Natürlich weiß ich, was ich am 11. September 2001 gemacht habe. Ich hatte frei und saß am Schreibtisch, ich glaube, an einer Seminararbeit (ich war noch mal an die Uni zurück, um einen Abschluss nachzumachen). Am frühen Nachmittag rief mein alter Kumpel B. an und teilte mir mit, was gerade in New York und Washington vor sich ging. Meine erste Reaktion war der dringende Ratschlag an ihn, nicht schon so früh am Tag hochprozentige Alkoholika zu konsumieren. Den Rest des Tages verbrachte ich vor dem Fernseher und dachte mehr als einmal, dass die Bilder aussähen wie aus einem Actionfilm. War aber keiner. Das war blutiger Ernst.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Brotarbeit in einer Druckerei, wollte ich mir unbedingt eine große Tageszeitung besorgen. Smartphones gab es noch nicht, Internet-Flatrate hatte ich noch keine, den ganzen Tag online zu sein, wie das heute selbstverständlich ist, hätte mein studentisches Budget gesprengt. Mir dürstete nach Analyse, Einschätzung, Hirnfutter, Input. So war es wohl nicht nur mir ergangen. Alles ausverkauft, ratzekahl abgeräumt. Nur eine einsame schmale Ausgabe des 'Tagesspiegel' lag noch im Regal. Besser als nichts.
Seither ist viel geschehen. Der Anschlag hat auch die westlichen Gesellschaften einschneidend verändert. Allein über diese Binse kann man lange Aufsätze schreiben. Staaten nutzten die Chance, die Überwachung ihrer Bürger ins Private auszudehnen, die Zumutungen nahmen zu. Bis hin zu absurden Sicherheitskontrollen am Flughafen, denen man sich noch heute, 20 Jahre später, zu unterziehen hat. Aber fliegen ist eh Gift fürs Klima.
Auch mit vielen Bürgern machte das was. Ausgehend von der 'Truther-Bewegung' sind Verschwörungstheorien ins Kraut geschossen, die bis heute nachwirken. Im eher linken, traditionell antiamerikanischen Spektrum war man sich bald einig: Der Westen ist selber schuld, Amerika der große Bösewicht, quasi der FC Bayern München der Nationen, der die ganze Welt ausbeutet und unterdrückt und jetzt ausnahmsweise auch mal eins aufs Dach kriegt. Nach der Rolle des Islamismus zu fragen, war bloß was für Rechte, Reaktionäre und Neonazis. Ein Fehler.
Es ist keineswegs so, dass das alles rundheraus Quatsch gewesen wäre. Aber es stimmte eben auch nicht nur. Vieles, das nach jenem Septembertag 2001 geredet wurde, erschien kritisch und aufgeklärt, war aber vor allem mal selbstgerecht und meist viel zu einfach. Nicht selten ein "Brei aus Krokodilstränen und Widerstandskampf" (Jan-Philipp Hein) Es heißt, der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Freiheitskämpfer definiere sich allein dadurch, auf welcher Seite man selber stehe. Bedaure, aber auf die Art von Freiheit, die islamistische Attentäter propagieren und mit der sie die Welt überziehen wollen, kann ich gut verzichten.
Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass es einen Unterschied gibt zwischen antikapitalistischen bzw. antiimperialistischen Revolutionären und religiösen Fanatikern, die einen mittelalterlichen Gottesstaat errichten wollen. Dass Arschlöcher, die etwas bekämpfen, das man selbst auch ablehnt bzw. bekämpft, immer noch Arschlöcher sind und keine unterstützenswerten Alliierten, scheint viele Linke immer noch zu überfordern. Den USA wird die schlichte Erkenntnis, dass der Feind eines Feindes deswegen noch lange kein Freund ist, immer wieder gern aufs Butterbrot geschmiert.
Was koloniale Ausbeutung angeht, hätten (und haben) Teile Afrikas weit mehr Grund (gehabt), dem Westen Rache zu schwören (und an ihm zu nehmen), als der Nahe und Mittlere Osten, wo man z.B. vom Erdölhandel mit den Amerikanern auch sehr profitierte. Trotzdem hat sich keine afrikanische Terrororganisation gebildet, die ehemalige Kolonialmächte mit Serien aus Attentaten überzieht. Auch die Täter von 9/11 passten nicht recht ins Bild vom bettelarmen, geknechteten Underdog. Viele kamen aus privilegierten Mittelschichtsfamilien fern von Armut. Bei ihnen hatten islamistische Propaganda und Indoktrination ihr Werk getan.
Obwohl ich kein Freund militärischen Handelns bin, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob diese Welt wirklich eine friedlichere und bessere wäre, wenn eine entsprechende Reaktion damals ausgeblieben wäre. Wie bitteschön verhandeln mit welchen, denen ihr eigenes (Über)Leben egal ist und die jedes Gesprächsangebot als Zugeständnis, als weiteres Zeichen von Weichheit und Schwäche auslegen?
Man hatte es mit welchen zu tun, deren Motto ist: "Ihr liebt das Leben, wir den Tod." Solchen Leuten möchte ich weder ausgesetzt sein noch von ihnen in Sippenhaft genommen werden, weil ich zufällig hier geboren wurde und hier lebe. Mit Otto Schilys Replik "Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben.", war ich damals einverstanden und bin es heute noch. Solange es nur die richtigen traf. Das tat und tut es längst nicht immer.
Interessant auch, wie geschichtsvergessen große Teile der Journaille und diverse Experten agieren. So wird der Abzug der NATO aus Afghanistan mehrheitlich als totale Niederlage des Westens gedeutet. Auch das ist zu kurz gedacht. Afghanistan ist nur ein Schauplatz des Krieges gegen den Terror. Den jüngsten Ereignissen in Kabul stehen durchaus Erfolge gegenüber. Osama bin Laden und der Großteil der Al Quaida-Spitze sind nicht mehr am Leben, die Organisation spielt quasi keine Rolle mehr. Der IS wurde erfolgreich zurückgedrängt, und das, obwohl die Sofastrategen dieser Welt fast geschlossen prophezeiten, dass man Terror nicht militärisch beikommen könnte. Den Kampf gegen den Terror kann man bislang sehr wohl als Erfolg ansehen.
Nicht nur die Amerikaner wissen längst, dass dieser Krieg noch lange dauern wird. Er ist nicht zu vergleichen mit den beiden Weltkriegen, die ein einigermaßen klares Ende hatten. Vielmehr sollte man den Konflikt der Römer mit den Germanen vor Augen haben. Der ging über Jahrhunderte, artete nur sehr selten in offene Kampfhandlungen aus und war die meiste Zeit über eine weitgehende Koexistenz mit Limes und Militärpräsenz. Ein blutiges Debakel wie im Teutoburger Wald bzw. damals bei Kalkriese jedenfalls sollte sich nicht wiederholen.
Man verstehe mich nicht falsch: Natürlich sollen hier keine Kränze geflochten werden. Was die USA und der Westen seit 2001 ins Werk setzten, war mitnichten ein Ruhmesblatt. Der Irakkrieg 2003 war ein grauenhafter Fehler, orchestriert von Verblendeten, die glaubten, Demokratie mit Gewalt implementieren zu können, auf dreisten Lügen gegründet und angeordnet von einem überforderten Präsidenten ohne weltpolitisches Urteilsvermögen. Wird vielleicht in die Geschichte eingehen als der eine Schritt zu viel, mit dem das amerikanische Imperium sich überdehnte (die zwielichtige Rolle Barack Obamas, der es meisterhaft verstand, sich als Friedensbringer zu inszenieren, wurde, wohl überschattet durch die Präsidentschaft Trumps, noch viel zu wenig aufgearbeitet). Oder auch nicht. Das Ende der Amerikanischen Hegemonie wurde schon oft ausgerufen.
Es führt eine direkte Linie von New York nach Abu Ghraib und nach Guantanamo, wo der Westen exakt die Werte mit Füßen trat, die er sonst so salbungsvoll propagiert. Zur Entlastung kann man anführen, dass immerhin die Medien der westlichen Welt ihren Job machten und die verbrecherischen Vorgänge an die Öffentlichkeit brachten. In Diktaturen mit staatlich kontrollierten Medien wäre das vermutlich anders gewesen.
Paradoxerweise ist es gerade der Irakkrieg, der zentrale Verschwörungserzählungen der 'Truther' widerlegt: Da sollen also eine Regierung, diverse Behörden, Geheimdienste und Militärs 2001 einen meisterhaften Plot orchestriert und ihre Spuren so gründlich verwischt haben , dass das bis heute nicht belegt werden kann. Um die Nation in einen Krieg gegen Afghanistan zu führen. Um sich dann zwei Jahre später beim Einstielen des Irakkrieges dermaßen dämlich anzustellen, dass die Milch sauer wird.
Noch ein kuschelweicher Konsens hatte sich damals nach 9/11 in weiten Teilen des Westens herausgebildet: Dass George W. Bush ein tumber, rechtsradikaler, religiös verblendeter Kretin ist. Wenngleich Bush jr. natürlich alles andere ist als ein Intellektueller und Friedensengel und, s.o., diverse Schandflecke an ihm haften bleiben werden, stimmt auch das nur zum Teil. Wer das nicht glaubt, möge sich noch einmal die (weitgehend unbeachtete) Rede durchlesen, die er am 17. September 2001, keine Woche nach dem 11., während seines Besuches im Washingtoner Islamic Centre hielt:
"[...] These acts of violence against innocents violate the fundamental tenets of the Islamic faith. And it's important for my fellow Americans to understand that. The English translation is not as eloquent as the original Arabic, but let me quote from the Koran, itself: In the long run, evil in the extreme will be the end of those who do evil. [...] The face of terror is not the true faith of Islam. That's not what Islam is all about. Islam is peace. These terrorists don't represent peace.
When we think of Islam we think of a faith that brings comfort to a billion people around the world. Billions of people find comfort and solace and peace. And that's made brothers and sisters out of every race. [...]
Women who cover their heads in this country must feel comfortable going outside their homes. Moms who wear cover must be not intimidated in America. That's not the America I know. That's not the America I value.
I've been told that some fear to leave; some don't want to go shopping for their families; some don't want to go about their ordinary daily routines because, by wearing cover, they're afraid they'll be intimidated. That should not and that will not stand in America."
Natürlich wurde diese Rede ihm geschrieben und natürlich haben Berater ihm gesagt, dass er dort vorbeischauen sollte. In den Tagen nach 9/11 aber hätte jeder Verständnis gehabt, wenn er zu Muslimen eher Distanz gehalten hätte. Was er nicht getan hat. Islam ist Frieden -- Heute würde jemand für solche Worte nach solch einem Ereignis nicht nur in Asozialen Medien vermutlich als linksgrüner Multikulti-Gutmensch und Muslimversteher vom Hof gejagt werden.
Rechte feiern inzwischen übrigens die Taliban, weil sie eine Menge gemeinsamer Werte entdecken. Wahrlich, es ist viel geschehen seither. Und: Es bleibt schwierig.
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