Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
▼
Donnerstag, 26. September 2024
Zu Tode gesiegt?
Man mag zu ihnen stehen wie man will, aber dazu, die Grünen ernsthaft und aus ehrlicher Überzeugung für ideologiegetriebene Faschisten zu halten, gehört ein Ausmaß an Verpeiltheit, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Oder man macht das aus Kalkül, um den durch diverse Krisen dauerüberforderten Bequemmichel vom eigenen Faschismus und den eigenen Machtergreifungs- und Aufräumphantastereien abzulenken. Zumal das Beispiel Trump zeigt: Blödsinn, der nur oft und beharrlich genug wiederholt wird, wird irgendwann von ausreichend großen Teilen der Gesellschaft geglaubt.
Der Deppenvorwurf, die Grünen seien die Partei der Cancel Culture ist eh komplett beliebig in diesen paranoiden Zeiten. Weil im Zweifel jeder sich berechtigt sieht, anderen etwas abzuklemmen, was dann selbstredend nichts mit Unterdrückung zu tun hat und ausschließlich edlen Zielen dient. So dürfte es nur wenige AfD-nahe Rechte geben, die es auch nur entfernt cancelkulturell finden, wenn, wie jetzt in Pirna, eine Ausstellung zum Thema Flucht und Integration noch vor der Eröffnung wieder abgebaut wurde.
Gleiches gilt für den Gratisanwurf, eine illiberale Verbotspartei zu sein, die den Menschen in ihre private Lebensführung und ihre freien Entscheidungen hineinregieren wolle. Wenn ein Cem Özdemir sagt, es wäre vielleicht ganz gut, nicht jeden Tag Fleisch zu essen, empört man sich über Diktatur, wenn der selbst eher pyknische Södermaggus junge Menschen zu täglichem Gesportel verpflichten will, dann ist das natürlich etwas ganz anderes. Merke: Canceln und Vorschriften machen tun immer nur die anderen.
Es ist ja durchaus zutreffend, dass Politik fast nur noch nach dem unterkomplexen Prinzip des Bullshit-Dreiecks funktioniert und man sich andauernd als Retter:in vor allem Möglichen in die Brust wirft. Wehe, fürchtet euch! DIE DA wollen: Den dritten Weltkrieg anzetteln, die Bevölkerung austauschen, dir dein Schnitzel, deinen Verbrenner/Grill/Urlaubsflug wegnehmen, dir deine Gasheizung klauen, dich zwangsveganisieren, deine Kinder verschwulen, dir das Deutschsein verbieten, alles mit Ausländern fluten, dir Tempolimits und immer neue Steuern und Sozialabgaben aufs Auge drücken -- WIR sind die Rettung! Das letzte Bollwerk, das sich dem Untergang noch mutig entgegenstemmt.
"Der Archetyp des Retters ist so mächtig, dass er nun schon auf eine eher mittelmäßige Politikerin wie Sahra Wagenknecht projiziert wird. Deutschland sucht die Retterin. [...] Diese Figur existiert aber nie allein. Sie ist untrennbar mit zwei weiteren Figuren verbunden: dem Opfer und dem Bully. Einfach gesagt: Das Opfer braucht den Retter, der Bully ist der Böse. Eine allgegenwärtige Dreieckskonstellation. Das Dreieck, das beispielsweise von Sahra Wagenknecht bedient wird, sieht so aus: Das Opfer sind »die« Menschen in Deutschland, der Bully sind Politiker:innen aller anderen Parteien, an allererster Stelle die Grünen." (Gilda Sahebi)
Andererseits frage man sich: Wofür stehen FDP und AfD (BSW wird sich noch zeigen) eigentlich? Für eine ganze Menge, auch wenn das meiste davon mir überhaupt nicht passt. Im Falle der AfD die ganze Scheißrichtung. Über die CDU Merzscher Prägung lässt sich immerhin noch sagen, dass sie nicht mehr Merkel sein will, zu viel AfD aber auch nicht. Wofür steht die SPD 2024? Ääähhh. Wofür die Grünen nochmal? Pfff! Mag sein, dass es schlaue Leute in deren Reihen gibt, die mir das erklären könnten, aber im medialen Diskurs kommt das halt nicht vor.
Vielleicht ist daher die von Tag eins der Ampelkoalition über die Grünen gekübelte und erschreckend erfolgreiche Hasskampagne gar nicht der Kern des Problems, sondern mehr ein Symptom. Ein Zeichen für einen politischen Großtrend. Mehr als bei anderen Parteien beruhte Anhänger der Grünen zu sein nie allein auf politischer Überzeugung, sondern war immer auch ein Lebensstil, der mehr oder minder lose um einige Prinzipien kreiste: Pazifismus, Umweltschutz, Abrüstung, Biolandbau, Basisdemokratie, Teppichtaschen und eine Portion Antikapitalismus. Später Cannabislegalisierung, 'Homo-Ehe' und Frauenquoten. Das war ursprünglich mal anti. Ende der Siebziger bis in die Achtziger bekamen die grauen Herren mit den Hornbrillen zuverlässig Krämpfe, wenn sie bloß daran dachten.
Und heute? Pazifismus ist so sehr Teil des deutschen Mainstreams geworden, dass Bundeswehraufrüster sich schier die Zähne ausbeißen daran. Sogar Eisenfresser von der AfD möchten lieber mit Putin verhandeln und machen auf Friedenstaube. Auch Dinge wie Technikfeindlichkeit und eine zuweilen irrationale Sehnsucht nach dem vermeintlich sanften 'Natürlichen' bzw. dessen romantische Überhöhung bis hin zu irrationaler Homöopathiegläubigkeit haben die Grünen zwar nicht erfunden, sie waren aber lange Teil ihres politischen Markenkerns.
Bio-Lebensmittel haben ihr unsprüngliches Habitat müffliger Spezialgeschäfte längst verlassen und werden teils auch von Neonazis vertrieben. Oder liegen hekatombenweise bei Discountern in der Auslage. Die wiederum werben inzwischen nicht nur damit, schnöde 08/15-Bioware feil zu halten, sondern auch Bioland-Erzeugnisse und sogar jene der anthroposophischen Kuhhornverbuddler von Demeter. Wer im Supermarkt eine Plastik- statt Jute-Tüte sucht, kann genausogut versuchen, in einer Filiale der Deutschen Post DHL Group ein Exemplar der Blauen Mauritius aufzutreiben. Will man seinen Müll korrekt trennen, braucht man dafür einen Bachelor in Entsorgungswirtschaft.
Von Ausnahmen abgesehen, hat auch der hartleibigste CDUler inzwischen nicht mehr wirklich Argumente gegen die 'Ehe für alle', Cannabis ist legal (na ja, sort of) und wenn man sich die einst preußisch durchorganisierte Bahn anschaut, dann wird man den Verdacht immer weniger los, dass dem dort fleißig zugesprochen wird. Zumindest im Vorstand. Unternehmen ab einer gewissen Größe, die sich nicht offensiv für Vielfalt, Diversity und LGBTQ in die Bresche werfen, geraten schnell in den Verdacht ein finsteres, homophobes Mordor voller TERFs zu sein. Und auch in der CDU werden längst Frauenquoten diskutiert.
Haben die Grünen noch Themen? Kaum. Fast alles, für das sie mal angetreten waren, ist mehr oder minder Teil der gesellschaftlichen Mitte geworden. Man kann sagen, sie haben sich zu Tode gesiegt. Goodbye und danke für den Fisch. Oder sie bewegen sich nach 1998 ein weiteres Mal in Richtung gesellschaftliche Mitte. Der jüngste Austausch des Spitzenpersonals könnte ein Indiz dafür sein.
6 Kommentare:
Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.
"Wofür steht die SPD 2024?"
AntwortenLöschen... wie wäre es mit Kaufkraftsteigerung durch gute Löhne, niedriger Inflationsrate und geringer Arbeitslosigkeit.
Der angeblich miese Zustand der BRD ist in meinen Augen Stimmungsmache die in erster Linie von Halbwahrheiten und Übertreibungen der reaktionären Presse lebt, die sensationsgeil das baldige Scheitern der Ampel herbeischreiben möchte.
Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Für die Situation zum Beispiel der deutschen Autoindustrie ist kein Wirtschaftsminister verantwortlich, sondern deutsche Manager, die erst einmal auf Umsatzrendite und Investorenzufriedenheit hin gearbeitet haben, während man in China frei von solchen Urkapitalistischen Dogmen rein analytisch auf Elektroauto-Entwicklung gesetzt hat und nun dafür die Ernte einfährt.
... und die Energiewende wurde nach Fukushima im März 2011 von welcher Partei in die Wege geleitet?
Gruß Jens
Theoretisch stimmt das alles. Aber man dringt halt nicht mehr durch damit.
LöschenSehe ich absolut genauso! Leider fehlt es an: "Tu Gutes und rede drüber."! In diesem Fall vielleicht eher erkläre. Das ist das was uns fehlt, Politik die uns, aber vor allem den Verunsicherten, erklärt wird.
LöschenCheers Andre
Ganz ähnliche Anna Lüse meinerseits...
AntwortenLöschen"Aber man dringt halt nicht mehr durch damit".
AntwortenLöschenTja — den Boomen im Deutschunterricht noch die Hegelsche Theorie der Dialektik nahegebracht. So im Sinne "These — Antithese — Synthese".
Kannste einem Depp nicht mit kommen. Der will in seiner ideologisch vollgefurzten Meinungsblase nicht gestört werden.
Profitipp: die Aussage "die da oben" ist immer ein Hinweis auf Denkfaulheit!
Gruß Jens
Naja, du machst den Fehler der heute in öffentlichen Debatten normal geworden ist. Du sichst dir ein paar Beispiele selektiv als Strohmann aus, um die Richtigkeit der einen Seite darzustellen. Und Punkt. Damit ist für dich die Toleranz beendet.
AntwortenLöschenDer Artikel ist eine Sammlung der Mechanismen der gesellschaftlichen Spaltung. Nur wer versucht zu verstehen worum es der anderen Seite geht, ist in der Lage einen Ausgleich zu schaffen. Von diesen Menschen gibt es immer weniger.
Mein Eindruck, als Sozialist und linker ist, dass es davon mehr auf seiten der afd gibt, als bei den grünen. Aber das merkt man erst wenn man mit diesen Menschen redet. Und es ist keine Erkenntnis die mich freut. Aber ich wurde schon 1998 enttäuscht als endlich die SPD an die macht kam (ich hatte die PDS gewählt) auch diese Regierung hat sozialistische Positionen verraten. Daher ist die neoliberale Regierung, die vor allem die Interesse der Finanzindustrie fördert nicht Überraschend