Mit Einschätzungen der militärischen Lage in der Ukraine sollte man überaus vorsichtig sein. Erstens, weil das ohne militärische Expertise schwierig ist, zweitens, weil der 'Nebel des Krieges' über allem liegt. Die einen sagen so, die anderen so, nichts ist wirklich verlässlich und alles im Zweifel Propaganda. Einigermaßen fest zu stehen scheint nur: Sollte Putin geplant haben, mit einem schnellen, harten Schlag die ukrainische Armee binnen weniger Tage zur Kapitulation zu zwingen, das Land zu besetzen, eine genehme Regierung einzusetzen und ein paar haöbherzige Sanktionen des Westens auszusitzen, dann ist er damit gescheitert.
Es spricht etliches dafür, dass man sich in Moskau bei zentralen Parametern wie das der eigenen Kampfkraft, der des Gegners und der Reaktion des Auslands gewaltig verrechnet hat.Nicht täuschen aber sollte man sich über das scheinbar geringe Tempo des russischen Vormarsches. Das liegt ziemlich genau auf dem Niveau des amerikanischen im Irak 2003.
Russia's advance has been extraordinarily rapid. For comparison's sake, here are same-scale maps of 48 hours into the US invasion of Iraq and @JulianRoepcke's estimate after 36 hours in Ukraine.
— Bazaar of War (@bazaarofwar) February 26, 2022
Anyone saying Russia is bogged down is nuts. https://t.co/X4iVuIW1Ei pic.twitter.com/U6pbpyvx8u
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Das Auftreten des freundlichen, eigentlich unmilitärischen, aber zu allem entschlossenen Wolodymir Selenskyj lässt nebenbei Putins ostentativ vorgetragenes, atavistisches Bild von urwüchsiger, kriegerischer Männlichkeit gerade ziemlich armselig aussehen. Selenskyj ist präsent, erreicht die Menschen, nutzt alle möglichen Kanäle, um mit der ganzen Welt in Kontakt zu bleiben, während Putin in seinem Kommandostand eingekapselt wirkt. Von seinem gefürchteten Informationskrieg scheint zur Zeit nicht mehr viel übrig zu sein.
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Das Dilemma: je brutaler die russischen Streitkräfte ab jetzt in der Ukraine vorgehen, also Städte zerstören, die Zivilbevölkerung terrorisieren etc., desto schwieriger wird die Befriedung des Landes werden, selbst wenn die Ukrainer sich irgendwann ergeben sollten. Herzen gewinnt man so definitiv nicht. Die Legende von den Ukrainern als Brudervolk verkappter Russen, die nur drauf warten, unter Mütterchen Russlands schützenden Mantel zu schlüpfen, ist eh komplett in sich zusammengefallen.
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Ein schwerer Schlag für Moskau auch, welch erhebliche Kratzer das Bild von der topmodernen, gut ausgerüsteten und ausgebildeten russischen Armee gerade bekommt.
Wer Augen hat zu sehen und auch hinschaute, konnte das übrigens wissen: Vom modernen, 2014 erstmals vorgestellten Kampfpanzer T-14 Armata, der den meisten westlichen Baumustern technisch überlegen sein soll und zudem mit kleinerer Crew auskommt, wurden bislang gerade einmal 20 Stück an die Truppe ausgeliefert. Vom neuesten russischen Kampfjet, der Suchoi Su-57, 2020 in Dienst gestellt, befinden sich vier im aktiven Dienst. Was bei der Bundeswehr (bislang) allenfalls ein müdes Lächeln hervorruft, scheint mir für ein Land mit Weltmachtambitionen doch etwas schwach.
Das wiegt umso schwerer, als dass die russische Armee längst nicht mehr so aus dem Vollen schöpfen kann wie früher die Rote Armee. Russland hat derzeit ca. 145 Mio. Einwohner (Tendenz: weniger werdend und alternd), also nicht mal doppelt so viele wie Deutschland und ein Riesenterritorium abzudecken. Die Sowjetunion hatte mehr als doppelt so viele Einwohner. Die Zeiten, in denen russische Kommandeure auf ein quasi unerschöpfliches Menschenreservoir zurückgreifen konnten, sind vorbei.
"Anfang des 20. Jahrhunderts hatten russische Familien sieben oder acht Söhne. Heute vielleicht noch einen. Zu solchen Opfern ist die Gesellschaft nicht mehr bereit." (Waleri Solowjew)
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Auch für eine Atommacht sind Atomwaffen immer nur das allerletzte Mittel, der letzte Pfeil im Köcher, den man nur dann herausholt, wenn alles andere gescheitert ist. Die Drohung damit (Putin tat das bislang nur indirekt, und wir wissen auch da nicht, was das genau bedeutet) ist daher auch ein Offenbarungseid, mit seinem Latein am Ende zu sein. Noch nicht einmal der greise, kaum mehr zurechnungsfähige Leonid Breschnew, der die Rote Armee ab 1979 in einen zehn Jahre langen blutigen, letztlich erfolglosen Krieg in Afghanistan geführt hatte, ist damals auf diese Wahnsinnsidee gekommen.
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Wie geht das aus? Hoffentlich mit einem baldigen Verhandlungsfrieden, und sei er auch noch so faul und noch so fragil. Es muss eine Lösung her, bei der alle halbwegs ihr Gesicht behalten. Auch Putin braucht, so er im Amt bleibt, etwas, das er irgendwie als Erfolg verkaufen kann. Hier könnte China zum entscheidenden Akteur und Vermittler werden. Dort wird man es auf Dauer sicher nicht gern sehen, dass auf der schönen Neuen Seidenstraße kriegsbedingt Stau herrscht. Zumal sich China mit politischen Äußerungen in die eine oder andere Richtung bislang zurückgehalten hat, einem politisch und wirtschaftlich geschwächten Russland eine Perspektive als wichtigster strategischer Partner bieten könnte und über genügend militärisches Gewicht verfügt, um auch der Kriegspartei Russland gegenüber selbstbewusst und entschieden aufzutreten.
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Damit es nicht ganz so einseitig wird: Das Theater Oberhausen ist wirklich ein nettes, sympathisches Haus. Gern bei Gelegenheit wieder.
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Bedaure, längeres Zusammenhängendes kriege ich gerade nicht auf die Reihe. Claudia hat noch einiges Interessante zusammengetragen.
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