Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
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Samstag, 16. März 2019
Schmähkritik des Tages (26)
Heute: Magnus Klaue über Bernhard Schlinks 'Der Vorleser'
"1995, acht Jahre nach seinem Krimidebüt und sechs Jahre nach dem Mauerfall, sah Schlink die Zeit für seinen genozidalen Pageturner gekommen, dessen Protagonistin nach Beteiligung an Holocaust und Wiederaufbau noch über genügend Restlibido verfügt, um den weitaus jüngeren Ich-Erzähler, dessen erste Liebhaberin sie ist, nach der wöchentlichen Kernseifenwaschung erschöpfend und moralisch einwandfrei zu befriedigen. Sadistische Gutmütigkeit, sentimentale Herzenskälte, viehischer Anstand und bodenständige Sexualhygiene des Romans wie seiner Heldin sicherten diesem einen Spitzenplatz auf den Leselisten von Oberstufenklassen, VHS-Kursen und DaF-Seminaren. Effizient bei der Beihilfe zum Massenmord, aber im Einzelfall kulant, lebenslustig anpackend bei der Juden- wie der Trümmerbeseitigung und mit einem Herz für Unterprivilegierte, avancierte Schlinks […] Selbst-ist-die-Frau, die sich vom Goebbels- zum Primo-Levi-Fan mausert, zum Idol einer Generation aufarbeitungsgeschädigter Sozialkundelehrer, die Schlink fast noch mutiger fanden als Gudrun Pausewang.
Die kollektive Hirnwaschanlage, als die »Der Vorleser« seither fungiert, hat in Vergessenheit geraten lassen, dass Schlink Pausewang nicht nur in puncto Demagogie und Perfidie, sondern auch in literarischer Unfähigkeit übertrifft." (jungle world, 14.03.2019)
Anmerkung: Der Nationalsozialismus dockte unter anderem an das Bewusstsein an, bei den Deutschen handele es sich um ein prinzipiell friedliches, harmloses, gutmeinendes Höchstkulturvolk, dem sein verdienter Platz an der Sonne schnöde von jüdisch-imperialistischen Krämerseelen verwehrt werde, die die halbe Welt finanziell im Griff haben und sich für keine Gemeinheit zu schade sind. Und gab damit all jenen Zucker, die sich betrogen und zu kurz gekommen fühlten. Denn der friedliche, harmlose gutmeinende, seinen Anführern brav hinterherdackelnde Deutsche ist grundsätzlich Opfer. Nach dem ersten Weltkrieg Opfer einer defätistischen linksjüdisch-kommunistisch unterwanderten Arbeiterschaft, die der Front den Dolch in den Rücken rammte. Nach dem zweiten Opfer des irren Hitler und seiner Verbrecherbande. (Und seit neuestem Opfer linksgrünversiffter Gutmenschen, die ihm an seine Meinungsfreiheit wollen.)
Nach einer Schamfrist von ziemlich genau vierzig Jahren herrscht seit den Neunzigern ein anschwellendes Gesummse aus Erzählungen, in denen penetrant geschraubt wird, dass auch Deutsche unter den Opfern und überhaupt alle irgendwie nicht so waren, nicht einmal die KZ-Wärterin von Auschwitz. So führt eine direkte Linie von Schlinks erwähntem Initiationsgesaftel über Günter Grassens Absaufballade 'Im Krebsgang' (1997) über das Bunkertheater 'Der Ontergang' (2000), die Bombenteppichschmonzette 'Dresden' (2006), den Vertreibungskitsch 'Die Flucht' (2007) zur 'Fünf Freunde im Krieg'-Travestie 'Unsere Mütter' unsere Väter‘ (2013) und der zweiten Staffel von Charité (2019). Dort sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, endgültig alle im Widerstand, zumindest aber ein Stück weit dagegen. Und wenn nicht? Meine Güte, es war halt Krieg, da hat man das alles ja gar nicht so mitbekommen.
Von da ist es gar nicht mehr weit zum opferbesoffenen Gedenken an den 'angloamerikanischen Bombenterror' von Dresden.
P.S.: Ich glaube ja, zum Erfolg von Schlinks gruseligem Bildungsroman hat auch die Tatsache beigetragen, dass es sich um ein vergleichsweise schmales Bändchen handelt, dessen Lektüre zudem kaum einen durchschnittlich begabten Mitteleuropäer überfordert. Für Schullektüren inzwischen nicht unwichtig. Nicht nur der Schüler wegen.
2 Kommentare:
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Langer Text, aber sehr gut recherchiert und lesbar:
AntwortenLöschenhttps://jungle.world/artikel/2011/06/viele-kleine-schindlers
"Wer als fünfjähriges Kind mitansehen musste, wie die Eltern von russischen Soldaten erschossen wurden, dem ist in seinem Schmerz nicht durch den Verweis geholfen, höchstwahrscheinlich hätten seine Eltern wie die meisten Deutschen das Naziregime unterstützt und seien deswegen selbst an ihrem Schicksal schuld gewesen. Die individuelle Trauer ist an dieser Stelle durchaus berechtigt, und das resultierende Trauma ist in seiner Ernsthaftigkeit zu akzeptieren. Die Frage der Trauer verändert sich jedoch grundlegend, sobald sich der Diskurs vom Individuellen in die Öffentlichkeit verschiebt. Wenn in mit Millionenaufwand produzierten Filmen um die Opfer von Dresden und der Flüchtlingstrecks getrauert wird, gilt die Trauer nicht länger konkreten Personen, sondern einem Kollektiv, in diesem Fall der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Kriegsendes. Dieses Kollektiv öffentlich zu betrauern, ist mittlerweile kein Zeichen einer mindestens nationalkonservativ zu nennenden – und damit eher randständigen – politischen Überzeugung. Spätestens mit den genannten Filmen ist diese Trauer integraler Bestandteil des Diskurses der politischen Mitte und seine Legitimation außer Frage. Wissenschaftssendungen wie »Planet Wissen« entdecken das Thema für sich und verwandeln, was eben noch »Die Flucht« war, in den Tatbestand der »Vertreibung« (7). "
Danke, lohnende Lektüre mit wichtigen Ergänzungen. Nur leider eine ziemliche Bleiwüste...
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