Sonntag, 15. November 2020

Doktoren-Diebereien

 
Als der große Gary Lineker in einem Interview auf Diego Maradonas Handspiel im Viertelfinale der WM 1986 angesprochen wurde ('Hand Gottes'), meinte er, er selbst wäre als Spieler nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun, käme aber auch nicht auf die Idee, Maradona für seine grobe Unsportlichkeit zu verurteilen. Man müsse bedenken, dass einige argentinische Fußballer in schlimmsten Verhältnissen aufgewachsen seien und alles getan hätten, um zu gewinnen.

"The Diego thing doesn’t bother me. Never has. He got away with it. I would never think of doing it but some Argentinian footballers grew up in the roughest conditions. They were ready to do anything to win." (Lineker)

Moment mal, wird damit nicht Unrecht legitimiert? Von wegen harte Kindheit als Ticket oder so? Vielleicht ist es auch nur eine Erinnerung daran, den Einzelfall in möglichst vielen Facetten zu würdigen, bevor man zu einem Urteil schreitet. Also das zu tun, was Aufgabe der Justiz ist. Oder einen Moment innezuhalten, bevor man auf den Tisch haut und "Regeln sind Regeln!" trompetet.

Es ist gut möglich, dass Franziska Giffey (SPD) wegen des Hickhacks um ihre Doktorarbeit wird zurücktreten müssen. Das wäre ärgerlich für die ohnehin gebeutelte SPD, für die sie eine volksnahe Hoffnungsträgerin ist. Es ist aber nicht so, dass der Rücktritt, so er denn käme, dann unvermeidlich gewesen wäre. Alle Erfahrung zeigt, dass man in so einer Situation die meisten Chancen hat, wenn man möglichst früh alle Karten auf den Tisch legt und offen mit der Sache umgeht. Giffey hat sich aus Gründen, die nur sie und ihr Umfeld etwas angehen, fürs Lavieren, Kungeln, Mauscheln und Tricksen entschieden. Das fällt ihr jetzt auf die Füße. 

Einen Überblick über das unselige Gezerre kann man sich hier verschaffen.)

Besonders in Deutschland gilt der Doktor als Adelstitel des Bürgertums und ist immer noch mit dem Nimbus des Höherstehenden umweht. Ein Herr, eine Frau Doktor habe, so heißt es, ganz besonderes geleistet im Leben und sei daher berechtigt, bis ans Lebensende mit diesem Ehrentitel angesprochen zu werden. Nun ist das letztere in rechtlicher Hinsicht Quatsch und das erstere nicht durchgängig so. Es gibt Doktorarbeiten, die tatsächlich Ergebnis jahrelanger Arbeit sind und die Forschung weiterbringen. Und es gibt schmale Paper, die in anderen Fachbereichen wegen Leistungsverweigerung nicht als Bachelorarbeit durchgingen. (Kennen Sie den? Unterhalten sich zwei Medizinstudenten. Fragt der eine: "Kommst du am Wochenende mit zum Segeln?" Sagt der andere: "Nee, keine Zeit, ich muss meine Doktorarbeit schreiben.")

So dickleibig oder schmal die Doktorarbeit im Einzelnen gewesen sein mag, die beiden Buchstaben vor dem Nachnamen öffnen nicht nur die Tür zu akademischen Jobs, sondern auch woanders zu Karrieren und höheren Einkommen. Vor allem im konservativ/bürgerlich/liberal/rechten Lager, wo der Doktorgrad noch mehr fetischisiert wird als anderswo, sind in den vergangenen Jahren viele gefakte Doktorarbeiten aufgeflogen. Und so ist im Fall Giffey eine gewisse Schadenfreude darüber, dass es jetzt auch mal eine von 'den anderen' erwischt hat, ja durchaus verständlich. Von einer patriarchalen/maskulistischen Fronde gegen eine erfolgreiche, 'starke' Frau kann erst recht nicht die Rede sein.

Stellt sich die Frage, wieso Franziska Giffey nicht gleich mit offenen Karten gespielt hat. Man tut ihr sicher nicht unrecht, wenn man sagt, sie habe eine klassische Aufsteigerinnen-Biografie. Sie entstammt so genannten 'kleinen' bzw. 'einfachen' Verhältnissen, was zumindest bedeutet, ihre Eltern haben keinen akademischen Hintergrund. Für die 1978 in Frankfurt/Oder Geborene waren Abitur und Studium vermutlich keine bzw. in weit geringerem Maße eine Selbstverständlichkeit wie für Kinder aus Akademikerhaushalten. So wie Statussymbole für gesellschaftliche Aufsteiger meist einen anderen Stellenwert haben als für Arrivierte, hat ein akademischer Grad für Menschen, die vielleicht die ersten in der Familie sind, die studieren konnten, mitunter einen anderen Stellenwert. Das sollte bedenken, wer ein Urteil fällen will über sie.

Angesichts der im internationalen Vergleich beschämenden Finanzlage des hiesigen Bildungswesens, sind Bildungskarrieren, gewollt oder nicht, oft eine Frage der sozialen Herkunft. Und so ist auch ein Doktorgrad eben kein reiner Ausweis von Leistung. Auch wenn das vom bürgerlich/konservativ/rechten Lager gern und immer wieder nachdrücklich behauptet wird. Es ist durchaus ein Unterschied, ob jemand aus privilegierten, akademisch gut vernetztem Hause stammt und weitgehend unbehelligt von finanziellen Sorgen noch ein, zwei Jahre dranhängt, um seiner Adoleszenz mit einem Doktor als letztes Sahnehäubchen die Krone aufzusetzen oder ob sich jemand mit Nebenjobs über Wasser halten muss oder seine Doktorarbeit vielleicht neben einer Erwerbstätigkeit klöppeln muss. Das Gelaber von wegen, es ginge ohne Ansehen der Person einzig und allein und immer nur um die Leistung, ist im Feld der Bildung mindestens genauso falsch wie auf dem 'Arbeitsmarkt'.

Das alles macht Frau Giffeys Handeln natürlich nicht besser. Den Doktor ist sie schon los und ihre politische Karriere wird einen Knacks bekommen. Wenngleich einem nicht bange sein braucht, dass sie zum Jobcenter wird müssen. Irgendein Pöstchen als Staatssekretärin für irgendwas oder notfalls bei der EU wird sich schon finden, ganz sicher. Hier könnte unsere Geschichte zu Ende sein. Ist sie aber nicht.

Denn da fehlt etwas. Ein Akteur nämlich macht sich in diesen Fällen ein ums andere mal einen schlanken Fuß: Die jeweilige Universität, die eine plagiierte Arbeit einfach so durchwinkt. Natürlich stehen Doktoranden in der Pflicht, gefälligst nicht zu schummeln. So wie man als unbescholtener Bürger in der Pflicht steht, gefälligst niemanden zu beklauen. Wenn ich aber meine Haustür nicht abschließe oder gleich offenstehen lasse und mir die Hütte ausgeräumt wird, dann ersetzt die Hausratversicherung mir keinen Cent. Und jeder, dem ich mein Leiden klage, wird sagen: Nun, ein kleines Bisschen Schuld trifft dich da wohl auch, die Welt ist nun mal kein Ponyhof.

Und genau so wie jemand, der die Haustür sperrangelweit offen lässt und dann "Haltet den Dieb!" ruft, kommen einem diverse Unis in solchen Fällen dann immer vor. Sind pikiert, dass da jemand ihr schönes Humboldtsches Arkadien besudelt hat und waschen ihre Hände in Unschuld.

Zuweilen entsteht der Eindruck, jede Proseminararbeit würde strenger und gründlicher geprüft als eine Doktorarbeit, die doch angeblich die Krönung der akademischen Weihen darstellt. Sage auch niemand, man habe das damals nicht wissen können. Giffey wurde 2010 zur Dr. rer. pol. promoviert. Zu einem Zeitpunkt also, zu dem das Internet längst kein Neuland mehr war, das Plagiatsproblem den Universitäten bewusst sein musste und auch schon Software-Lösungen zur Verfügung standen, die zumindest Indizien liefern konnten, an bestimmten Stellen genauer hinzuschauen. All das scheint nicht geschehen zu sein.

Warum? Unzumutbarer Aufwand? Nun, ich hatte einst im Grundstudium einen Dozenten, der wohl 50 Leutchen in seinem Seminar sitzen hatte, die größtenteils auch eine schriftliche Arbeit zu verzapfen hatten. Ich bekam meine zurück mit einer halben getippten Seite Feedback. Eine Mühe nebenbei, die kein anderer der Profs sich machte, ich fühlte mich und meine Arbeit sehr wertgeschätzt. Darin hieß es, ich sollte bitte noch einmal meine Fußnoten überprüfen, denn zwei davon führten ins Leere. Wie gesagt, es handelte sich um eine zehn Seiten lange Proseminararbeit von knapp fünfzig. Es geht also offenbar schon, macht aber etwas Arbeit.

Eine Lösung freilich gäbe es: Den Doktor zur rein funktionsgebundenen Bezeichnung machen für die, die tatsächlich in der Forschung tätig sind und Schluss. Das kann Karrieren retten.
 
 
 



5 Kommentare:

  1. Ich bin der einzige in Geschichte meiner Sippschaft, der jemals eine Universität von innen gesehen hat. Folglich bin ich auch der einzige mit einem Doktortitel. Nebenher musste ich damals als Pornostar und Feuerschlucker arbeiten. Trotzdem werde ich in der Familie und im Freundeskreis nicht mit meinem akademischen Grad angesprochen, sondern gnadenlos geduzt.

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    1. Pornostar? Ist dein dein damaliges Schaffen noch zu bestaunen (frage für einen schwulen Freund)? Oder warst du der Ehemann, der in der ersten Szene zur Arbeit geht?

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    2. Ich bin der Klempner, der an der Tür von einer Frau klingelt, die im Bademantel öffnet, und sagt: "Guten Tag, Bonetti mein Name. Ich soll hier ein Rohr verlegen."

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  2. Ich gestehe, nicht zu Ende gelesen zu haben. Thema ist Giffey.

    Stefan. Als extrem ehemaliger SPD-Wähler sag ich: schreib sie ab. Wünsch dir ihren Abgang, je eher, je besser.

    Soweit es mich betrifft – nicht geschehen bei Giffey, sondern bei SPD. Schon lange. Keine Arbeitnehmerpolitik, sondern LGBT(etc … rummsdibumms).

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  3. Ich hatte zu meiner Zeit zwei solche Dozenten (wenn die Arbeit gut war, gab es ein Ein-oder Zweizeiler, war sie es nicht, waren eine bis eineinhalb DIN-A-4 Seiten standard-schließlich sollte man aus seinen Fehlern lernen), bezeichnenderweise hatten die auch "nur" ein Dipl. vor ihrem Namen.

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