Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
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Mittwoch, 27. Juli 2016
Sturmreife Bürgerrechte
Komisch, mit jeder weiteren Schreckensmeldung einer neuerlichen Bluttat bin ich nicht etwa ängstlicher, sondern bloß immer müder und trauriger geworden. Ich mag keine Köpfe rollen und auch keine Gesetze verschärft sehen. Die Verschärfungen sind längst ausgearbeitet, die entsprechend Interessierten warten nur auf einen Anlass, sie aus der Schublade zu ziehen. Das panische Scharfmachergerede kotzt mich an, der hektische Aktionismus, angeblich dazu angetan, dass ich mich sicherer fühle, geht mir komplett am Arsch vorbei. Etwas ganz anderes tut Not. Ein Anfang wäre, den Zeigefinger in der Tasche zu lassen und es sich vorerst zu verkneifen, ganz genau zu wissen, wer oder was schuld ist. Wer immer das zu wissen vorgibt, lügt.
Apropos Zeigefinger: Es gab ja Zeiten, so bis vor zwanzig Jahren etwa, da schaute man hierzulande noch recht selbstzufrieden gen USA, wenn dort einmal mehr eine verwirrte, meist junge Seele um sich ballerte und Unschuldige traf, am Ende sich entweder selbst richtete oder von der Polizeit durchsiebt wurde. Bei uns, hieß es damals gern, sei so was natürlich auch nicht völlig auszuschließen, doch sehr unwahrscheinlich. Wir in Europa hätten schließlich Sozialstaat und Sozialarbeit, bei uns würde niemand im Elend sitzen gelassen. Nun, der Sozialstaat ist inzwischen auch bei uns weitgehend abgeschmolzen, Bildungsausgaben immer weiter gekürzt worden, jetzt kriegen auch wir es knüppeldicke. Wir holen auf. Und, was fällt den Maßgeblichen so als Erklärung ein?
Wir haben Verrohte importiert!
Killerspiele sind schuld!
Das Darknet ist schuld!
Merkel ist schuld!
Der - Schrecken aller Schrecken! - IS ist schuld! Radikalisiert junge Männer über Nacht.
Lösung: Schärfere Kontrollen, schärfere Gesetze, Aufweichen von Grund- und Bürgerrechten. Abschaffen, einschränken! Mobilisiert die Armee! Militarisierung, yeah! Härtere Gangart! Christliches Abendland eben. Die ewiggleichen, mit der Zuverlässigkeit eines Schweizer Uhrwerks vorgebrachten Patentrezepte autoritärer Zwangscharaktere. Ermüdend. Das Problem ist nur, dass der Widerstand dagegen schwindet, buchstäblich sturmreif geschossen ist. Kaum einer wagt es, gegen so viel dreiste Instrumentalisierung noch zu protestieren. Um das Andenken der Opfer und die Gefühle der Trauernden nicht zu verhöhnen. Die empörten Reaktionen auf Frau Künasts Tweet, in dem sie sie es wagte, dem allgemeinen "Erschießt das Schwein!" eine berechtigte, einem Rechtsstaat sehr wohl angemessene Frage entgegenzusetzen, sprechen Bände.
Wir können ja gern über alles reden. Allerdings nur, solange auch ein paar andere Aspekte nicht unter den Tisch fallen. Die Einseitigkeit grassiert nämlich derart besorgniserregend, dass man fast Methode dahinter vermuten kann. Es geht selbstverständlich in Ordnung, darauf hinzuweisen, dass die Täter von Würzburg, München, Reutlingen und Ansbach alle Migrationshintergrund hatten, aber das war es auch schon an Gemeinsamkeiten. Natürlich haben wir auch in Deutschland auch ein Problem mit islamistischem Terror. Wie sollten wir nicht? Das hätten wir aber auch ohne die Migrationswelle der letzten zwölf Monate. Weil wir der Westen sind, mit allem, was so dazugehört. Und weil wir in einer globalisierten Welt leben, deren Vorteile wir im übrigen immer gern mitnehmen. Ockhams Rasiermesser. Ich bin nicht gewillt, dämliche, weil rassistische Erklärungen zu akzeptieren, solange es naheliegendere und vor allem schlüssigere gibt.
Und wieso fragt eigentlich niemand, welche unrühmliche Rolle wieder einmal diverse Medien gespielt haben mit ihrer hysterischen Livetickerei? Ja, ich weiß. Der Druck, der unmenschliche! Wenn wir's nicht machen, dann machens' andere. Es ist inzwischen gut belegt, dass Amokläufer oft Nachahmungstäter sind. Längst gibt es psychologisch fundierte Leitfäden zur Berichterstattung in solchen Fällen. Und sie laufen alle auf das eine hinaus: Macht keinen unnötigen Wirbel, verschafft ihnen keine Bühne, nennt am besten nicht mal Namen. Natürlich will und muss die Bevölkerung informiert werden, wenn etwas passiert wie in München. Gern auch über Twitter und Facebook. Die bayerische Polizei hat das, wie man so hört, ganz ordentlich hinbekommen.
"Es sind goldene Zeiten für Verlierer, die ihre Namen in die Nachrichten bringen wollen. Der letzte Loser kann heute in einen Baumarkt oder einen Supermarkt gehen, eine Axt oder ein Messer kaufen und damit eine halbe Stunde später eine Eilmeldung auf Millionen Smartphones erzeugen und massenhaft Leuten die Stimmung versauen. Kurze Zeit später wird irgendwo ein Psychiatrieprofessor interviewt, was da wohl los war, und wenn der Verlierer "Allahu akbar" gerufen hat, müssen sich weltweit Muslime rechtfertigen." (Margarete Stokowski)
Was trieb einen Robert Steinhäuser damals an? Klarer Fall, Killerspiele, hieß es. Nehmt den Jugendlichen ihr Counter Strike et al. weg und alles wird gut. Dass das damalige, diesbezüglich inzwischen reformierte thüringische Schulsystem den Jungen seinerzeit ohne jeden Schulabschluss ins Leben entlassen hätte, so er sein Abitur versemmelt hätte, wurde erwähnt, aber nicht allzuoft. Ich bin ferner nicht gewillt, auch nur ein Stück an den endlosen Verschärfungs- und Kriminalisierungsspiralen der Bürgerlichen, den Vereinfachungs- und Diffamierungskampagnen der Rechten mitzudrehen, solange nicht auch diskutiert wird, welchen Anteil diese Gesellschaft, also wir alle, an all dem haben. Welchem Konformitätsdruck setzen wir junge Menschen aus? Wie groß ist inzwischen die Angst, nicht zu genügen, der Frust, seine Träume eben doch nicht verwirklichen zu können? Weil das große Versprechen des Westens längst hohl geworden ist.
Die simple und grausame Wahrheit ist doch die: Je mehr Abgehängte eine Gesellschaft hervorbringt, desto wahrscheinlicher werden solche Taten. Und die Abgehängten, das sind bei uns eben überdurchscnittlich oft junge Migranten. Aber nicht, weil sie Migranten wären.
Regelmäßig bekommen wir hierzulande von OECD, UNESCO et al. bescheinigt, dass wenige Schulsysteme weniger durchlässig sind, weniger Chancengleichheit bieten als unseres. In kaum einem anderen Land entscheidet soziale Herkunft so sehr den späteren Erfolg bzw. Misserfolg in der Schule. Tausende junger Menschen verlassen jedes Jahr die Schulen ohne Abschluss. Die Gründe dafür werden lieber den Betroffenen als eigenes Versäumnis, als individuelles Defizit angelastet. Ist auch viel bequemer. Jeder ist seines Glückes Schmied. Selber schuld, sollen halt fleißiger sein, die faulen, fetten Kinder der Unterschicht. Uns wurde doch auch nichts geschenkt. Muslime kommen bekanntlich aus Kulturen mit geringerer Leistungsorientierung. Haha, sollen sich nur mal ein Beispiel an den Vietnamesen nehmen.
Damit punktet man nicht nur beim Pöbel, das ist auch noch viel billiger als Geld fürs Bildungswesen in die Hand zu nehmen, für Sozialarbeit, für Ausbildung, dafür, sich zu kümmern, und zwar professionell. Haben aber leider auch ihren Preis, diese Einsparungen. Eine Logik, die sich Krämerseelen noch nie erschlossen hat.
8 Kommentare:
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Moin Stefan, stimme dir in allem soweit zu, nur die Nummer mit dem Razor ist zu stark vereinfacht. Die Probleme sind vielschichtig und mannigfaltig, die Frage ist nur wer legt worauf den Focus, was wird zu erst abgearbeitet und nicht zu allerletzt wem nütz was.
AntwortenLöschenAch Gott, das ist doch das Problem des Q-Journalismus
Löschen(wobei Q eher für Quote als für Qualität steht): die publizieren doch um jeden heißen Brei herum. Wieso zu starke Vereinfachung? Old Ockham behält mal wieder Recht – zumal wir nicht nur im Neoliberalismus, sondern auch in der Neoscholastik (ökonomiezentriert) unser Leben fristen müssen, sofern wir nicht zum oberen ‰ gehören.
Ich habe die Berichterstattung nicht lückenlos verfolgt , aber sollten alle drei Taten auf den Migrationshintergrund abheben , dann ist das schlicht falsch.
AntwortenLöschenDer schlimmste der Amokläufer , München , hat sich vorher intensiv mit der Tat des Anders Breivik beschäftigt , und war persönlich in Winnenden ( Amoktat in Deutschland).
Er sah sich also eindeutig in der Linie der europäisch-WESTLICHEN Amokläufer .
Hinzu kommt , daß es erstmals eine Großstadt erwischt hat , was auf eine weitere Eskalation hindeutet , für Amoktaten ist das eher untypisch.
Das Stokowski-Zitat ist hochproblematisch , solche Leute sind eben keine Loser , sondern immer Leute , die eigentlich einiges drauf haben , und die dann das Pech haben , immer belastete , aber "gut-bürgerliche" und wohl auch daher nicht als schwierig erkannte Familienverhältnisse vorzufinden.
Die Kombination aus beidem macht sie zu einem klasse Angriffsziel für Mobbingtäter , wer sie als Loser bezeichnet , spricht selber die Sprache dieser Täter.
Darüberhinaus Zustimmung zum engagierten Artikel , der genau in die richtige Kerbe haut.
Vielleicht hätte Frau Stokowski etwas präziser formulieren sollen (nicht immer ihre Stärke) und schreiben sollen: "die sich für Loser halten" - das träfe es genauer. Und Breivik als 'intellektueller' Amokläufer unterscheidet sich von den meisten, dass er sich nicht umbrachte.
LöschenHerzlichen Dank für diesen wichtigen und richtigen Kommentar. Der Kern gehört nach meiner Ansicht deutlich hervorgehoben:
AntwortenLöschenDie simple und grausame Wahrheit ist doch die: Je mehr Abgehängte eine Gesellschaft hervorbringt, desto wahrscheinlicher werden solche Taten. Und die Abgehängten, das sind bei uns eben überdurchschnittlich oft junge Migranten. Aber nicht, weil sie Migranten [sind].
Anfangs heißt es, "der Sozialstaat [sei] weitestgehend abgeschmolzen". Da ich selbst nicht auf diesen angewiesen war meine ernstgemeinte Frage: welche Sozialleistung gibt es denn (im Vergleich zu vor 20 Jahren) nicht mehr? Wenn ich mir die Haushaltzahlen so ansehen, steigen die Aufwendungen für "Soziales" stetig. Wie kommt es dann zu diesem Resümee? Das Schlagwort "Hartz-4" alleine reicht mir nicht...
AntwortenLöschenIst ein ziemliches Fass, das Sie da aufmachen, aber man kann ja mal anfangen. Ersatzlos abgeschafft wurde in der Tat eher wenig. Die Arbeitslosenhilfe, die sich immer noch am letzten Einkommen orientierte etwa. Einmalzahlungen für Sozialhilfeempfänger. Sterbegeld. Berufsunfähigkeitsrente für alle ab Jahrgang '62. Ansonsten wurde gekürzt. Bezugsdauer von ALG I halbiert. Rentenniveau abgesenkt. Immer mehr Zuzahlungen bei immer mehr KK-Leistungen. Etc. etc.
LöschenFerner sollte man sich nicht von steigenden Sozialaufwändungen täuschen lassen. Das Bruttoninlandsprodukt steigt ja auch. Im Verhältnis zum BIP bewegt sich die diesbezügliche Quote seit Mitte der Siebziger konstant bei ca. 30%.
Dann müsste man noch definieren, was Aufwändungen für Soziales genau sind. Sind es nur die direkten Transferleistungen? Sind die Leistungen der ges. Sozialversicherungen eingerechnet (für die die Bezieher ja eingezahlt haben)? Sind die Beamtenpensionen mit drin (die m.W.n. auch aus dem Sozialetat bezahlt werden usw.
Guter Text. Volle Zustimmung.
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