Mittwoch, 30. September 2015

Ich bin kein Hippie!


Und, merken Sie schon was? Die Stimmung, meine ich, wie sie kippt. "Endlich!", scheint es da bei einigen insgeheim geradezu erleichtert mitzuschwingen. Bei jenen, denen es seit Wochen und Monaten viel zu multikulturell zugeht und die deswegen den ganzen Tag nichts anderes tun als unken und schwarzsehen. Wehe, die Überfremdung! Einwanderung in unsere Sozialsysteme! Von unserem Geld! All die jungen Männer, die bald schon unsere Frauen und Töchter schänden werden, und zwar massenhaft! Es steht schlimm um Deutschland! Gut, kann man alles so sehen, wenn man mag. Diplom-Schwarzseher und staatlich geprüfte Bedenkenträger sind immer irgendwo dabei. Eines aber kann ich ums Verrecken nicht leiden: Diese ewigen Unterstellungen.

Denn ich hasse Unterstellungen. Ich hasse es genau so, anderen etwas zu unterstellen wie etwas unterstellt zu bekommen. Es geht mir auf den Sack, als jemand, der das Prinzip 'Refugees welcome!' unterschreibt, von Alt- und Neukonservativen, noch Rechteren, von Harald Martenstein und anderen, denen es nicht hart und autoritär genug zugeht hierzulande, als Hippie, als komplett naiver Depp hingestellt zu werden. Als Bewohner einer Eiapopeia-Multikulti-Kuschelwelt, der nicht Willens oder nicht in der Lage ist, das zur Kenntnis zu nehmen, was von diesen sesselpupenden Kassandras Realität genannt wird.

Um das ein für alle mal klar zu stellen: Ich bin kein verdammter Hippie und war nie einer. Für fast alle, die sich momentan die Neuankömmlinge ins Zeug legen und dafür, dass dieses Land ein bisschen weniger kalt ist, dürfte das ebenfalls zutreffen. Vielleicht besteht ja schlicht Uneinigkeit darüber, was 'Refugees welcome' eigentlich bedeutet.

'Refugees welcome' ist kein politisches Programm und hat erst recht nichts mit Naivität zu tun, sondern drückt vor allem eine Grundhaltung aus. Kaum jemand, der sie vertritt und noch alle Nadeln an der Tanne hat, hält Zuwanderer für per se bessere Menschen. Weil gut gemeint das Gegenteil von gut ist, weil das nicht weniger hirnrissig wäre wie sie per se für schlechtere zu halten und "Ausländer raus!" zu bölken. Nein, 'Refugees welcome' ist eine Haltung, die für Offenheit steht statt Feindseligkeit, für ein positives Menschenbild statt Generalverdacht, für Freundlichkeit statt Misstrauen und Feindseligkeit, für Großzügigkeit statt Kleinkrämerei, Gastfreundschaft statt Jägerzaun, Neugierde statt volle Hosen und vor allem für Menschlichkeit, Empathie und Hilfsbereitschaft statt Abschottung.

Und nicht zuletzt geht es um Zuversicht statt Angstmache. Denn, ja, die hohe Zuwanderung von Asylbewerbern und Migranten verursacht Probleme, wird weiter welche verursachen und sie werden sich, wofür leider einiges spricht, noch verschärfen. Es ist auch überhaupt kein Problem, offen darüber zu reden. Vorausgesetzt, es wird nicht pauschalisiert und es wird darüber geredet, was das mit den Umständen zu tun hat, in denen die meisten Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtungen leben müssen oder mit dem, was viele in ihrer Heimat und auf dem Weg hierher durchgemacht haben. Die Ursachen sofort in der Herkunft zu suchen bzw. in dem, was neuerdings so gern als 'kulturelle Unterschiede' verbrämt wird, ist nichts anderes als Rassismus.

Wie gesagt, kein vernünftiger Mensch wird rundheraus bestreiten, das es Probleme gibt und geben wird, aber - und hier bin ich ausnahmsweise mit meiner Kanzlerin auf einer Linie - diese Probleme sind lösbar und die positiven Effekte werden die negativen auf lange Sicht bei weitem übertreffen. Außerdem ist es schlicht lächerlich, wenn Eliten von begrenzten Ressourcen schwafeln in einem Land, in dem dieselben Eliten keine Probleme damit haben, die Reichen immer reicher zu machen und weit größere Summen in einer ganzen Reihe absurder Großprojekte zu versenken.

"Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben." (Alexander von Humboldt)

Was macht mich eigentlich so sicher, dass die Probleme lösbar sind? Erfahrung. Wer da lebt, wo ich lebe, lernt vor allem Gelassenheit. Lernt, dass von ein bisschen mehr Multikulti die Welt nicht untergeht. Dass die ganzen Horrorstorys über Überfremdung und über für Deutsche angeblich nicht zu betretende Stadtviertel in der Regel eben nichts anderes sind als Horrorstorys, von denen bei Lichte besehen nicht viel übrigbleibt. So lange man nicht meint, man müsse sich in einem Viertel mit hoher Migrantendichte unbedingt benehmen wie der NPD-Gauleiter von Mecklenburg.

Und der lernt auch, dass die Realität sich normalerweise angenehm unterscheidet von den Szenarien, die eine Handvoll notorischer, sich für die Mehrheit im Land haltender xenophober Meckerköppe in den Leserbrief- und Kommentarspalten der Zeitungen Tag für Tag so an die Wand malt. Sie sind aber nicht die Mehrheit. Zeit also, sich zu entspannen. Das kann man nämlich auch lernen. Es ist nie zu spät.

Zumal es momentan Wichtigeres gibt als den Untergang der Kulturnation herbeizuphantasieren.

So scheint es mir viel wichtiger, wachsam zu sein und die Augen aufzuhalten, dass die momentane Immigration nicht dazu missbraucht wird, Sozialstandards, Arbeitnehmerrechte und Errungenschaften wie den gesetzlichen Mindestlohn, so bescheiden er auch sein mag, weiter aufzuweichen, wenn nicht gleich abzuschaffen. Und davor, dass der großartige, massenhafte Einsatz von Ehrenamtlichen nicht fest zur Konstenersparnis in die öffentlichen Kassen eingepreist wird.

Wir müssen, wie es Mely Kiyak auf den Punkt bringt, "... genauer aufpassen, dass wir nicht an die Stelle von Pflicht und Grundversorgung Hilfsbereitschaft setzen. Wir leben gerade den Traum der FDP. Der Staat zieht sich zurück und die Bürger springen ein. Ich möchte daran erinnern, dass wir als Bürger dieses Landes Steuern zahlen. Wir dürfen nicht nur, wir müssen laut werden und an unsere Politiker gerichtet sagen: Wir gehören zu den reichsten Ländern dieser Erde. Es ist Eure Aufgabe die Bedarfslisten durchzuklicken. Nicht unsere! Unsere Aufgabe ist es, die Flüchtlinge in unsere Mitte zu nehmen. Jeder, wie er kann."

Wenn die Schwarzseher auch nur einen Teil jener Energie darauf verwenden würden, sich an solchen Stellen einzubringen, das wäre wirklich eine Hilfe.


3 Kommentare:

  1. Moin Stefan du alter "Hippi"!
    Meine volle Zustimmung zu deinem Statement. Zum Thema Hr. H. M. kann ich nur sagen, ich weiß gar nicht was er hat "selbstbewusst, autoritär und hart sind wir doch.
    Gegen Flüchtlinge, das eigene Volk, gegen Griechenland und andere Länder, passt doch. Und nur weil ich den Satzbau verändere "Einerseits blabla..."Auf der anderen Seite bla bla.... hört es sich trotzdem weiter so an wie "Ich bin ja nicht gegen Ausländer, ABER!!
    Sehr durchschaubar das Ganze! MEINUNGSMACHER!! Uuiiiiiih.
    To: H.M. Und überhaupt "Schneid dir mal die Haare, du läufst ja rum wie ein Hippi"

    LG
    p.s. je suis "Hippi"

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  2. Spricht mir aus der Seele. Wo kann ich unterschreiben?

    [OT: Die Captcha mausert sich gerade zu einer ausgewachsenen Nervensäge, da muss irgendein Bug drinstecken, weil erstens ständig das mit den Straßenschildern kommt und das Ding die richtige Lösung nicht akzeptiert. Da muss ich manchmal fünf- oder sechsmal durch. Blärgs.]

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  3. Meinem kleinen Kreis von Altpunken (ausgewiesene Nichthippies ;) ) zum Lesen gegeben. Artikel als "hervorragend" klassifiziert.

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