Samstag, 4. Januar 2020

Lektüre zwischen den Jahren


So, paar Tage frei gehabt. Und sogar Muße, ein wenig Belletristisches einzupflegen. Wen es interessiert:

Adel ohne Kitsch

So genannte historische Romane sind normalerweise grottenöde, wenn die Zeit, in der sie spielen, bloße Kulisse ist. Schwer zu verdrängen für mich Marion Zimmer Bradleys 'Die Feuer von Troja'. Im Prinzip bloß eine phrasenstrotzende amerikanische Soap Opera in Sandalen und langem Rauschegewand. Weit geschickter stellte sich Umberto Eco an in seinem Erstling 'Der Name der Rose'. Der Bologneser Professor legte sich zusätzlich zu der Aufgabe, eine spannende Geschichte zu erzählen, die Hürde in den Weg, das nach bestem Wissen aus der Perspektive eines damaligen Menschen zu tun, nämlich dem Ich-Erzähler Adson von Melk. Das erschloss sich zwar schwerer, brachte einen als Leser aber weiter.

(Für alle, die etwas lernen wollen darüber, wie schreiben funktioniert, ist Ecos 'Nachschrift zum Namen der Rose' ist übrigens eine mindestens so lohnende Lektüre wie das Buch selbst.)

Es heißt, die Arbeiten Annettes von Droste-Hülshoff (1797-1848) seien ihrer Zeit voraus gewesen. Habe ich eine Zeit für gebraucht, weil das adlige Fräulein aus Roxel bei Münster mir beinahe schon in jungen Jahren jegliche Lust am Lesen und an der Literatur ausgetrieben hätte. Das war aber nicht ihr, sondern meiner damaligen Deutschlehrerin zu verdanken. Die hatte nämlich, obgleich philologisch durchaus beschlagen, das Talent, Heranwachsende zielsicher zu überfordern und fand daher die vielschichtige, anspruchsvoll zu lesende Novelle 'Die Judenbuche' eine für pubertierende Siebtklässler in jeder Hinsicht geeignete Lektüre. Um sich dann wortreich über uns Ignoranten und Banausen zu echauffieren, als sich herausstellte, dass das eher nicht der Fall war.

Die Autorin Karen Duve ist mir vor Jahren durch ihren semiautobiographischen Großstadtroman 'Taxi' aufgefallen, in dem es um eine Clique berufsbedingter Nachteulen mit kompliziertem Beziehungsleben geht. Dann hörte ich, dass am Ende von 'Anständig essen', ihrer Schilderung eines ernährungstechnischen Selbstversuchs, sympathischerweise nicht die vollständige Werdung zur Veganerin steht. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem, dass sie definitiv schreiben kann. Man lese etwa ihre großartige Polemik über den bourgeoisen Dünkel gegenüber dem 'Big Brother'-Proll Zlatko.

"Faktenwissen. Kreuzworträtselwissen. Das, was man braucht, um Trivial Pursuit zu spielen oder bei einer Quizsendung im Fernsehen mitmachen zu dürfen. Es ist ein Vorurteil der kleinen Geister, diesem Wissen wohne irgendein unentbehrlicher Wert bei. Wissen ist aber nur als Weg zur Weisheit akzeptabel, sonst handelt es sich um verabscheuungswürdige Zeitverschwendung. Allgemeinbildung kann eine erfreuliche Mitgift sein, die der Orientierung und dem Erkennen von Zusammenhängen dient, doch im gewöhnlichen Fall besteht sie aus zusammenhang- und damit wertlosen Bruchstücken. Und trotzdem hält sich penetrant die Meinung, jeder sei so viel wert, wie er von diesen Bildungsbröckchen vorweisen könne." (Karen Duve, 2000)

Wenn so eine Autorin sich nun einer Ikone des deutschen Bildungsbürgertums annimmt wie Annette von Droste-Hülshoff, dann kann durchaus Anregendes dabei herauskommen. Tut es.

'Fräulein Nettes kurzer Sommer' erzählt eine kurze, aber einschneidende Episode aus dem Leben der jungen Annette. Die sei, so heißt es rundheraus, eine Nervensäge gewesen. Hochintelligent, belesen, selbstbewusst, schlagfertig. Und damit ein schwarzes Schaf, denn das waren alles Eigenschaften, die ein junges adliges Fräulein Anfang des 19. Jahrhunderts schwierig zu verheiraten machten. Haben in Adelskreisen bis heute die Söhne durch Zeugung männlicher Nachkommen den biologischen Fortbestand des Hauses zu sichern, galt es die Töchter  möglichst gut zu verheiraten, um mittels ordentlicher Mitgiften dessen finanziellen Fortbestand zu gewährleisten. Als die junge Annette sich in den Göttinger Studenten Heinrich Straube verliebt, eskalieren die Ereignisse in einer Intrige gegen sie, die ihr Leben bis zum Schluss prägen sollte.

Ein Bildungsroman. Man lernt viel, ohne sich je belehrt zu fühlen. Viele Prominente von damals, die man nur aus Büchern kennt, laufen durchs Bild und kommen einem durchaus heutig vor. Keine Kostümparade. Die Zeit um 1820 nach den Napoleonischen Kriegen war in vielerlei Hinsicht eine Umbruchszeit wie unsere: Der Vulkanausbruch auf Sumbawa von 1815 führte auch in Mitteleuropa zu einem Klimawandel und sorgte für kühle Temperaturen und eine Reihe schlechter Ernten. Was ebenso zu sozialen Verwerfungen führte wie die Abschaffung des alten Feudalwesens im Zuge der so genannten Bauernbefreiung (was für die meisten Kleinbauern im Ergebnis freilich nichts anderes bedeutete als von einem Ausbeutungsverhältnis in ein anderes zu geraten). Das Rechtswesen war Napoleonisch reformiert, Preußen überzog viele alten Länder des Heiligen Römischen Reiches, darunter Westfalen, mit einer straffen Verwaltung. In Teilen der Bevölkerung führte das dazu, dass Kulturpessimismus und aufkeimender Nationalismus eine erste Blüte erlebten.

Obwohl im Haupterzählstrang eine junge Frau quasi auf ihren Platz in einer streng patriarchalen Gesellschaft gemobbt wird, der Grundton den Buches also durchaus feministisch ist, kommt das nie anklagend oder moralinsauer daher. Dazu hat Duve, die sich immer wieder quasi als Vermittlerin zwischen damaliger und heutiger Zeit einschaltet, viel zu gründlich recherchiert über die herrschenden Verhältnisse und Strukturen. Das alles lässt ein triviales 'Eintauchen in frühere Zeiten' oder gar nostalgischen Kitsch überhaupt nicht erst aufkommen. Schönes Buch. Lohnend. Gut zu lesen. Gern gelesen.

Karen Duve: Fräulein Nettes letzter Sommer. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2018, 592 S., 25,00 € (geb.), 14,00 € (TB), 16,99 € (E-Book); oder für Mitglieder der Büchergilde Gutenberg für 23,00 €.


Sozialistische Ente

Im Mikrokosmos Entenhausen sind die Rollen klar verteilt: Donald Duck ist der ewige Loser, der wegen seines Pechs, seines Jähzorns oder seines eigentlich guten Herzens keinen Job lange durchhält, bei seinem stinkreichen Onkel dauernd in der Kreide steht und sich mit seinen drei Neffen irgendwie durchs Leben schlägt. Die sind entweder rebellische Rabauken oder streberhafte Superpfadfinder, die für alles eine Lösung haben. Daisy ist das ewige Mauerblümchen, mit der Donald in der asexuellen Disney-Welt als höchstes der Gefühle mal picknicken oder tanzen gehen darf. Gustav Gans ist der arbeitsscheue Stenz, dem alles in den Schoß fällt und alles gelingt. Onkel Dagobert ist der Superkapitalist alten Schlages, der klassische Selfmademan, der seinen Reichtum allein seinem Fleiß und seiner Initiative zuschreibt, aber auch nicht glücklich ist aus Angst, alles wieder zu verlieren.

Die Konstellation hat sich deswegen als so ungemein tragfähig erwiesen, weil Donald eine perfekte Identifikationsfigur für Otto Normalbürger in einer bürgerlichen Gesellschaft ist. Wer könnte seinen Zorn nicht nachvollziehen, wenn er mal wieder gefeuert, seine Gutgläubigkeit ausgenutzt wurde, der reiche Onkel Predigten hält über Fleiß und Sparsamkeit, seine Eifersucht, wenn der schnöselige Vetter Gustav sich mal wieder an Daisy ranmacht und so weiter. Aber alles nutzt sich irgendwann mal ab.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass es ausgerechnet ein italienisches Autorenteam war, die Autorin Elisa Penna, der Texter Guido Martina und der Zeichner Giovan Battista Carpi, das sich Ende der Sechziger die Figur des Phantomias (Paperinik) ausgedacht hat. Kein westeuropäisches Land diesseits des Eisernen Vorhangs tickte damals so kommunistisch wie Italien. Der ewige Pechvogel Donald schlüpft in die Rolle des adligen Rächers Phantomias und bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Weitgehend gewaltlos und mithilfe diverser Erfindungen von Herrn Düsentrieb, unter anderem einer Batmobil-Variante seiner alten 313-Nuckelpinne, spielt er Peiniger, Ausbeuter und Nervensägen gegeneinander aus und rächt sich an ihnen.

Das ist Zucker fürs Gemüt und so avancierte Phantomias in Europa schnell zur beliebtesten Disney-Figur. Natürlich, man muss es so sagen, findet die Revolution nicht statt. Sobald der schwarze Rächer sein Gewand wieder ablegt, daran wird nie ein Zweifel gelassen, ist alles wie gehabt. Auch beim ewigen Kampf gegen die Panzerknacker ist er ganz auf der Seite der braven Bürger und der Kapitalisten. Doch erinnert Phantomias daran, dass eine andere Welt möglich ist. Immerhin.

Inzwischen ist die Phantomias-Figur längst totgeritten. Erst verschlimmbessert zum öden Räuberjäger, dann zum Superhelden, der von seiner Raumstation aus die Erde gegen Außerirdische verteidigt. Wer‘s mag. Passt wohl auch in die Zeit. Die alten Geschichten aber machen auch nach über 50 Jahren noch Spaß und haben kein bisschen Staub angesetzt. Vielen gilt das 'Lustige Taschenbuch' Nr. 41, in dem Phantomias sein Debut gibt, als das beste überhaupt. Ich besitze zu wenige, um das beurteilen zu können, aber mein Exemplar ist mir lieb. Ich hüte es, um es von Zeit zu Zeit wieder hervorzukramen. Die Zeichnungen wissen nach wie vor zu gefallen und die Auftaktgeschichte 'Die Verwandlung' ist virtuos komponiert wie ein Theaterstück. In einem 60seitigen Vexierspiel mit Masken und Identitäten geraten die scheinbar so festgefügten Entenhausener Verhältnisse ins Rutschen. Groß.

Donald mal ganz anders (Neuauflage: Jetzt kommt Phantomias). Lustiges Taschenbuch Nr. 41. Wird bei Ehapa z.Zt. nicht mehr aufgelegt, sollte aber antiquarisch zu bekommen sein.


In den Schluchten des Balkan

Mit Peter Handke hatte ich nie viel am Hut. Eigentlich kaum was. Den Versuch, den 'Versuch über den geglückten Tag' zu lesen, habe ich damals sehr bald abgebrochen. Thomas Bernhard wird die Sottise zugeschrieben, wenn beim Handke einer zur Haustür herausginge, dann brauche es zirka 80 Seiten, bis er vorn beim Gartentor angekommen sei. Erschien mir durchaus treffend. Dann gab es in den Neunzigern einen gewissen Wirbel um Handke, als in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ eine zweiteilige Reisereportage von ihm aus Ex-Jugoslawien veröffentlicht wurde. Ihm wurde unterstellt, Partei ergriffen zu haben für Leute wie Slobodan Milošević und Radovan Karadžić.

"Als Handke beschloss, dass auch ihm eine Provokation guttun könnte, war gerade der Bosnienkrieg zu Ende gegangen." (Alexander Schimmelbusch)

Ich mag das nicht beurteilen, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass Handke, darauf angesprochen, zuweilen höchst poltrig reagiert. Er scheint, obwohl im Hinblick auf die damalige Berichterstattung weiter Teile der deutschsprachigen Presse nicht völlig im Unrecht, der Meinung zu sein, einen literarischen, unpolitischen Text verfasst zu haben und nicht wahrhaben zu wollen, dass er hoch politisch ist.

Nobelpreiskomitees vergeben gern Stellvertreterpreise. Wenn Elfriede Jelinek geehrt wurde, dann nicht sie allein, sondern mit ihr auch eine ganze Traditionslinie deutschsprachiger österreichischer Literatur. In ihrem Fall die des kunstvollen Verzweifelns an den herrschenden Verhältnissen in den untoten Überresten der k.u.k.-Monarchie, die man, wenn man mag, vor ihr bei Musil, Roth und Bernhard, zahmer, gefälliger bei Torberg und von Doderer, als Kontinuität finden kann. Adalbert Stifter hingegen war dafür bekannt, nicht nur einer der begnadetsten Fresssäcke der Literaturgeschichte zu sein, sondern auch imstande, 150 Seiten lang schildern zu können, wie ein Wasserfall fünf Minuten lang rauscht oder Farbe trocknet.

Zu den Reifungsprozessen, die ein zivilisiert zu nennender Mensch beizeiten durchmachen sollte, gehört es, zwischen Werk und Urheber trennen zu können. Keine der Künste, weder Literatur noch bildende Kunst noch Musik, ist eine Übung in Nettigkeit und war es auch nie. Daher tut man gut daran, den Gedanken ertragen zu lernen, dass auch Idioten, Blitzbirnen und andere Menschen, die man möglichst nicht um sich haben mag, Gültiges und Bleibendes zuwege bringen. Alles andere wäre ein Schritt in die Vormoderne.

Wird man zum Nazi, weil man ein Bild von Nolde an der Wand hat? Macht die Tatsache, dass der verstorbene Michael Jackson sich zu Lebzeiten mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs konfrontiert sah, 'Thriller' zu einem schlechteren Album? An Roman Polanski klebt immer noch die Anklage wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen, was ihn im Moment einer Einreise in die USA sofort ins Gefängnis brächte. Ändert das etwas daran, dass der Mann zweifellos ein paar durchaus amtliche Filme gemacht hat? Eher nicht.

Umgekehrt kann man fragen, inwieweit jemand, der künstlerisch Relevantes hervorbringt, in menschlicher Hinsicht ein Tepp, ein Ungut und Ranzlöffel sein darf. Bzw. ihm politisch grenzwertige Ansichten nachzusehen sind. Wieso soll es in Ordnung sein, bei bildenden Künstlern, Musikern, Regisseuren etc. auf Trennung von Werk und Person zu pochen ("Na ja, er ist unausstehlich, säuft und betatscht die Praktikantin, aber seine Musik leider geil."), einem wie Handke diesbezüglich jedoch weit weniger durchgehen zu lassen? Warum hat Frank Castorf sich über Jahre ein Verhalten und einen Führungsstil erlauben können, für das jeder Abteilungsleiter achtkantig gefeuert worden wäre oder viele Lehrer Disziplinarverfahren am Halse hätten? Weil ein Genie ein Arschloch sein muss, am besten ein autoritäres?

Egal jetzt. Nicht auf die Schnelle zu beantworten, das. Was Handke angeht, macht man sich am besten selbst ein Bild. Seine umstrittene Reportage vom Balkan wird zur Zeit nicht mehr verlegt und ist antiquarisch, wohl qua Nachfrage, zwar zu bekommen, aber ordentlich teuer. Freundlicherweise haben sie bei der 'Süddeutschen' beide Teile noch einmal online gestellt. Das kommt heute und morgen noch an die Reihe.

Peter Handke: Gerechtigkeit für Serbien. Teil 1 - Teil 2.




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