junger Mütter, die offen für Homöopathie ("Wer heilt, hat recht!") sind. (Meinen Beobachtungen zufolge handelt es sich dabei überwiegend um junge Mütter). Und dann widersprechen Sie freundlich aber bestimmt. Etwa, dass die Globuli nicht funktionieren können und dass noch niemals nie nicht eine über den Placebo-Effekt hinaus gehende Wirkung nachgewiesen wurde. Je nach dem, wie entschieden Sie das tun, desto schneller ist der Abend in den Wicken.

Oder der Klassiker aus meiner mündlichen Abiturprüfung. Geschichte. Thema: Münchner Abkommen 1938. Wie der naive Neville Chamberlain Hitlers Kriegswillen unterschätzt und sich für einen wertlosen Fetzen Papier hat über den Tisch ziehen lassen. Ich plapperte das brav nach, kam mir ziemlich intelligent vor und bekam eine zwei minus. Damit bewegte man sich auf der Höhe der Zeit. Die Verachtung von Chamberlains 'Appeasement'-Politik gehörte über Jahrzehnte zu den Grundfesten bürgerlich-konservativer Geschichtsrezeption. Mit Chamberlain, meist als weichlicher Gegenentwurf zum bärbeißigen Churchill dargestellt, wurden Angriffskriege begründet, etwa der gegen Saddam Hussein 1991. Da hieß es, 1938ff. habe man ja gesehen, wohin das führe, wenn man einem irren Diktator gegenüber zu nachgiebig sei.

Alles Quatsch. Chamberlain war mitnichten dumm. Auch war er weder naiv, was Hitler anging noch war er Pazifist. Auch waren er und Churchill sich nicht spinnefeind. Nach den Unterhauswahlen 1940 trat Chamberlain in Churchills Kriegskabinett ein. Chamberlain war ein diplomatischer Könner, hat sich keinen Moment lang Illusionen über den drohenden Krieg gegen Deutschland gemacht und vielmehr Hitler über den Tisch gezogen hat. Weil ein Krieg wegen des Sudetenlands und der Tschechei der kriegsmüden britischen Öffentlichkeit nicht zu vermitteln gewesen wäre und die Rüstungsprogramme, die während der 1930er angelaufen waren, noch Zeit brauchten. Zeit, die das Münchner Abkommen verschaffte.

Indem Hitler mit dem Einmarsch in Polen 1939 das Abkommen brach, lief er Chamberlain in die Falle. Ein solcher Vertragsbruch konnte nur Krieg bedeuten, das war der britischen Bevölkerung zu vermitteln. Nicht Chamberlain hatte sich täuschen lassen, Chamberlain hatte durchschaut, dass Hitler nicht wirklich wusste, wie eine demokratische Öffentlichkeit funktioniert.

Wenn es eines gut recherchierten Bestsellers von Robert Harris bedarf, um den klugen Neville Chamberlain aus der historischen Deppenecke zu holen und aufzuräumen mit der konservativen Appeasement-Propaganda, bitte sehr. In der historischen Forschung ist das allerdings nichts Neues. Beim eingangs erwähnten Eric Hobsbawm etwa konnte man auch das schon länger nachlesen (u.a. in: Das Zeitalter der Extreme, S. 198f.). Nur war Hobsbawn eben Zeit seines langen Lebens Marxist. Und damit ein wenig außerhalb des Major Consensus Narrative.


Dieser Beitrag erschien hier zuerst am 16. November 2019. Er wurde am Anfang erweitert und hier und da ein wenig geändert.






5 Kommentare:

  1. .... Klasse, Chapeau.

    Gruß
    Jens


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  2. Texte wie dieser sind der Grund, warum ich hier bin. Danke.
    Gruß Florian

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  3. Zeitlose Beiträge, immer wieder interessant. Alles weitere hat Jens und Florian schon geschrieben

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