Montag, 21. September 2015

Kurzer Altherrenanfall


Wer deutschsprachigen Gangsta-Rap für die Höchststrafe in Puncto ödes Provokationstheater gehalten hat, kennt Schnipo Schranke nicht.

Um der Ehrlichkeit genüge zu tun: Ich bin nur deswegen beim Flanieren im Feuilleton darüber gestolpert, weil es in der Dachzeile durchaus korrekterweise hieß, Pisse sei ja kein besonders schlimmes Wort. Aufmerksamkeit erregt, job done, Schreiberling. Guter Mann! Man hat den Eindruck, als solle das Hamburger Frauenduo Schnipo Schranke, das sich einst an der Frankfurter Musikhochschule kennengelernt hat, als neue Hoffnung des deutschen Jungefrauen-Pop hochgeschrieben werden. Imagemäßig als eine Art böse Schwestern des enorm erfolgreichen Duos Boy. Und, wo wir schon mal beim Lesen sind, was kriegt man denn so geboten auf Schnipos Debutalbum 'Satt'? Jurek Skrobala von SPON hat die beiden interviewt.

Im Einleitungstext heißt es, das Album klönge "wie ein Mixtape voller kaputter Chansons, interpretiert von einer Krautrock-All-Star-Band, in der Christiane Rösinger und die Gummibärenbande" mitspielten. "Die klugen Texte" kreisten "vor allem um die Liebe, thematisieren auch mal Körbchengrößen, Spermageschmack, Schamhaare, Pariser, vollgekackte Hosen und eben auch: Pisse." Hui! Und weiter? Erfährt man, dass YouTube eines ihrer Videos gesperrt hat, weil darin - Pulleralarm! - der Lurch eines Mannes in Großaufnahme zu sehen ist. Im Laufe des Gesprächs gerät Daniela Reis, eine der beiden Musikerinnen, dann ins Philosophieren:

"Man kann heute einfach nicht dieselbe Sprache benutzen wie vor 50 Jahren. Das ist öde und unspezifisch. Das ist Scheißhauslyrik.", oder: "Vor mir selbst schäme ich mich fast, dass ich mich so lange mit Klassik beschäftigt habe. Das war wie ein Brett vorm Kopf. Mittlerweile provoziert mich das richtig, wenn ich irgendwo lese, dass irgendein Orchester Mahlers Fünfte aufführt. Dann denke ich immer: Alter, warum? Wen schockt das?"

Ich kann mir nicht helfen, aber wenn ich so was lese, dann bekomme ich so eine halb mitleidige, halb onkelig-altväterliche Anwandlung, die mir durchaus ein wenig peinlich ist. Ich komme mir dann leicht vor wie ein pensionierter Studienrat oder eine alte Gouvernante, die halb gütig, halb herablassend ihre Antwort beginnt mit: "Ach, Kindchen…"

Wenn ihr an der Musikhochschule zwischendurch  etwas anderes getan hättet als qualmen und euch knallen zu lassen (eure Rede), würde ich dann am liebsten fortfahren, dann wüsstet ihr jetzt, dass gute Musik zeitlos ist, dass eine Schubladeneinteilung von Musik in Klassik und Pop, in E und U, unter Profis spätestens seit den Tagen Leonard Bernsteins kaum noch eine Geige spielt und nur noch von Spießern vorgenommen wird. Wer Ohren hat zu hören, kann als kompletter Atheist von einer Bach-Kantate so geflasht sein wie ein gläubiger Christ von einem Slayer-Konzert.

Dann wüsstet ihr vielleicht auch, dass nicht nur Mahlers Fünfte einen komplett auf links und wieder zurück zu drehen vermag, wenn man nur bereit und willens ist, Ohr, Herz und Seele ein wenig zu öffnen. Ansonsten gilt: Wer mit solcher Musik nichts anfangen kann, soll's eben lassen und gut. Übrigens: Ich bin ja seit längerem raus aus dem Geschäft, frage mich aber schon, ob die Pubertät inzwischen so weit ins Erwachsenenalter gerutscht ist, dass es neuerdings auch mit Mitte zwanzig noch als rasend originell und witzig gilt, vermeintlichen Spießern ganzganz schlimme Pipikacka-Wörter um die Ohren zu hauen. Ich hatte eigentlich gedacht, mit deutschsprachigem Aggro-Gangsta-Rap sei das Schlimmste überstanden.

Ist es fortschreitende Vergreisung, wenn ich da intellektuell nicht so ganz mitkomme? Wieso soll es Scheißhauslyrik sein, wenn jemand über Liebe bzw. Sex schreibt wie vor fünfzig Jahren, es aber total zeitgemäß und angemessen sein, von Körbchengrößen, Spermageschmack, Schamhaaren, Parisern, vollgekackten Hosen und Pisse zu trällern? Schon mal was von Anaïs Nin gelesen? Henry Miller? Charles Bukowski? Benoîte Groult? D.H. Lawrence? Hunter S. Thompson? Nicht? Schade. Vieles davon ist älter als fünfzig Jahre. Hach, und diese legendäre, hihi, Nummer von Ricky Zaziky hat auch schon fast zwanzig Jahre auf dem Buckel.

Klar, Musik ist Geschmackssache und man kann darüber bekanntlich nicht wirklich streiten, aber bitte, das ist nun wirklich so öde wie der zigtausenste Witz über die katholische Kirche. Ja, schon wichtig irgendwie, dass es das gibt, hat der Verein sich auch ehrlich verdient, ist aber auch spottbillig andererseits und nur mäßig originell. Mut gehört erst recht nicht mehr dazu. Daher spukt mir die Frage im Kopf herum, wem dieser Soundtrack der Generation Porno eigentlich gefällt. Wer fährt darauf ab, wenn zwei sich so verkrampft in die Pose von Provokateurinnen und Tabubrecherinnen werfen, obwohl alle Tabus in dieser Richtung längst gebrochen und alle Provokationen abgehakt sind? Zwanzigjährige Bachelor-Studierende, die jetzt schon konservativer sind als ihre sechzigjährigen Eltern und sich auch mal ein bisschen verboten vorkommen wollen? Frisch Geschiedene auf der verzweifelten Suche nach dem wilden Leben?

Mehr Zielgruppen fallen mir spontan nicht ein. Geht auch schon wieder vorbei, der kurze Altherrenanfall. Ist ja in Ordnung, lasst sie machen. Wieso sollten, wenn die Jungs in einer Tour dreckige Sprüche reißen, die Mädels das nicht dürfen? Jede Generation muss wohl ihre Grenzen aufs Neue austesten. Besser so als in einem Gottesstaat leben zu müssen, in dem alles verboten ist. Aber diese Schwärmereien des Föjetongs, wie irre bahnbrechend und neu so was doch sei, die nerven schon arg.



9 Kommentare:

  1. Altherren , Blödsinn , hat damit überhaupt nichts zu tun , ich kenne den Vorwurf auch selber , bei mir wars dann eher der des Langweilig-Seins , wenn ich nicht jeden voll knorke fand , der primitives Verhalten mit Jugendlichkeit gleichsetzte.

    Auffällig häufig in Deutschland , dieses Mißverständnis , daß dümmliche Vulgarität was mit Freiheit zu tun hätte.
    Diese "Pipikaka"-Fraktion verschwindet so schnell im spießbürgerlichen Orkus , so schnell schaust du gar nicht , weil diese Art des "Saurauslassens" selber extrem spießig ist.
    Musik ist zeitlos , allerdings , zum Glück eine Selbstverständlichkeit unter Leuten , die Musik mögen , über Moden u.ä hinaus.

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    1. War ja auch nicht völlig frei von Ironie - es ist halt nur so ungeheuer ermüdend. Und dass unsere Qualitätspresse jedes Mal auf so was anspringt wie der Pawlowsche Hund...

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    2. Du meinst, wie bei der Rousch, die gern „Roche“ geschrieben werden will?

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    3. Ja, die Lady kam mir irgendwie in den Sinn. Wobei ich deren Werk, obwohl nicht gelesen, noch einen durchaus netten Tritt in den Hintern des grassierenden Hygiene- und Reinheitswahns fande.

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  2. Ich reg mich so gerne mit Dir zusammen auf! :-)

    Letztendlich das Ober-Thema: Pseudo-Coolness
    Die, die über ihre Coolness lamentieren müssen, sind letztendlich die Uncoolsten.

    Aber ich bin ja selbst ein verknöcherter Arsch, der zu uncool ist, solch coole Musik cool zu finden.
    Vermutlich, weil ich die Gruppe nicht kenne und aufgrund Deiner Beschreibung auch keinen Anlass sehe dass zu ändern.

    Liebe Grüße
    Dude

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  3. Geht man heute auf die musikhochschule, um dann zu klingen wie amateure 1980?

    Schwache kür.

    Ich hatte noch nie von »Schnipo« gehört und offensichtlich habe ich da auch nichts verpaßt.

    Oft habe ich schon im konzertsaal gesessen und vorher kaum gewußt, was passieren wird. Fäkalwörter waren nicht die attraktion, sondern musikstücke, die man sonst nicht zu hören bekommt.

    Wer das unglaubliche glück hat, auf eine musikhochschule gehen zu dürfen und dann zu blöde ist, gehört vergessen.

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    1. Mmtja, wenn das Hochschulwesen schon sonst weitgehend rückstandsfrei an einem vorbeirauscht, dann sollte es wenigstens den Horizont ein wenig geweitet haben.
      @Dude: Das freut mich. Und genau dieses Hörichinicht-Gehabe von senilen Gnatterköppe wie unsereins verhindert künftige Weltkarrieren! Nicht, dass mir das was ausmachte... ;-)

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    2. Das hochschulwesen ist doch völlig wurscht. Wofür studiert man musik, wenn einem die offensichtlich eiskalt am arsch vorbei geht?

      Die sind halt wahnsinnig subversiv, weil sie die knete ihrer eltern mit vollen händen aus dem fester werfen dürfen. Das macht mein leben nicht für einen pfennig schlechter, solange ich mir deren musik nicht anhören muß.

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  4. "Ach Kindchen..." ist wahrscheinlich die beste Reaktion auf die beiden Rebellinnen, und dann gleich der Griff zum Ausschalteknopf.

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