"Reißt die Fenster auf –! Es mufft."
(Kurt Tucholsky)
In meiner Heimatstadt trieb zu meinen
jüngeren Jahren ein Polizist sein Wesen, den man wohl
verdonnert hatte, lebenslänglich Streife in der Fußgängerzone
zu gehen. Vielleicht ist er auch gar nicht dazu verdonnert worden,
sondern hat diesen eher beschaulichen Dienst einfach gern getan,
keine Ahnung. Ist eh egal jetzt, denn diese Zierde deutschen
Berufsbeamtentums dürfte mittlerweile längst pensioniert sein.
Besonders Fahrradfahrer hatte er auf dem Kieker. Er ließ keine
Gelegenheit aus, unbotmäßige Radler zu jeder Tageszeit vom
Drahtesel zu brüllen, ihnen eine Vorlesung über die StVO zu halten
und das fällige Verwarnungsgeld "anzubieten", wie er es
ausdrückte. Jeder jüngere Mensch, der damals gelegentlich per Rad
unterwegs war, kannte ihn. Man munkelte, dass wenn hinter ihm
eine Horde gesuchter Terroristen vorbeigelaufen, links neben ihm eine
Schlägerei stattgefunden und vor ihm eine alte Dame mit
vorgehaltener Waffe ausgeraubt worden wäre, er sich zuerst noch
einen Radfahrer zur Brust genommen hätte.
Was sein Gehabe so ärgerlich machte,
war ja nicht, dass er formaljuristisch nicht im Recht gewesen wäre,
sondern sein völliger Mangel an Augenmaß. Er
gab einem das Gefühl, nicht nur gehirnamputiert, sondern auch
höchstens acht Jahre alt zu sein, was uns Jugendliche erst recht
rebellisch werden ließ. Ohne Frage ist es gefährlich, in einer
gerammelt vollen Fußgängerzone Rad zu fahren. Wenn jedoch nur ein
paar weiträumig verstreute Flaneure unterwegs sind, dann ist diese
Regel eigentlich sinnlos und sie um jeden Preis durchsetzen zu
wollen, bloß weil sie eben existiert, ist pure Prinzipienreiterei.
Wer es dennoch tut, wie der wackere Ordnungshüter damals, setzt sich
leicht dem Verdacht aus, das vor allem zu tun, weil er Spaß daran
hat, Menschen zu maßregeln wie die Schulkinder. Hätte das
weißbemützte Streifenhörnchen damals nur ein einziges Mal milde lächelnd
gesagt: Ok, Jungs, heute ist nichts los hier und ich drücke mal
beide Augen zu, aber ihr wisst Bescheid, ja? – niemand hätte ein
Problem mit ihm gehabt.
Augenmaß bedeutet, die speziellen
Umstände eines Falles zu bedenken, anstatt stur Paragraphen zu
reiten. Augenmaß bedeutet, zu akzeptieren, dass es nicht nur Schwarz
und Weiß gibt im Leben, sondern auch eine Menge Grau, weil Menschen
eben Menschen sind. Und es bedeutet, einzusehen, dass Radfahren in einer mäßig belebten Fußgängerzone etwas anderes ist als ein Raubmord und dass die
beste Vorschrift unter bestimmten Umständen komplett gaga sein kann.
Welchen Sinn hat es, als erwachsener Mensch mit zwei Augen im Kopf
nachts um eins an einer menschen- und autoleeren Straße vor der
roten Fußgängerampel auf Grün warten zu müssen? In anderen
Ländern und in Großstädten hat man das längst begriffen. Ein
Polizist, der in einer Stadt wie London, Paris oder Rom versuchen
würde, Fußgänger davon abzuhalten, bei Rot über die Straße zu
gehen, würde sich lächerlich machen. In solchen Städten weiß man,
dass alles viel besser läuft, wenn alle ihre Augen offen halten und
unter Einsatz ihres Verstandes jede sich bietende Lücke nutzen, weil der Verkehr komplett zusammenbrechen würde, wenn alle strikt nach
Vorschrift handelten. Übrigens lernen dort auch Kinder von klein
auf, im Straßenverkehr ihre fünf Sinne zu benutzen und
selbstständig zu handeln, anstatt nur blind zu gehorchen.
Als der britische Fernsehjournalist und
passionierte Deutschenhasser Jeremy Clarkson vor ein paar Jahren
einen Dokumentarfilm über Deutschland und die Deutschen drehte, fand
er erwartungsgemäß nicht allzuviel vor, was ihm gefiel. Abgesehen
von Autobahnen ohne Tempolimit, versteht sich. Eines aber faszinierte
ihn zutiefst: Der mehrmalige Weltmeister im Segelfliegen und dessen
elegante Fluggeräte. Er wollte unbedingt im Doppelsitzer mitfliegen,
nur gab es ein Problem. Als Passagier in einem Segelflieger muss man
in Deutschland einen Fallschirm tragen. Weil Clarkson aber sehr groß
gewachsen ist, passte er mit umgeschnalltem Fallschirm nicht mehr ins
Cockpit. Er bekniete den Piloten förmlich, doch mal eine Ausnahme zu
machen, niemand würde etwas davon erfahren, man würde den Film,
Ehrenwort, auch so schneiden, dass es aussähe, als trüge er einen
Fallschirm, er würde auch schriftlich versichern, auf alle
eventuellen Schadensersatzforderungen zu verzichten und das Risiko
auf seine Kappe nehmen. Nichts zu machen, Vorschrift ist Vorschrift.
Clarkson verstand die Welt nicht mehr. Und die Deutschen erst recht
nicht.
Womit wir beim Münchner
Oberlandesgericht wären. Keine Ahnung, ob mümmeliges Verschanzen
hinter Paragraphen nun eine typisch deutsche Spezialität ist oder
nicht. Normalerweise ist es mir auch ziemlich wumpe, was das Ausland
denken könnte, denn wer bei allem Tun und Lassen immer nur darauf
schielt, was wohl die anderen denken, braucht normalerweise dringend
Nachhilfestunden in Selbstbewusstsein und Reife. Neun Menschen
hinzurichten, ist ein strafwürdiges Verbrechen und es ist, egal, was
das Ausland so denkt, ein Gebot des Anstands, Tatverdächtigen einen
in jeder Hinsicht ordentlichen Prozess zu machen, bei dem es nichts
zu verstecken und zu verheimlichen gibt.
Man hätte aber immerhin irgendwie
ahnen können, dass ein Strafverfahren gegen eine Frau, die
beschuldigt wird, an der Ermordung von acht in Deutschland lebenden
Türken beteiligt gewesen zu sein, zumindest in der Türkei ein
gewisses Interesse hervorrufen würde. Ich möchte das
Backenaufplustern sehen, das hierzulande losginge, wenn in der Türkei
acht Deutsche ermordet worden wären und deutsche Journalisten beim
Prozess gegen eine Hauptverdächtigen keinen Platz im Sitzungssaal
bekommen würden. Wer zudem deutsche Journalisten unter der Hand
vorab über Termin und Art der Platzvergabe informiert, darf sich
nicht wundern, wenn hier und da die Frage aufkommt, ob man überhaupt
türkische Medienvertreter im Saale haben wollte. Es sagt jedenfalls
einiges, dass angeblich sogar Reporter von Springers
Vierbuchstabenpostille türkischen Kollegen ihre Plätze angeboten
haben. Letzteres wurde übrigens vonseiten des Gerichts unterbunden - Vorschrift ist Vorschrift und wir sind schließlich in Deutschland.
Was wäre dabei gewesen, zu sagen: Es
tut uns leid, dass wir das massive internationale Interesse an diesem
Prozess offensichtlich falsch eingeschätzt haben, wir werden das
umgehend korrigieren und selbstverständlich dafür sorgen, dass
möglichst viele Platz finden? Nichts wäre passiert, niemandem wäre
ein Zacken aus der Krone gefallen. Im Gegenteil. Man hätte Augenmaß
gezeigt, Sensibilität für die besonderen Umstände des Falls und
eine gewisse Menschlichkeit. Möglicherweise wäre man im Ansehen
sogar gestiegen. Statt dessen hat man sich beim Münchner OLG
benommen wie die Karikatur eines - horribile dictu! - preußischen
Schutzmannes oder wie ein Blockwart mit dem Kehrwochenschild. Egal,
wie blitzblank gewienert der Keller eh schon ist, samstags wird
geputzt, mag die Welt in Trümmer gehen. Zudem es ja keineswegs
so ist, dass deutsche Behörden nicht in der Lage wären, Fehler
einzugestehen. Als es galt, im Rahmen der Ermittlungen gegen die NSU
die eine oder andere Ermittlungspanne einzuräumen, legte man
diesbezüglich eine erstaunliche Routine an den Tag. Geht doch. Ein
Schelm, wer Böses dabei denkt.
Übrigens sind auch die hiesigen
Stadtväter lernfähig. Nicht nur ist nach 18 Uhr das Fahrradfahren
in der Fußgängerzone inzwischen erlaubt, nein, auch viele
Einbahnstraßen dürfen per Rad in beiden Richtungen befahren werden.
Ich weiß nicht, ob und wie der wackere Schutzmann es verkraftet hat,
dass die Weltordnung dergestalt ins Chaos gesunken ist. Gesehen hat
ihn schon lange niemand mehr.
Klasse Artikel. Augenmaß, - ist meiner Ansicht nach das Erste was verloren geht, wenn man alles und jeden systemtheoretisch, agendual, prozessorientiert, - managamentmäßig, - etc ... betrachten will. Und letztendlich dazu führt, dass man auch nur denen mit dem größten Einfluss die meiste Deregulation und denen mit dem geringsten Einfluss die größte Regulation davon zuteil werden lässt. Das Treten und das Regeln, - geht immer von oben nach unten, - und entsprechend den Interessen innerhalb der Hierarchie. Bis auch zum letzten Policemen, der dies sogar genießt. Ich seh das nicht mal mehr politisch. Und es hat auch nicht mal was mit Kommunismus oder Kapitalismus zu tun. Der sortierende Kleingeist der systemisch verwaltenden Rationalität, wird wohl noch eine Weile brauchen, bis er merkt, dass humanes Augenmaß kein definiertes Konzept ist, - sondern eine recht anstrengende Sache, die auch jeden und zu jeder Zeit als Mensch innerhalb einer Vielfalt neu fordert, - ohne ein regelndes Pflichtenheft bzw, eine Leitlinie dafür zur Verfügung zu haben. Letztendlich sollten System- und Verwaltungsgedanken nur darauf beruhen, die Unfähigkeiten damit umzugehen, zu reglementieren. Aber auch dies, hatte man zugunsten des einfachen Klischees, - einfach vergessen. Die wahre TINA, ist unmittelbar mit dem Systemdenken verheiratet.
AntwortenLöschenDiese Typen gibt es auch in öffentlichen Verkehrsmitteln und Räumen , zumindest in anonymen Großstädten.
AntwortenLöschenHab das selber mehrfach erlebt und beobachtet und jedesmal war es der Besonnenheit des Attackierten zu verdanken , daß die Situation nicht eskalierte.
Auch wenn jemand gegen Regeln verstößt , gibt es keineswegs das Recht für jeden frustrierten Deppen , im "Namen des Volkes" eizugreifen- und schon gar nicht ohne das völlig zurecht angesprochene Augenmaß.
Das ist tatsächlich typisch deutsch , diese Mentalität , das korrekte Durchführen der Hausordnung mit der Kalaschnikov durchsetzen zu dürfen ( zumindest als Wunschvorstellung).
Seit den Vorfällen in München , wo ein Rentner fast totgeprügelt wurde , ist deutlich weniger los an dieser Front.
So unschön das klingen mag , aber das zeigt auch , wei sehr es sich beim Verhalten der "Zurechtweisenden" um Übergriffigkeit handelt , sonst würden sich diese Kandidaten nicht so schnell abschrecken lassen von ein bißchen Gewalt irgendwo in Süddeutschland.
Ich bin da zwiespältig. Einerseits finde ich auch stupides Regelndurchdrücken unsinnig. Die leere Fußgängerzone und die rote Ampel an der leeren Kreuzung mitten in der Nacht sind schöne Beispiele. Andererseits gibt es Leute, die sich gewohnheitsmäßig über Regeln hinwegsetzen, und wenn man denen den kleinen Finger reicht, fressen sie die ganze Hand.
AntwortenLöschenMir ist an zwei verschiedenen Stellen meine damals dreijährige Tochter an meiner Hand beinahe über den Haufen gefahren worden, weil Radfahrer (übrigens alles Männer über 60) meinten, da volles Rohr an der Hauswand langrasieren zu müssen. Natürlich war der Fußweg schön leer, und man kann als Radfahrer ja wirklich nicht damit rechnen, dass dann doch mal jemand werktags aus einer Ladentür tritt. Wenn die nicht so schnell weg gewesen wären, hätte ich die persönlich vom Rad geholt, und die hätten sich noch lange an den Tag erinnert. Und solange Verkehrsteilnehmer (dasselbe gilt für Autofahrer und Fußgänger auch) mit solcher Dreistigkeit jedes Augenmaß vermissen lassen, neige ich eher zur kleinlichen Durchsetzung der StVO.
Wenn man nämlich bei solchen Vollpfosten einmal ein Auge zudrückt, nehmen die das als Freibrief für immer und werden pampig, wenn man sich dagegen wehrt, auf dem Trottoir neben einer verkehrsarmen Straße von Kampfradlern aus dem Weg geklingelt zu werden (und ja, ich weiß, dass ich hier unzulässig verallgemeinere).
@gnaddrig
AntwortenLöschenDie StVO ist so schlecht nicht. Aber das ist ja die Geschichte mit dem Augenmaß, wie man damit umgeht. Betrifft ja nicht nur Polizisten, die stur nach fixem Subjektivrahmen damit umgehen. Oder Richter, die nicht fähig sind außerhalb der definierten Bestuhlungsordnung zu denken. Durchaus auch Radler, die genauso blöde auf ihrem Sattel hocken und denken, dass ihnen die Welt gehört und genauso stur geschwindigkeitsmäßig ausreizen, wie der Policemen seine Regelsturheit. Es geht ja ums menschliche Augenmaß. Und das betrifft eben alle. Damit hätte ich noch eine viel größere Verallgemeinerung hin gelegt ;-)
@ eb: Verallgemeinern ist eben auch eine Kunst, die gekonnt werden will :)
AntwortenLöschenStimmt natürlich, man macht es sich zu einfach, wenn man für alles und jedes einen Katalog mit Vorschriften und Strafen haben will, wo man nur nachschlagen muss und nicht mehr selber denken oder abwägen. Es ist natürlich anstrengend und schwierig, zu wissen (bzw. sich im konkreten Fall zu überlegen), ob es besser ist, fünf grade sein zu lassen oder eben die jeweilige Regel zu finden und durchzusetzen. Und da kommt das Gewohnheitstiersein des Menschen ins Spiel. Wozu nachdenken, wenn es doch irgendwer schon gedacht und festgelegt hat. Das ist auch nicht unbedingt von übel, wenn es nicht die Kontrolle übernimmt und den Denkapparat ganz lahmlegt, wie bei gewissen Fußgängerzonenblockwarten.