Montag, 22. März 2021

Reden wir über Kunst

 
Eigentlich wollte ich was über Kassel schreiben. Über das neuerliche, inakzeptable Versagen einer Staatsgewalt, die vor einem Haufen sich als Diktaturopfer aufspielender Wohlstandsverwahrloster und Superspreader in die Knie geht, teilweise sogar, unter Missachtung des beamtenrechtlichen Neutralitätsgebots (dem die AfD einst per Denunziationsplattform zur Geltung verhelfen wollte) ganz offen mit ihnen herumkumpelt. Und gleichzeitig mit denjenigen, die gegen die (nicht genehmigte) Covidioten-Geisterbahn demonstrierten weit weniger freundlich umging. Aber das hat Onkel Michael freundlicherweise bereits erledigt. Hätt ich nicht besser hinbekommen, im Gegenteil. Leseempfehlung.

Also reden wir über Kunst. Oder besser: über Künstler.

Meine selige Großmutter mütterlicherseits war studierte Sängerin und Gesangslehrerin. Ihre musikalische Karriere gab sie nach ihrer Hochzeit auf. Große Komponisten waren für sie höhere Wesen. Olympier. Nicht von dieser Welt. Besonders heiß und innig liebte sie Franz Schubert. Dass der Unvollendete so jung von einer Typhus-Infektion hinweggerafft worden ward, war eine Tragödie für sie. Gegen die schon damals in der Forschung verbreitete Hypothese, der Meister habe sich bei einem Bordellbesuch die Syphilis eingefangen, sträubte sie sich zeitlebens mit Händen und Füßen. Schubert, der Götterliebling, ein schnöder Puffgänger? Undenkbar! Schon die auf seinen sichtlichen Hang zu gutem Essen anspielende Bezeichnung 'Schwammerl' empfand sie als Frechheit.

Die heutzutage verbreitete Hypothese, des Komponisten problematisches Verhältnis zu Frauen könne auch die Folge einer homophilen Orientierung gewesen sein und er könnte mit der Männerpartie um ihn herum nicht allein die Liebe zur Musik geteilt haben, hätte bei ihr vermutlich einen Systemabsturz verursacht. Blue Screen. Die Dame ist aber früh gestorben und hat das nicht mehr mitbekommen.

Vor Jahren sah eine Dokumentation aus den 1960ern über den Dirigenten und Komponisten Leopold Stokowski. Der hatte einst eine gewisse Berühmtheit dafür erlangt, dass er einige Orgelwerke Johann Sebastian Bachs, darunter die zu Tode genudelte d-moll-Toccata & Fuge BWV 565, für großes romantisches Orchester arrangiert hatte. In dem Film war zu sehen, wie er das Stück mit den Wiener Philharmonikern einstudierte. Hernach gestattete der mit weißer Mähne und aristokratischer Adlernase ausgestattete Stokowski den Musikern huldvollst, ihm ein paar Fragen zu stellen. Das unterwürfige Kriechen dieser immerhin gestandenen Orchestermusiker, die sich kaum getrauten, den "Herrn Professor" überhaupt anzusehen löste eine Mischung aus Heiterkeit und Befremden aus. Auf die Frage, warum Dirigenten oft so alt würden, soll er mal geantwortet haben, das liege vielleicht am Vergnügen, anderen seinen Willen aufzuzwingen.

In der Welt der Kunst und Kultur ist halt einiges anders. Ist jemand vom Ruf umweht, jemand Besonderes zu sein, scheinen immer noch andere Regeln zu gelten. Schuberts Symphonien, die 'Winterreise', seine Kammermusik werden durch seinen tatsächlichen oder vermuteten Lebenswandel kein bisschen weniger groß. Merke: Auch Soziopathen, Töffel und Arschgeigen vermögen Bleibendes hervorzubringen. Problematisch kann es werden, wenn solche Soziopathen, Töffel und Arschgeigen zu Lebzeiten von einer getreuen Leibgarde gegen alle Anwürfe abgeschirmt werden. Schlimmstenfalls kann sich so einer in einer Tour benehmen wie offene Hose und und ziemlich lange unbehelligt damit durchkommen. Weil noch immer der Wahn grassiert, große Künstler müssten quasi Soziopathen, Töffel und Arschgeigen sein, ja, das eigentlich Voraussetzung sei für das Entstehen großer Kunst. Qualität kommt von Qual. Im Zweifel für die anderen.

Über den jüngst verstorbenen Dirigenten James Levine wurde gegen Ende seiner Karriere ruchbar, dass der verschwitzte, von Sängern und Musikern so gemochte, barocke Pultgnubbel sich gewohnheitsmäßig an minderjährigen Buben vergriffen haben soll. Neu war das keineswegs. Die Sopranistin Edda Moser, die in den Siebzigern und Achtzigern oft an der Met gastierte, meinte, es sei dort damals schon quasi Teil der Folklore gewesen, dass 'Jimmy' immer einen Troß sehr bzw. zu junger Männer um sich gehabt hätte. Jeder wusste es, keiner sprach es wirklich offen aus. So isser halt! Machste nix. In den Neunzigern wurde Levine nach dem Tod Sergiu Celibidaches zum Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker berufen. Als ironischerweise die grüne Fraktion im Münchner Stadtrat ein polizeiliches Führungszeugnis verlangte, reagierten bürgerlich-konservatives Establishment und Föjetong verschnupft bis empört. Also bitte, wie man um das dreckige Gerede der verklemmten Amis etwas geben könne! Es ginge schließlich um einen Dirigenten um Weltruf, da dürfe man nicht so provinziell sein.  

Man kann die Liste quasi beliebig fortsetzen. Über die Intendantenlegende Frank Castorf sickerte durch, dass er als Chef mitunter ein Verhalten an den Tag legte, das für jeden Abteilungsleiter einer Versicherung die fristlose Kündigung bedeutet hätte. Ihn schützte die Ergebenheit seiner eingeschworenen, keineswegs bürgerlich-konservativen Fangemeinde. Die NS-Propagandistin und Hitler- und Goebbels-Freundin Leni Riefenstahl versilberte ihr gesamtes Leben nach 1945 ihr Image als völlig unpolitische Künstlerin, die sich niemals nicht um Politik geschert habe. Sie war doch schließlich Künstlerin! Wie Emil Nolde, der sich als brettharter Nazi und Antisemit erwies. Der für seine Arbeit zu recht bewunderte Rainer Werner Fassbinder war am Set und im Leben schlicht ein manipulatives Arschloch. Wer will noch mal, wer hat noch nicht?

Was 'Kunstvorbehalt' genannt wird, ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit. Autor und Werk sind zu trennen. Es gilt auszuhalten, dass auch ein Genie ein Scheusal und Ranzdepp sein kann. Keiner wird zum Nazi, weil er Nolde-Bilder anschaut. Niemand vergewaltigt ein minderjähriges Mädchen, weil er einen Film von Roman Polanski gesehen hat und niemand dürfte nach dem Konsum von zwei Staffeln 'House Of Cards' mit Kevin Spacey in der Hauptrolle das Knabenbefummeln für sich entdecken. Und so wird die Welt auch um kein Stück ein besserer Ort, wenn man diese Leute aus der Öffentlichkeit zu tilgen versucht, im Gegenteil. Entsprechenden Forderungen ist daher mit aller Entschlossenheit entgegenzutreten.

Einerseits. Andererseits kann ich nicht umhin, es eine erfreuliche Entwicklung zu finden, dass auch ehrwürdige Kulturinstitutionen keine vordemokratischen Black Boxes mehr sind. In denen kleine Könige ambitionierten, möglicherweise labilen Nachwuchstalenten unbehelligt sexuelle Gefälligkeiten gegen irgendwelche hohlen Versprechungen abpressen können, wie es dem scheidenden Volksbühnen-Intendanten nunmehr vorgeworfen wird.

Mit dem Totschlagargument, die Veröffentlichung etwa von Woody Allens Autobiografie könnte eventuell Opfer von Kindesmissbrauch erneut traumatisieren, lässt sich im Zweifel jede stalinistische Säuberungswelle begründen. Genauso wie die Forderung, Werk und Autor um Himmels Willen sauber zu trennen, zur Generalabsolution für die letzte Drecksau werden kann. Ebenso verdächtig ist übrigens die Forderung, Kunst bitteschön nicht "unnötig zu politisieren". So siehst du aus! Nichts, erst recht nicht Kunst, passiert jemals im luftleeren Raum.

Es gibt also keine Lösung. Bedaure, habe ich nicht anzubieten. Kein knackiges Fazit. Mit der muffig-autoritären Kriecherei vor Künstlern Schluss zu machen, aufzuhören, Künstler bzw. die dafür gehalten werden oder sich selbst dafür halten, devot zu verehren und zu behaupten, für sie hätten andere Maßstäbe zu gelten, wäre aber schon mal ein hilfreicher erster Schritt. Es lebe die Respektlosigkeit!





8 Kommentare:

  1. „Auf die Frage, warum Dirigenten oft so alt würden, soll er mal geantwortet haben, das liege vielleicht am Vergnügen, anderen seinen Willen aufzuzwingen.“ – Sicher.

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  2. Das Fazit ist ganz einfach: Die Fähigkeit, Kunstwerke zu erschaffen, macht aus einem Menschen keinen besseren Menschen. Der Künstler bleibt normal, mit allen Schwächen, die die Leute so an sich haben.

    Von Meister Bonetti weiß ich zuverlässig, dass er seine Praktikanten wegen Kippen und Kümmerling zum Kiosk schickt. Außerdem diktiert er seine Gedichte mit vollem Mund (Duplo!).

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  3. Ihrer Auflistung hinzufügen ließe sich ebenfalls ein genialer Stardirigent Herbert von Karajan, bekannterweise Karrierist vermittels NSDAP-Anbiederung sowie unverhohlener Antisemit – was seiner Adoration als sakrasankter musikalischer Säulenheiliger und geradezu überschäumender Ehrerweisung zu Lebzeiten keinerlei Abbruch tat.*

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  4. Antworten
    1. Obwohl auch 'sakrasankt' in diesem Kontext nicht völlig abwegig wäre...

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  5. Ich bin mir sicher Du meintest "House of cards" und nicht "The West Wing".

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