Mittwoch, 31. Januar 2018

Überschätztes Mitgefühl


Mitgefühl kann etwas Wunderschönes sein, keine Frage. Ein lieber Mensch, ob nahestehend oder nicht, der ahnt, dass es einem schlecht geht und ohne viel Federlesens im richtigen Moment das Richtige sagt und tut, kann ein Segen sein. 

Wenn Mitgefühl jedoch zur bloßen Floskel verkommt, zum spottbilligen Marketingmittel, aus dem rein gar nichts folgt, wird es eklig. Neulich gab mein smartes Endgerät wieder einmal den Geist auf und weigerte sich, hochzufahren. Muss daher eingeschickt und repariert werden. Dauert. Das ist umso ärgerlicher, als dass das bedeutet, sich danach längere Zeit mit dem Wiederherstellen diverser Daten befassen zu müssen. Ja, natürlich hätte ich mal ein Backup machen müssen. Nur reicht bei einem Android-Gerät ein reines Backup mithilfe der Hersteller-Software nicht wirklich aus. Denn das sichert nur Kontakte, Telefonate, SMS ("Was ist eine SMS, Opa?") sowie Mediendateien. Alles andere, also diverse Apps, Whatsapp/Threema etc., muss extra in irgendwelchen Clouds abgelegt, wofür weitere Benutzerkonten mit neuen Passwörtern angelegt werden müssen etc. Aus 'mal eben schnell ein Backup machen' wird da leicht mal ein abendfüllendes Programm. Also lässt man es schon mal. Dummerchen.

Weil das Gerät zum wiederholten Male innerhalb eines Jahrs defekt war, befand ich mich zum Zeitpunkt meines Anrufs bei der Hotline des Herstellers in einer, sagen wir, leicht genervten, um nicht zu sagen: eher gereizten Stimmung. Ich meine, wir leben im Jahr 2018 und ein Smartphone, das nicht der absoluten Oberklasse angehört, sollte doch eigentlich eine ausgereifte Technik sein. Sollte man meinen. Und dann kamen sie mir mit ihrem verschissenen, verlogenen, aufgesetzten Mitgefühl. "Ja, Herr Rose, das ist wirklich unangenehm. Ich kann Ihren Ärger wirklich sehr gut verstehen. Leider kann ich Ihnen nur anbieten, dass Sie das Gerät einschicken und wir das für Sie reparieren." (Will heißen: Ich habe hier gerade den Gesprächsleitfaden aufgeschlagen neben mir liegen, Kapitel: Wie beruhige ich einen aufgebrachten Kunden? Außerdem tue ich mal so, als sei unsere gesetzliche Pflicht, nämlich Nacherfüllung bei mangelhafter Lieferung gem. § 365 BGB, eine großartige Serviceleistung, in der Hoffnung, der wird das schon nicht merken.)

Man bemüht sich nicht um eine Lösung. Man zeigt kein Interesse, den Kunden zufrieden zu stellen, sondern reitet Prinzipien und beharrt darauf, im Recht zu sein. Konsequenz: Kunde verärgert - Kunde weg - Kunde kommt nicht wieder - Kunde wird es allen erzählen, die er so kennt. Nach Meinung jener, die sich auch nur rudimentär auf das Handwerk des Verkaufens verstehen, ist das der worst case, die Höchststrafe.

Ich verstehe das nicht. Das ganze Prinzip nicht. Es gibt keinen Sinn. Es ist einfach nicht rational. Obwohl der Hersteller meines streikenden smarten Fons aus Japan stammt, gibt es selbstverständlich eine deutsche Firmenzentrale und einen deutschen Kundendienst. Wieso bringt man sich in Deutschland nach wie vor mutwillig um Umsätze, indem man sich hartnäckig weigert zur Kenntnis zu nehmen, wie Kundendienst geht? Statt dessen lebt man offenbar weiter in jenem autoritären Herrenreiterkosmos, in dem der Kunde gefälligst demütig und dankbar zu sein hat für die unverdiente Ehre, gütigst Produkte und Dienstleistungen verkauft zu bekommen. Du kleiner dummer Privatmann, wir große mächtige Firma XY, capisce? Ich schwoff ab. Wo war ich? Mitgefühl.

Ähnlich verhält es sich, wenn Mitgefühl zur bloßen Wahlkampfformel degeneriert. Dann ist größtmögliche Obacht geboten und alle Alarmglocken auf volle Pulle. So ließ einst der heute völlig zu Recht vielfach vergessene George W. Bush verlauten, er strebe einen 'Mitfühlenden Konservatismus' (Compassionate Conservatism) an. Und was ein rechter Neokonservativer (lies: Neo-Neoliberaler) unter Mitfühlen versteht, das fasste Myron Magnet 1999 im Wall Street Journal ganz offen wie folgt zusammen:

"Compassionate conservatives [...] offer a new way of thinking about the poor. They know that telling the poor that they are mere passive victims, whether of racism or of vast economic forces, is not only false but also destructive, paralyzing the poor with thoughts of their own helplessness and inadequacy. The poor need the larger society's moral support; they need to hear the message of personal responsibility and self-reliance, the optimistic assurance that if they try – as they must – they will make it. They need to know, too, that they can't blame 'the system' for their own wrongdoing."

Dieser Perfidie kann man so einige Namen geben, aber Mitfühlen käme mir bestimmt nicht in den Sinn. Kurz zusammengefasst: Für Neokonservative (lies: Neo-Neoliberale) bedeutet Mitgefühl gegenüber Armen, ihnen mit Nachdruck reinzudrücken, dass sie allein verantwortlich seien für ihre Situation und bloß nicht auf die Idee kommen sollten, Hilfe vom Staat zu erwarten für ihre Faulheit und dafür, sich nicht heftig genug Mühe gegeben zu haben. Merke: Neoliberalismus kann ziemlich geil sein, wenn man zu den Gewinnern zählt. Ganz ähnlich dürfte es sich verhalten, wenn Rechte neuerdings von Solidarität faseln, so wie jüngst Bjørn 'dås Brød' Høcke vom 'solidarischem Patriotismus'. Niemand wird dereinst sagen können, von nichts gewusst zu haben, weil sich das doch so nett angehört hat damals. Merke: Illiberale, völkisch-autoritäre Gesellschaft kann ziemlich geil sein, wenn man zu denen gehört, die befugt sind, zu kommandieren und zu schurigeln.






7 Kommentare:

  1. Myron Magnet 1999? Passt hervorragend als Prolog zu den Entwicklungen seither … Aber ja, man muss es nur wollen,
    dann schafft man es aus der Favela nach Harvard aus eigener
    Kraft ;( Geld spielt ja bekanntlich die geringste Rolle beim
    Karriereprojekt … Das eigentliche Problem: inzwischen glauben diesen Stuss sogar die, von denen in diesem Gesabber die Rede ist.
    Kann´s und werde es nicht und nie fassen …

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  2. Kommt darauf an, was Höcke meint.
    Im verlinkten Artikel wird der Vergleich mit der NSDAP gezogen, die in der Frühphase eine starke sozialpolitische Ausrichtung gehabt habe.
    Das ist nur bedingt richtig.
    Einerseits hatten es die Nazis leicht, sich als soziale Alternative zu zeigen, weil es der damals genauso entfesselte Kapitalismus für nötig fand, die Sozialleistungen auf teilweises Hungerniveau zu kürzen und alles, selbst der Arbeitsdienst, besser schien als diese Perspektive.
    Zum anderen hat niemand die Arbeiterschaft so an die Kandarre genommen wie die NSDAP.
    Ultrarigider Arbeitszwang mit KZ-Drohung im Hintergrund, Arbeitsdienst, reichsweite Stellenzuweisung, und ab 1937 mußte jeder Arbeiter ein Arbeitsbuch führen, das vom parteinahen Schichtleiter oder Vorarbeiter kontrolliert wurde.

    Neoliberale Medien sind glatt in der Lage, selbst so etwas noch als "links" zu bezeichnen.
    Sollte Höcke allerdings einen wirklich linksliberalen Sozialstaat meinen, frei von Arbeitszwang, hätte das ein Potenzial, das sich gewaschen hat.
    Linke Politik ohne idenditäre Benachteiligungen, das ist sogar mehrheitsfähig.

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    1. Die Parallelen sind in der Tat schlagend. Geradezu gruseln kann man sich, wenn man sich näher mit dem Kabinett Brüning befasst...
      Ein Sozialstaat a'la AfD wird allein deswegen nicht links'liberal' sein, weil er noch stärker ausgrenzen und selektieren würde als der herrschende. Man wäre dann vielleicht einen (gefühlten) Tick generöser zu Deutschen.
      @ert_ertrus: Das Gedankengut war ja schon vorher in der Welt. Es wurde ab Ende der Neunziger noch mal brutaler kommuniziert.

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  3. @Stefan
    Das vermute ich auch, daher sollten liberale Kräfte mal in die Puschen kommen, um dieses Potenzial selber abzuholen und nicht denen zu überlassen, die nur vorgaukeln, es zu tun.

    "Kabinett Brüning"
    Ganz wichtiges Stichwort. Dieselbe Austerität, zwar nicht so heftig in Deutschland, dafür aber wird sie nach Europa exportiert.

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  4. >@ert_ertrus: Das Gedankengut war ja schon vorher in der Welt. Es wurde ab Ende der Neunziger noch mal brutaler kommuniziert.<

    Kein Thema – spätestens seit 1973 in Chile wurde es sogar schon exerziert!

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  5. Nun, ich traue es mich kaum zu schreiben.

    Aber du hast auch mein Mitgefühl. Wenn ich mir vorstelle, all die Notizen auf meinem Tablet wären auf einmal weg, bekäme auch ich das kalte Grausen.

    Allerdings habe ich gerade mal das Gehalt eines Call-Center-Agents gegoogelt. Die bekommen etwas mehr als 1600 Euro im Durchschnitt.

    Na, ja. Bei einem drittklassigen Gehalt gibt es halt auch nur drittklassiges Mitleid...

    Alles im Niedergang, man
    Markus (https://der-5-minuten-blog.de)

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    1. Es ist möglicherweise nicht deutlich (genug) geworden, dass ich den armen Teufeln im Callcenter nicht den geringsten Vorwurf mache. Mir ist selbstverständlich völlig klar, dass die bloß den Müll zu exekutieren haben, was weiter oben entschieden wird. Hätte ich vielleicht erwähnen sollen.

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