Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
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Donnerstag, 29. Juni 2017
Die fast Allmächtige
"Merkel hat für die von der SPD verlangte Bundestagsabstimmung den Fraktionszwang in der Union aufgehoben." - so war es im Zusammenhang mit der so erfreulichen wie zeitgemäßen Entscheidung des Bundestages über die Ehe für alle in einem Erzeugnis der Qualitätspresse zu lesen, und so ähnlich war es in diversen weiteren zu lesen. Wow, Angela Merkel kann also den Fraktionszwang aufheben! Wie macht sie das bloß? Was kann sie noch alles? Bzw. was macht sie als nächstes? Todkranke per Handauflegen heilen? Übers Wasser laufen? Wasser in Wein verwandeln? Mir Relativitätstheorie und Quantenmechanik erklären? (Obwohl ihr das qua Ausbildung noch am ehesten zuzutrauen ist.)
Das Nervige ist ja nicht, dass Medien Fehler machen. Kann jedem passieren, immer und überall, und wer Fehlerfreiheit fordert, hat vom Leben wenig begriffen. Ferner geht undifferenziertes, unreflektiertes, auf Ressentiments gegründetes 'Lügenpresse'-Gepöbel mir gewaltig auf den Zeiger. Weil die, von denen so was kommt, damit allenfalls zeigen, dass sie in Puncto Niveau den Adressaten näher stehen als ihnen möglicherweise lieb ist. Anders gesagt: Wer Medien pauschal Lügen und Manipulation unterstellt, sollte sich im klaren sein, damit nicht unbedingt ein leuchtendes Vorbild für jene differenzierte und ausgewogene Analyse abzugeben, die er ihnen abverlangt. Umso ärgerlicher aber, in welchem Maße in hiesigen Redaktionen schlicht Falsches zuweilen offenbar ungeprüft nachgeplappert und trotzdem Meinungsführerschaft und Quasi-Verfassungsrang als Fünfte Gewalt für sich reklamiert wird.
Weder Merkel noch ein anderes Verfassungsorgan im Dunstkreis des Bundestages kann nämlich den Fraktionszwang aufheben, weil ein wie auch immer gearteter Fraktionszwang überhaupt nicht existiert. Laut Artikel 38 des Grundgesetzes waren und sind Abgeordnete allein ihrem Gewissen verpflichtet. Darauf hat schon Hildegard-Hamm-Brücher in den Achtzigern hingewiesen. Kein Fraktionsvorsitzender oder parlamentarischer Geschäftsführer kann einen Abgeordneten zwingen, anders zu stimmen als der es vorhat. Fraktionsdisziplin hingegen gibt es durchaus. Die beruht auf internen Absprachen, soll für eine gewisse Verlässlichkeit bei Abstimmungen sorgen und sollte nicht mit Fraktionszwang verwechselt werden.
Artikel 38 wurde 1949 übrigens ins Grundgesetz aufgenommen, um in diesem Punkt ein für allemal Rechtssicherheit zu schaffen. Etliche ehemalige Abgeordnete, unter anderem Theodor Heuss, beriefen sich nämlich nach 1945 darauf, sie hätten 1933 nur deswegen für das Ermächtigungsgesetz gestimmt, weil sie per Fraktionszwang dazu gezwungen gewesen seien.
Nun gut, Presse war und ist im Kern eine interessengeleitete Veranstaltung, das ist bekannt. Wer aber Angela Merkel leichtfertig die Macht zuschreibt, einen angeblichen Fraktionszwang aufheben (und demnach umgekehrt auch verhängen) zu können, muss sich bewusst sein, damit am Narrativ einer mit quasi unbegrenzter Macht ausgestatteten Übermutter und Anführerin zu stricken und das Parlament weiter zu marginalisieren. Ob das leichtfertig geschieht oder gewollt, das möge jeder für sich selbst entscheiden.
Fun fact: Das Amt des 'Kanzlerkandidaten' existiert ebenfalls nicht.
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