Freitag, 20. November 2020

Spanische Nächte


Die Älteren werden sich vielleicht noch erinnern. An damals, 1982. WM in Spanien. Die 'Nacht von Sevilla'. Opa erzählt vom Krieg: jenes legendäre Halbfinalspiel zwischen Deutschland und Frankreich, in dem die Franzosen in der Verlängerung durch Tore von Trésor und Giresse 3:1 vorn lagen. Normalerweise ist so eine Sache damit durch und entschieden. Dann machte erst der fünf Minuten zuvor eingewechselte Karl-Heinz Rummenigge das 2:3 und schließlich glich kurz vor Schluss Klaus Fischer mit einem Jahrhunderttor per Fallrückzieher zum 3:3 aus, bevor im Elfmeterschießen die Entscheidung fiel.

Einen Schönheitspreis verdiente die Partie definitiv nicht. Die spielerisch bessere Mannschaft verlor am Ende, weil die deutsche Mannschaft wie so oft durch Kampf und Willen zurück ins Spiel fand. Die gefürchteten deutschen Tugenden. Brechstange. Hatte Eisenfüße wie Hans-Peter Briegel und die Förster-Brüder im Aufgebot. Für die war's erst ein Foul, wenn die Knochen knackten. Würden heutzutage nach einem Spiel für den Rest der Saison gesperrt und hätten noch eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung am Hacken. Toni Schumacher nietete Patrick Battiston brutal um, stand doof glotzend daneben, als die Sanis den Bewusstlosen behandelten und wurde deswegen von Teilen der französischen Presse mit einem KZ-Kommandanten verglichen.

Aber meine Fresse, wie intensiv war das! Wer sich heute das alte YouTube-Video anschaut, kann das auch nach knapp vierzig Jahren noch spüren. Da hatten sich zwei Teams förmlich ineinander verbissen wie zwei angeschlagene, taumelnde Boxer, die über alle körperlichen Grenzen gingen. Wie sich da eine spielerisch unterlegene Mannschaft mit aller Macht gegen die Niederlage stemmte, sich ums Verrecken nicht in ihr vermeintliches Schicksal fügte, das hatte bei allen spielerischen, technischen und taktischen Unzulänglichkeiten schon was. Vermochte auch die die zu berühren, die normalerweise allergisch sind gegen Pathos. Stoff für Legenden.  
 
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Die Nacht von Sevilla 1982 war ein Spiel, von dem die, die es erlebt haben, ob im Stadion oder am Fernseher, noch heute, Jahrzehnte später, reden. Tja, und jetzt gibt es in der DFB-Historie noch eine Nacht von Sevilla. Die von 2020, in der eine in jeder Hinsicht harm- und hilflose deutsche Nationalmannschaft von einer ebenfalls im Umbruch befindlichen spanischen, die noch eine Woche zuvor gegen die wackeren Schweizer - eine wirklich gute, aber keine Weltklassemannschaft - über ein 1:1 nicht hinausgekommen war, volle 90 Minuten lang vorgeführt, nach Belieben stehen gelassen, in kleine Stücke zersägt, zu Feinstaub zerhäckselt wurde und mit einer 0:6-Klatsche noch ziemlich gnädig davongekommen ist.

"Die Nationalmannschaft lässt sich hier so bereitwillig abschlachten, nicht auszuschließen, dass Clemens Tönnies mittlerweile für den DFB arbeitet […] Ich lege mich fest: Wenn das hier heute ein gutes Spiel der Deutschen war, ist Thomas Berthold ein kluger Kopf."  (11freunde)

Parallelen wurden alsbald gezogen. Etwa zur EM 2000, die bislang als absoluter Tiefpunkt hiesigen nationalmannschaftlichen Schaffens gehandelt wurde. Eine überalterte, vom unbeholfenen und deutlich über seinem Zenit befindlichen Erich Ribbeck betreute Truppe mühte sich da fußlahm und athletisch nicht auf der Höhe an Spielgerät und zweitklassigen Gegnern ab. Für die Performance dieser Elf wurde seinerzeit der Begriff 'Rumpelfußball' erfunden.

Nur hinkt der Vergleich insofern, als dass damals so gut wie niemand von internationalem Format im Aufgebot stand. Kern des Problems war, dass der weitgehend überforderte Ribbeck kaum auf Spieler zurückgreifen konnte, die EM-tauglich waren und er sogar den Fußballrentner Lothar Matthäus reaktivieren musste. 

Auch 2002, als man zur Überraschung fast aller das Endspiel erreichte, lief keine Künstlertruppe auf, aber Teamchef Rudi Völler hatte das Glück, ein paar solide Leute im Kader zu haben: Einen Weltklassetorhüter wie Oliver Kahn, eine Betonabwehr um Karsten Ramelow und Christian Ziege, im Mittelfeld robuste Abräumer wie Michael Ballack und Jens Jeremies, die zur Not halt die Grätsche auspackten, und vorne ein Strafraumungeheuer wie Miroslav Klose, dessen Torriecher nur von dem des legendären Gerd Müller getoppt wurde und der immer irgendwie noch das entscheidende Ding über die Linie drückte.

Heute ist das anders. Bei aller bekannten Schwäche in der Abwehr, standen am Dienstag Fachkräfte auf dem Platz, die Stammspieler bei Bayern München, Real Madrid, FC Chelsea, und Manchester City sind. Dazu etliche hoffnungsvolle Jungtalente. Ein Kader, um den Joachim Löw von vielen seiner Kollegen beneidet werden dürfte. Mit diesem kickenden Personal sollte man, wie Oliver Fritsch richtig anmerkte, auch gegen eine Topmannschaft wie die spanische nicht so untergehen.

Tat man aber. Das Fachblatt kicker zählte: 812:349 gespielte Pässe, 760:297 angekommene Pässe, 23:2 Torschüsse. Selbst 'Drei Ecken, ein Elfer' hätte da nicht mehr geholfen.
 
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Man kann verlieren. Selbstverständlich. Gehört zum Geschäft. Erst recht gegen stärkere, besser besetzte Gegner. Und wer nicht verlieren kann, sollte die Finger vom Fußball lassen. Aber man sollte immerhin so verlieren, dass man hinterher sagen kann: Wir haben uns gewehrt. Für das aber, was die DFB-Auswahl am Dienstag, dem 17. November 2020, in Sevilla ablieferte, kennt die englische Sprache den Ausdruck shipwreck. Das war keine Niederlage, sondern eine bedingungslose Kapitulation. Man könnte es auch so formulieren: Die deutsche Mannschaft hat nicht schlecht gespielt, noch nicht einmal grottenschlecht, sie hat gar nicht gespielt. Wann immer die Kamera auf Joachim Löw blendete, verströmte der die Aura eines plattgesessenen Sitzsacks.

Dagegen war die weiß Gott desaströse Leistung der Brasilianer im WM-Halbfinale 2014 direkt honorabel. Denen ist nach sieben Gegentoren immerhin noch der Ehrentreffer zum 1:7 gelungen. Bislang hatte ich es immer so gehalten, dass die bei mir messbaren Reste an Patriotismus und Tribalismus beim Fußball stattfinden und nirgends sonst. Und obwohl es mich immer von Herzen freut, wenn deutsches Dicketun eins aufs Dach bekommt, will's die Sache, dass ich mich nun ausnahmsweise versteige zu der Aussage: So sollte eine deutsche Nationalmannschaft nicht auftreten.  

Mindestens so interessant wie das Spiel selbst, dessen taktische Analyse ich gern Qualifizierteren überlasse, ist aber die Reaktion darauf.

Auch etwas weniger Ältere werden sich erinnern an 1998. Da war der linkische Bundestrainer Vogts ungefähr mit der Mannschaft, die zwei Jahre zuvor noch die Europameisterschaft gewonnen hatte, bei der WM im Viertelfinale ausgeschieden. Er wollte im Amt bleiben, was Neues aufbauen. Nach zwei ernüchternden Spielen gegen Rumänien und gegen Malta senkte auch die Springerpresse, die schon nach der vermurksten WM 1994 verfügt hatte: Berti, bitte geh!, endgültig den Daumen. Der tat wie ihm geheißen und lebte erst einmal seine schauspielerischen Ambitionen im 'Tatort' aus. Heute fragt man sich, wie viele Niederlagen es noch braucht, bis Löws und Kellers Stühle mal wackeln.

Nur scheint niemand so recht zu rütteln oder zu sägen an den Stühlen. Wer soll den Job auch machen? Jürgen Klopp und Hansi Flick, die wohl besten deutschen Trainer derzeit, werden den Teufel tun (und wären auch schön blöd), ihre Vereinsengagements in München und Liverpool in den Sack zu hauen. Ralf Rangnick hätte zwar Zeit, pflegt aber an seinen Wirkungsstätten mitunter heftig anzuecken und dürfte kaum mit einem Provinzfürsten wie DFB-Supremo Keller klarkommen. 

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Das wirklich Neue an der Situation nach der zweiten Nacht von Sevilla ist ja, dass diese Niederlage das in den letzten Jahrzehnten so fußballbegeisterte Volk überraschend kalt zu lassen scheint. Um mich herum kein Frust, keine Wut, nicht mal wirkliche Enttäuschung. Kaum jemand redete darüber. Eher so milde Resignation. Ist halt so. Machste nix.

Ist es, weil die Menschen in coronabedingten Lockdown-Zeiten mit anderem belastet sind? Keine Ahnung, wenigstens ist man bislang weitgehend verschont geblieben von feingeistigen Analysen über die Frage, inwieweit dieses Waterloo auf dem Rasen die desaströse Gesamtlage der Nation widerspiegele. Oder liegt es an schlichter Übersättigung? Daran, dass auch Hardcore-Fußballfans des ewigen Immermehr, den immer weiter aufgeblähten Turnieren und dieser kryptischen Kopfgeburt namens 'Nations League', schlicht müde sind? Vielleicht ist es auch bloß der Abstieg, der unvermeidlich folgen muss auf einen Hype, wie ihn der DFB seit 2006 bis hin zu peinlich-absurder Schwarzrotgeil-Hysterie erlebt hat.

Wäre das so, dann ist diese Entwicklung ist keine ganz neue. Schon das WM-Ausscheiden 2018, das zu anderen Zeiten vermutlich jeden Trainer den Job gekostet hätte, wurde nicht mehr als ganz große Katastrophe wahrgenommen. Und die coronabedingten Spielausfälle und Geisterspiele mögen da beschleunigend gewirkt haben. Wer vor Monaten noch dachte, ohne Stadionbesuche und permanente Pay-TV-Beschallung daheim nicht leben zu können, hat vielleicht die Erfahrung gemacht: Lebbe geht weiter (Dragsolav Stepanović).

Legenden werden so natürlich nicht geboren. Und man hat auch nichts Großartiges, mit dem man Nachkommen auf den Senkel gehen kann, außer „Damals, als wir in Sevilla...“ Mag der Prozess, Fußball von einer netten, unterhaltsamen Nebensache aufzublasen zum Lebensinhalt und zur milliardenschweren Unterhaltungs- und Lärmmaschine, auf Vereinsebene seinen Zenit noch nicht überschritten haben, das fast völlige Verschwinden des lautstarken Partynationalismus ist jedenfalls eine echte Wohltat.




9 Kommentare:

  1. Der Trainer (Parteichef), das Team (BT-Fraktion) und die Fans (Wähler) erinnern mich bei dieser Entwicklung sehr stark an das jahrelange Versagen der SPD. Es gibt da sehr viele, unübersehbare Parallelen. Nach jeder Niederlage bzw. nach jedem blamablen Minierfolg wird angekündigt, dass es jetzt aber einen brachialen Wechsel geben wird. Nix passiert. Schadenfreude bleibt da nicht aus.

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  2. Ich frage mich seit Tagen, warum mich dieses würdelose 0:6 dermaßen kalt lässt. Vor wenigen Jahren wäre ich bei so einem Debakel noch die Wände hochgegangen. Momentan denke ich, dass es an der derzeitigen Spielergeneration liegt. Solange in der Nationalmannschaft Männer spielen, die Niederlagen persönlich nehmen - die Teilnehmer des Jahrhundertspiels ärgern sich z. T. noch jetzt, fünfzig Jahre später, über die Niederlage - und sich daher mit aller Kraft gegenb das Verlieren stemmen, ärgere ich mich ebenfalls. Aber wenn Spieler auflaufen, denen es wichtiger zu sein scheint, sich nicht zu verletzen als zu gewinnen, und die die daraus folgenden Niederlagen einfach ablegen wie einen dreckigen Bademantel (es gibt natürlich Ausnahmen, Kimmich zum Beispiel), dann bin ich auch wenig berührt. Und den Eventis ist letztlich egal, ob die Mannschaft gewinnt oder verliert: Sieg- oder Frustsaufen läuft aufs Gleiche hinaus.

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    1. So ist das inzwischen - Niederlagen werden von den Beteilitgten nüchtern und professionell gehandelt, gleichzeitig fragt man sich, wo denn die Leidenschaft der Fans geblieben ist Jawoissidenn?
      @altautonomer: Apropos Fußball und Politik. Mir fällt auf, dass Frau Merkel lange nicht mehr auf einer Tribüne beim volxnahen Jubeln gesichtet ward. Komisch eigentlich.

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    2. Kann das sein, dass sie das Volk nicht mehr zur Imagepflege braucht? Weil das eh alles mitmacht? Ich frage ja bloß? Und was hieße das dann?

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    3. Kann das sein, dass sie einfach erkannt hat, dass die Nationalmannschaft nicht mehr zur Imagepflege taugt? Ich frage ja bloß...

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  3. Für Fußball hab ich mich noch nie interessiert, außer für das Tier im Fan. Aber dieser Sportbericht ist böse bis ins Mark. Induziert Begeisterung.

    Lob mit Sternchen!

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  4. Für die Gelassenheit im Umgang mit dem Jahrhundertdebakel kann man gleich drei Begründungen finden:

    1. Die Wettbewerb finden sehr viele etwa so wichtig wie den Supercup.

    2. Das Interesse für Fußball lässt bei vielen (auch bei mir und etlichen Freunden) immer mehr nach.

    3. Traumatische Erlebnisse werden verdrängt. "Alesia? Ich kenne kein Alesia".

    Parallelweltphantasie: Löw tritt 2018 zurück und Hansi Flick wird sein Nachfolger :o)

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    1. Niemand weisch, wo dieschesch Aleschia liegt!
      Sagen wir so: Der Fußball wurde während der letzten ca. 20 Jahre zum Produkt der Unterhaltungsindustrie, die Fans zu Kunden. Und wenn Kunden nicht mehr zufrieden sind mit einem Produkt, dann rebellieren sie nicht, sondern wenden sich einfach ab.

      (Eine schöne Analyse des Spiels und der Nationalmannschaft findet sich übrigens hier.)

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    2. "Die Wettbewerb". Kann mich bitte jemand erschießen oder daran erinnern, dass man in der Werbepause der Sportschau nix posten soll.

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