Mittwoch, 21. Dezember 2016

Der dünne Firnis


"Heuchelmord" (Friedrich Küppersbusch)

Am liebsten wäre mir, hier guten Gewissens schreiben zu können: Zu dem, was vorgestern in Berlin geschehen ist, fällt mir nichts ein. In der Tat, es gibt ja nichts, das nicht schon zu Paris/Nizza/München etc. geschrieben wurde, ob von mir oder von anderen, das nicht 1:1 auch für Berlin gelten kann. Und wenn schon, dann gibt es angenehmeres, über das man sich so kurz vor Weihnachten zu schreiben genötigt sieht. Ist man atheistisch oder agnostisch unterwegs, kann man sagen: Hey, Weihnachten sind zwei ganz normale Tage wie alle anderen, die halt gnadenlos mit Bedeutung überfrachtet werden, who cares? Das hilft aber denen nicht, für die das Weihnachtsfest etwas bedeutet und für die das daher besonders belastend ist. Man kann das belächeln, aber dann würde man sich geistig auf eine Stufe mit jenen begeben, mit denen man bestimmt nicht auf einer Stufe stehen will, und von denen am Ende noch die Rede sein wird.

Gesetzt den Fall, es steckt wirklich Islamismus hinter dem, was vorgestern passiert ist (was wir nicht wissen, aber verdächtig viele überraschend sicher zu wissen vorgeben, sehr freundlich jedenfalls von den Tatverdächtigen, andauernd ihre Ausweise irgendwo liegenzulassen), dann wäre es auf eine Weise, rückblickend betrachtet, erwartbar gewesen. Wieso sollten wir in Deutschland eine Insel der Seligen sein? Nicht selten beschleicht mich das Gefühl, bei nicht wenigen Deutschen schwingt da immer auch ein wenig gekränkte Eitelkeit mit. Wie kann jemand ihnen, dem properen, friedliebenden Supervolk, das immer nur gute Absichten hegt, doch nur das will, was selbstverständlich ist, und ganz friedlich in der Mitte Europas auf Kosten der gesamten restlichen Welt leben will, bloß so was antun? Menno!

Der Erfolg von AfD et al., die Sehnsucht nach dichten Grenzen, Wagenburg, Volksgemeinschaft speist sich ja zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daraus, dass Menschen die diversen internationalen, teils blutigen Verstrickungen Deutschlands schlicht nicht zur Kenntnis nehmen wollen und  es lieber kuschelig hätten. Ist es nicht vielleicht ein klein wenig blauäugig zu erwarten, der drittgrößte Waffenexporteur der Welt zu sein und eine aktive, will heißen: kriegerische Rolle auf der Welt zu spielen, fiele nicht irgendwann in irgendeiner Form auf einen zurück?

Wie kann man wegen der Flüchtlingswelle aus Afrika Panik schieben, es aber gleichzeitig ignorieren, dass der Kontinent mittels Freihandelsabkommen, die wir selbst uns heftigst verbitten, nach Strich und Faden ausgebeutet wird? Klar, dem Afrikaner an sich ethnisch oder kulturell bedingte Unfähigkeit zum erfolgreichen Wirtschaften unterzuschieben, ist da viel einfacher und bequemer. Wer was von dichten Grenzen faselt und Merkels Schuld, soll erst mal einen Plan vorlegen, wie er Deutschland weltweit komplett zu isolieren gedenkt, ohne hier an Lebensstandard einzubüßen (denn das wollen diese Leute ja auch nicht), dann können wir reden.

"Anschlag, Anschlag, Anschlag, Anschlag, Anschlag, wir wissen es natürlich noch nicht genau, aber: Anschlag, Anschlag, Anschlag, Anschlag, Anschlag,…" (Deutsches Qualitätsfernsehen am Montagabend ad nauseam)

Und natürlich reklamiert der IS den Scheiß für sich. Und, was heißt das jetzt? Der IS faselt schon vom heldenhaften Kampf eines seiner Gotteskrieger gegen die Ungläubigen, wenn irgendwo ein Sack Reis umkippt oder so. Zur Information, Daesh-Wixer: Ich habe immer noch keine Angst vor euch, capisce? Wer klug ist (es geht wie immer nur um dumm gegen klug), wird lernen, mit euch und euren Taten irgendwie zu leben. So wie die Briten jahrzehntelang mit denen der IRA gelebt, man im Baskenland mit denen der ETA gelebt hat. Auch deren Bomben zerfetzten und verstümmelten wahllos Unschuldige. Shit happens. Heißt das, die Toten gering zu achten, das Leid der Hinterbliebenen nicht gebührend zu würdigen? So hätten es interessierte Kreise ja gern.

Mangels Erfahrung  habe ich keine Ahnung, wie es ist, einen geliebten, einen nahestehenden Menschen durch Fremdeinfluss jäh und unerwartet zu verlieren. Glücklicherweise. Ich begehre auch nicht, diese Erfahrung zu machen. Ich glaube aber nicht, dass ich mir das vorwerfen lassen muss von Leuten, die, selbst von nichts betroffen außer von sich selbst, das Leid der Hinterbliebenen bloß als Legitimation nehmen, überall ihren rassistischen Dreck hinzukübeln.

Ich weiß auch nicht, ob es wirklich etwas anderes ist, wenn jemand aus meinem engeren Umfeld stirbt, weil ein Lkw-Fahrer eingedöst war und ins Stauende gerauscht ist, oder weil der Pilot eine vollbesetzte Linienmaschine mit Absicht in einen Berg gesteuert hat, weil seine Depression nicht ernst genug genommen worden ist oder eine Feuerwerksfabrik die Sicherheitsvorkehrungen nicht beachtet hat. Keine Ahnung, ob das Wissen, ein geliebter Mensch sei bis zum letzten gegen eine Horde von Feinden kämpfend im Dienste des Vaterlandes ‚gefallen‘, einem im Zweifel irgendwie helfen kann. Und nein, ich weiß auch nicht, wie es sich anfühlt, wenn meine Begleitung auf einem gemeinsamen Weihnachtsmarktbesuch von einem Lkw tödlich verletzt wird und ich damit irgendwie weiterleben muss. Mit der Trauer, der Leere. Mit den Schuldgefühlen, den Fragen, den Selbstzweifeln. Was wäre, wenn wir zehn Minuten später da gewesen wären? Hätte ich vielleicht doch etwas verhindern können? War ich nicht aufmerksam genug?

Hauptsache, ihr habt Spaß! (via titanic-magazin.de)
Hauptsache, ihr habt Spaß! (via titanic-magazin.de)
Man soll Tote aber auch nicht gegeneinander aufrechnen. Wird irgendjemand wieder lebendig, trauert irgendein Angehöriger weniger, wenn man darauf hinweist, dass durch Krankenhauskeime, ärztliche Kunstfehler und Verkehrsunfälle viel mehr Menschen ums Leben kommen als durch so genannte Terroranschläge? Ist einem Opfer der Kölner Silvesternacht geholfen, wenn, vielleicht gar nicht zu Unrecht, darauf verwiesen wird, es sei weit weniger passiert als kolportiert werde und beim Oktoberfest gehe es auch nicht anders zu? Nein, wiewohl ich nicht um jedes Opfer trauern kann, das mir die Nachrichten präsentieren, zeugt so etwas von Mangel an Empathie und Anstand.

Anstand ist ein gutes Stichwort. Und damit kommen wir zum ekligen Wurmfortsatz des Ganzen. Man soll die Toten, die anderen Opfer und das Leid der Hinterbliebenen nämlich verdammt noch mal auch nicht instrumentalisieren. Wer indirekt kolportiert, es sei sehr wohl ein Unterschied, ob jemand durch islamistischen Terror zu Tode gekommen sei oder auf andere Weise, ist dem Islamismus bereits auf den Leim gegangen und macht sich mit dessen Logik gemein. Dort glaubt man nämlich auch, es gäbe höher- und minderwertigere Tote. Ich sag nur: Märtyrer und 72 Jungfrauen. Wertvoll, unbezahlbar gar, sind die Toten von Berlin nämlich für die Hetzer und Scharfmacher.

Instrumentalisierung passiert inzwischen mit einer Selbstverständlichkeit und Dreistigkeit, die ich vor einigen Jahren noch für undenkbar gehalten hätte. Dass Markus Pretzell widerwärtigerweise per Twitter schon was von 'Merkels Toten' rufmordete, bevor überhaupt irgendwas bekannt war, ist schon gar nicht mehr überraschend. Ebenso erbärmlich wie durchsichtig Horst Seehofers Bemühungen, auf keinen Fall rechts überholt zu werden. Wer glaubt, ich sei zu hart in meinem Urteil, braucht sich nur anzuschauen, was Aron Banks, Parteifreund von Ex-UKIP-Chef Nigel Farage und rechtspopulistischer Bruder im Geiste, zur Nicht-Wahl Norbert Hofers in Österreich zu sagen hatte. Er meinte wörtlich, es habe in Österreich eben noch nicht genug Morde und Vergewaltigungen gegeben, denen gehe es halt noch zu gut. Wahrlich, Zivilisation ist ein dünner Firnis.




3 Kommentare:

  1. Instrumentalisiert wird aber auch von der anderen Seite. Wenn Cem Özdemir sagt, der Terror habe mit rechter Hetze zu tun, dann ist das ziemlich gewollt. Sachlich ist das mit nichts zu begründen, da fragt man sich schon, inkompetent oder instrumentalisierend- auf jeden Fall schadet es einer Analyse mit kühlem Kopf, die jetzt eigentlich angesagt wäre.

    Guter Artikel, der erfrischenderweise einen Scheiß gibt auf irgendwelches Betroffenheitsgetue.

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  2. Stimme meinem Vorredner zu: sehr guter Post.

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    1. Danke.
      @Art: Sicher richtig, aber ich denke, ab einer gewissen Fallhöhe lässt man in der Politik keinen einzigen Satz mehr vom Stapel ohne politische Hintergedanken. Was da gerade von rechts passiert, dreht die Ekelschraube mindestens eine Umdrehung weiter.

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