Freitag, 6. November 2020

Alle vier Jahre wieder

 

Warum der Modus, in dem der US-Präsident gewählt wird, besser ist als sein Ruf

US-Präsidentenwahlzeiten sind Antiamerikanerzeiten. Jedes Mal aufs Neue werfen sich Teile der cisatlantischen Bevölkerung und der Journaille in die Brust und lachen sich einen Ast über das ach Gott wie veraltete und unnötig komplizierte System der US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Üblicherweise erfolgt das weitgehend frei von allzuviel Sachkenntnis, bar einfacher Rechenkenntnisse und vor allem streng durch die europäische, von deutlich zentralistischer organisierten Staatsformen geprägte Brille betrachtet. Haha, dieses umständliche Abstimmen nach Einzelstaaten! Höhö, dieses Wahlmännergremium! Zu putzig. Die AmisTM müssten einfach mal..., dann, ja dann wären sie auch so irre smart, effizient und superdemokratisch wie wir.

Dass Die AmisTM sich so standhaft weigern, sich schulmeistern zu lassen, macht sie einem ja fast schon wieder sympathisch. Zumal sie durchaus Gründe haben dafür. Nur scheinen die den Horizont vieler Hiesiger, die vor allem mal Meinung haben und danach erst mal lange gar nichts, deutlich zu übersteigen.

Dabei sollten Gerade Wir DeutscheTM das doch besser wissen. Schon mal überlegt, wie irre gerecht unser bundesrepublikanisches System in Teilen so ist? Dürfte der Bundestag vor lauter Bemühen um Gerechtigkeit (Überhangmandate) demnächst aus allen Nähten platzen, geht es im Bundesrat komplett anders zu. Der Bundesrat als Vertretung der Bundesländer und (formell) obere Kammer des Parlaments ist an den meisten Gesetzen via Zustimmung unmittelbar beteiligt. Hat also durchaus einiges zu sagen. Jedes Bundesland entsendet gemäß Einwohnerzahl eine bestimmte Anzahl Vertreter (die, nota bene, nicht vom Volk gewählt werden). Der Schlüssel geht wie folgt:

Jedes Land hat mindestens drei Stimmen,
Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier Stimmen,
Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern haben fünf Stimmen,
Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern haben sechs Stimmen.

Aber keines mehr als sechs. Daher hat das kleinste Bundesland (Bremen), das mit knapp 700.000 weniger Einwohner hat als die Stadt Frankfurt a.M., satte drei Stimmen. Nordrhein-Westfalen hingegen, das mit knapp 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Bundesland, kommt auf gerade mal sechs. Oder so: Bayern und Baden-Württemberg zusammen stellen mit knapp 24 Millionen mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung, haben aber nur 12 von insgesamt 69 Stimmen im Bundesrat. Ist das etwa gerecht? Ist noch jemandem zumute nach ein wenig wohlfeilem Geschmunzel über das blöde Wahlsystem der Amis?

Man kann das natürlich damit erklären, dass die Bundesländer quasi die Nachfolger souveräner Staaten sind, darunter Königreiche. Daher ist der Bundesrat eher eine Ständevertretung denn ein Parlament im modernen Sinne. Waren also die Verfassungsväter von 1949 etwa so deppert, dieses krasse Ungleichgewicht nicht zu sehen? Konnten die nicht rechnen, oder was? Das muss denen doch aufgefallen sein. Ist es natürlich. (Ein mathematisches Problem, das sogar mir als solches auffällt, kann so komplex nicht sein.) Und genau deswegen ist es so, wie es ist.

Es ging darum, auch kleineren Bundesländern eine angemessene Stimme und die Möglichkeit der Mitgestaltung zu geben. Anders gesagt: Man tarierte den Minderheitenschutz gegen das Recht des (zahlenmäßig) Stärkeren aus. Ginge es direktdemokratisch zu, also parlamentarisch und streng nach Einwohnerzahl, dann bräuchten sich bloß die drei größten Bundesländer (NRW, BY, BW) einig zu sein und keines der dünn besiedelten, oft agrarisch geprägten Flächenländer, erst recht nicht die Stadtstaaten, hätte noch was zu melden oder könnte noch irgendwas ausrichten. Deren Abgeordnete könnten den Sitzungen gleich fernbleiben, ihre Stimmen fielen eh unter den Tisch. 
 
Vergäbe man pro 250.000 Einwohner einen Sitz im Bundesrat, sähe das so aus:

(grün: erforderliche Mehrheit)
 
So wäre es auch, wenn die US-Präsidentschaftswahl, wie von Europäern schlauerweise gern vorgeschlagen wird, als landesweites Plebiszit abgehalten würde, wie etwa in Frankreich oder Österreich. Der Preis dafür wäre, dass die Bewohner der Bundesstaaten, die wegen ihrer geringen Einwohnerzahl jetzt im Electoral College überrepräsentiert erscheinen, bei einer Direktwahl gleichsam nicht mehr vorkämen, weil der Präsident dann nur noch von den acht bis zehn der bevölkerungsreichsten, überwiegend an den Küsten gelegenen Staaten gewählt würden.

Weil die USA aber in in erheblich höherem Maße ein föderaler Bundesstaat sind als etwa die BRD, zudem mit starken regionalen und lokalen Parlamenten, wäre es undenkbar, nicht alle Bundesstaaten irgendwie zu berücksichtigen. Und so wählt nicht das Volk direkt, sondern die Bundesstaaten wählen den Präsidenten. Wer beklagt, die dünn besiedelten Staaten in der Mitte hätten gegenüber den bevölkerungsreichen Küstenstaaten überproportional viel Einfluss, müsste auch erklären, wie sie in einem zukünftigen, reformieren System angemessen Gehör und Stimme bekommen könnten (wir erinnern uns: No taxation without representation!).

Das Wahlmännergremium (Electoral College) selbst mag tatsächlich obsolet sein. Kommt aus einer Zeit ohne moderne Kommunikationsmittel, in denen Fernreisen nicht nur riskant waren, sondern zunächst Tage und, mit wachsender Größe des Landes, Wochen dauerten. Da war es auch nicht wichtig, Stillschweigen zu bewahren, bis alle Stimmen ausgezählt waren. Im 18. und 19. Jahrhundert war das vielleicht sogar die schlaueste und effektivste Möglichkeit, eine landesweite Wahl halbwegs ordentlich zu organisieren. Die Abstimmung nach Staaten aber ist eines der letzten egalitären Elemente.

Sicher, wenn das Ergebnis so knapp ist wie heuer, dann ist die Auszählerei lästig und umständlich. Aber ich verstehe nicht, was daran so schlimm sein soll. War es nicht eher urdemokratisch, wie Tom Wolf, Gouverneur von Pennsylvania, auf die Unverschämtheiten von Trump und seinem Team aus PR-Schreihälsen und Winkeladvokaten trocken entgegnete, es werde exakt so lange gezählt, bis der letzte Stimmzettel aus dem letzten County gezählt sei? Eine Farce wie im Jahr 2000 scheint sich vorerst jedenfalls nicht zu wiederholen.

Das Problem ist gar nicht so sehr der Wahlmodus selbst, sondern dass er als bipolares System von den fundamentalen Verschiebungen des öffentlichen Diskurses der letzten Jahrzehnte stärker betroffen ist.

"Das bipolare System [...] ist nur solange stabil und tragfähig, wie es nicht ideologisch aufgeladen ist. In der Geschichte waren zweipolige Systeme stets auf einen Schicksalskampf konditioniert: Plebejer und Patrizier, Arbeiterschaft und Kapital, Protestanten und Katholiken, Sozialismus und Kapitalismus. Auch in den internationalen Beziehungen waren bipolare Strukturen immer auf den entscheidenden Sieg gerichtet, zuletzt zwischen NATO und Warschauer Vertrag, der mit dem Untergang des sozialistischen Systems und der Sowjetunion endete." (Erhard Crome: Amerikanisches Interieur)

"Die neuen Medien und das Internet, von denen bei ihrer Entstehung Demokratietheoretiker hofften, sie würden den mündigen Bürgern neue Informationsmöglichkeiten geben, haben eine neue Spaltung der Gesellschaft bewirkt. […] [Das] Internet [offeriert] die Möglichkeit, dass sich mit der Polarisierung immer mehr Gruppen speziell Interessierter zusammenfinden, die in Medien-Kokons ihren spezifischen Identitäten frönen." (Crome: Amerikanische Bruchlinien)


Ohne Frage gibt es eine Menge Probleme (Werktag als Wahltag, das bereits erwähnte, absurde Gerrymandering, der zutiefst undemokratische Ausschluss vieler vom Wählen, die Rolle des Geldes etc.). Die liegen aber nicht zwingend im Wahlmodus selbst begründet und könnten unabhängig davon behoben werden. Wer Den AmisTM also reflexhaft Nachhilfe erteilen will in Demokratie und mehr plebsizitäre, 'direkte' Demokratie fordert, sollte zumindest vorher einen Blick werfen auf die, die das noch fordern. Das sind auffallend oft diejenigen, die vorgeben, dem angeblich 'wahren Willen des Volkes' Geltung verschaffen zu wollen. Was einem zu denken geben sollte. 







4 Kommentare:

  1. Die Verzögerung ergibt sich aus der schlichten Tatsache, dass es in diesem Jahr coronabedingt mehr Briefwähler gibt und die Amerikaner die Briefwähler auch nach dem Wahltag noch akzeptieren (es gilt das Datum des Poststempels, Auslandsamerikaner bis 13. November). Bei uns wird nur gezählt, was sonntags bis 18 Uhr im Wahllokal ist. Deswegen ist die Show in D meistens eine halbe Stunde später schon vorbei. USA 2020 ist Hollywood. Seien wir dankbar für die Ablenkung vom Seuchenelend.

    Demokratie braucht immer mehr Zeit als Diktatur. Das US-System ist uralt und wirkt gemächlich. Am 8. Dezember, wenn die Wahlmenschen zusammenkommen, muss ein Ergebnis vorliegen. Kein Stress. Einfach kein CNN sehen und ein gutes Buch lesen. Ich bin derzeit auch in den USA unterwegs, mit Thomas Wolfes "Schau heimwärts, Engel" - der Roman ist etwa hundert Jahre alt.

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  2. Vergleichst du nicht Äpfel mit Birnen, wenn du das Wahlmännersystem mit eingebautem Ausgleich für größere und kleinere Staaten mit dem Bundesrat vergleichst? Das ist doch nur ein System zur Wahl des Präsidenten. Gleichzeitig werden in direkter Wahl die Abgeordneten des Repräsentantenhauses (435 Abgeordnete) gewählt, ähnlich unseren Wahlen zum Bundestag. Pro Bezirk ein Abgeordneter, wobei größere Staaten mehr Bezirke haben als kleine.

    Mit dem Bundesrat zu vergleichen wäre der SENAT, die Vertretung der Staaten. Der hat mehr mitzubestimmen als der Bundesrat, muss z.B. jedem amerikanischen Bundesgesetz und der Besetzung der Minister und anderer hoher Posten zustimmen.

    Und während bei uns der Bundesrat aufgestellt wird, wie oben von dir aufgeführt (mit einem gewissen Ausgleich wg. Landesgröße) ist der Senat auf 100 Senatoren begrenzt, die in den Staaten mittlerweile direkt gewählt werden - GENAU ZWEI PRO STAAT!

    Da ist dann nichts mehr mit Berücksichtigung der Größe eines Staats. Und somit geht der Vergleich zu Gunsten des DE-Systems aus, zumindest in Sachen Repräsentanz. Dass der Bundesrat nicht direkt gewählt wird, sondern sich aus den Landesregierungen zusammen setzt, empfinde ich nicht als Defizit, sondern als sinnvolle Struktur.

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    1. Das mag sein, aber es ging mir auch gar nicht um einen direkten Systemvergleich. Eigentlich nur darum, aufzuzeigen, dass das dortige System durchaus Sinn ergibt und überhebliche Belehrungen darüber wie veraltet und untauglich es sei, fast immer ziemlicher Quatsch sind.

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  3. Zum Wahl- und Staatenvertretungssystem ein paar ganz vernünftige Gedanken, Vergleichbares habe ich auch beim Spieltheoretiker Rieck gehört.

    Die nicht-Personenzahl-bezogene Stimmenverhältnisse sind genau dann sinnvoll, wenn in dem Staatenverbund (ist BRD ja auch) landesintern die Souveränität bleibt.

    Das führt zum nächsten Gedanken. Die EU hat eine Tendenz, sich vom Vertragsbündnis zum Souverän zu erheben. Wir müssen uns angesichts der praktisch vorhandenen Befehlskette der Frage stellen, ob wir das wollen.

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