Dienstag, 30. August 2022

Winnetou. Senf


Noch jemand keinen Löffel Senf dazugegeben zum Thema Winnetou? Ich habe auch noch einen. 

Es war noch nie so einfach, spottbillig und risikolos wie heute, sich als irre mutiger Rebell zu gerieren. Ein Verlag entscheidet nach heftiger Kritik, ein Begleitbuch zu einer Karl-May-Spin off-Verfilmung vom Markt zu nehmen, das wohl innerhalb des Verlages bereits heftig umstritten war. Und sofort so: Hiiilfäää! Sie wollen uns unseren Karl May wegnehmen! Ich lasse mir von woken linksgrünversifften Volxerziehern doch nicht vorschreiben, was ich zu lesen habe!1!!11!

Das meiste davon ist wie immer heillos überdrehter Humbug. Weder werden Karl May-Bücher aus den Regalen verbannt oder gar verbrannt werden, noch werden die betulichen, aus Kindheitstagen vertrauten Verfilmungen verschwinden. Ihre Bedeutung wird halt immer geringer werden, mehr nicht. Aber das ist etwas völlig Normales. Sich jetzt demonstrativ mit May-Gesamtausgaben einzudecken, ist in etwa so rational, wie sich 2020 die Bude bis unters Dach mit Klopapier, Nudeln und Mehl vollgestopft zu haben.

"Die dreibändige Winnetou-Ausgabe steht aktuell in mehreren Amazon-Bestsellerkategorien auf dem ersten Rang. Erst waren es Hefe, Mehl und Klopapier, jetzt eben Karl May. Was der von irrealer Verlustpanik getriebene Schnauzevolldeutsche hat, das hat er." (David Hugendieck)

Nun ist die andere Seite ja nicht minder geistfrei. Ich bin überzeugt, dass Idiotenkonzepte wie 'kulturelle Aneignung', wie sie momentan exekutiert werden, in gewissen Milieus vor allem deswegen so populär sind, weil die intellektuellen Hürden da äußerst niedrig hängen. Die Welt inquisitorisch auf 'kulturelle Aneignung' abzuscannen oder auf Dies- und Jenesfeindlichkeit oder was auch immer, und dann säuberlich in Gut- und Böse-Schubladen zu sortieren -- dafür braucht's wirklich nicht mehr als eine große Klappe und einem kompletten Mangel an Selbstzweifeln und Skrupeln. Ernsthafte Denkarbeit, Differenzierung oder gar theoretischer Überbau hingegen stören da eher. Könnte auch ein Nebeneffekt des Bologna-Prozesses sein und dem Umdeuten von Bildung zur bloßen Dienstleistung.

Positiver Nebeneffekt fürs Kapital: Wer sich den lieben langen Tag mit Privilegien, Mikroaggressionen und Aneignung beschäftigt, hat in der Regel nicht mehr den Kopf frei für Klassenfragen oder dafür, Besitz- und Eigentumsverhältnisse infrage zu stellen. (Wir kennen das aus dem modernen Feminismus.)

Das ist umso bedauerlicher, als dass Debatten darüber, wie Kunst aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Realitäten neu bewertet werden kann, wenn nicht muss, nicht nur ein völlig normaler Vorgang sind, sondern meist auch wirklich spannend und erkenntnisfördernd sein können. Nicht zuletzt, weil es da viel über sich selbst und die eigenen Wahrnehmungen zu lernen gibt.

Schlimmer noch, steckt hinter all dem ein vormodernes, magisches, um nicht zu sagen kindliches Verständnis von Literatur und Kunst. Und ein einigermaßen schlichtes Menschenbild. Input A ergibt Output B. Leicht unter die Räder kommt dabei die große zivilisatorische Errungenschaft des Kunstvorbehalts. Also die Annahme, dass niemand durch die Lektüre von Shakespeares 'Macbeth' zum politischen Attentäter wird, keine Frau ursächlich fremdgeht, weil sie 'Madame Bovary' oder 'Lady Chatterley' gelesen hat, und niemand durch Betrachten von Nolde-Gemälden zum Nazi wird. Diese Erkenntnis musste seit der Aufklärung mühsam gegen Inquisitoren, Zensoren und andere Obskuranten durchgesetzt und gegen sie verteidigt werden.

Die Forderung, irgendwas dürfe nicht veröffentlicht werden, bloß weil sich theoretisch irgendwo irgendwer deswegen beleidigt fühlen könnte, ist Quatsch. Beleidigt ist immer irgendwo wer und beleidigt sein allein ist noch kein Argument und berechtigt einen zu nichts. Wäre es das so, dann müssten jene Twitter-Scheinriesen, die jetzt tatsächlich Winnetou bekämpfen, konsequenterweise auch den jüngsten, glücklicherweise nicht tödlichen Angriff auf den Schriftsteller Salman Rushdie begrüßen. Weil das zugrunde liegende Muster dasselbe ist.

(Ja, aber was ist dann mit der documenta??? Gute Frage. Ich würde sagen, der eigentliche Skandal ist gar nicht mal so sehr, dass da welche, die sich über die Auswirkungen möglicherweise nicht völlig im Klaren waren, offen antisemitische Bilder hängten, sondern dass da ein überwiegend deutsch-bildungsbürgerliches Kuratorium über Monate offenbar kein Problem darin gesehen hat, es versäumt hat, das zu problematisieren und auch dann noch keinen Antisemitismus erkennen mochte, als alles schon offen zutage lag. Ich glaube übrigens, man hätte diese Werke sogar irgendwie ausstellen können, wenn man das in einem bestimmten Kontext getan hätte. Hat man aber nicht.)

Verbotenes Schrifttum! Ich trau' mich aber auch was...

Das alles jedenfalls passt perfekt in einen im Kern wissenschafts- und kunstfeindlichen Zeitgeist, der kreative und künstlerische Arbeit eigentlich zutiefst verachtet, jegliche Mehrdeutigkeit und Zumutung nicht nur aus der Kunst tilgen will und nur mehr gelten lässt, was in schlichte Schwarz-weiß-Muster oder das Raster eines stupiden Positivismus a'la Bechdel-Test passt und bloß niemanden überfordern will. Sind auch alle denkbaren Minderheiten ausreichend repräsentiert? Was sagt die Excel-Tabelle? Nicht? Dann hinfort damit, und zwar pronto! Merken diese Leute nicht, dass sie sich in nichts unterscheiden von jenen Spießern, die Menschen nach ihrer Frisur beurteilten und sie zwangsweise zum Friseur oder gleich ins Lager stecken wollten? Ist ihnen nicht klar, dass es überall dort, wo es orthodox wird, es normalerwiese sehr schnell eng, kleingeistig und menschenfeindlich wird?
Oder wollen sie es nicht merken?

Das wiederum ist umso bedauerlicher, als dass es an dem Konzept der Repräsentation grundsätzlich wenig auszusetzen gibt. Nur ist auch das eigentlich keine große Sache. Schon in den 1980ern kam es beispielweise zu ersten gleichgeschlechtlichen Küssen und Beziehungen im Mainstream-Kino und im Fernsehen. Ist die Welt deswegen untergegangen? Nein, es werden seither immer mehr Menschen immer selbstverständlicher damit groß, dass es da draußen mehr gibt als die bürgerlich-endemische heterosexuelle Kernfamilie aus Vater und Mutter plus Kindern. Das wieder zurückdrehen zu wollen, hieße, religiösen Spinnern und Arschgeigen wie Orbán et al. das Feld zu überlassen.

Vielleicht ist der bierernste moralische Rigorismus vieler Jüngerer, darunter derer, die sich momentan an Gemälden festkleben, mit Demographie erklärbar. Noch nie sahen sich in dieser Weltgegend so viele junge Menschen so vielen Alten gegenüber wie heute. Die Jungen sorgen sich völlig zu Recht um ihre Zukunft auf einem zunehmend unbewohnbaren Planeten. Und exakt die Boomer-Generation, die ihr Leben lang nichts getan hat, daran irgendwas zu ändern, obwohl das Wissen da war, macht was? Zuckt die Schultern. Mir doch egal. Euch wird da schon was einfallen. Ich lasse mir jedenfalls meinen Sechszylinder/meine Kreuzfahrt nicht verbieten. Schönes Leben noch. Brrrmmm, brrrmmm!








9 Kommentare:

  1. Der schlimmste Fall von kultureller Aneignung ist für mich sowieso dass das Oktoberfest auch außerhalb Bayerns gefeiert wird. Eine Cancel-Culture würde ich in diesem Fall sehr begrüßen.

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    1. Nimm's einfach mit Humor: https://www.youtube.com/watch?v=ZUKUgGNxhgA

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    2. Fun fact: In Bayern heißen Dirndlkleider, die zum Oktoberfest aus dem Katalog bestellt werden, gemeinhin 'Preißndirndln'.

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  2. Siewurdengelesen31. August 2022 um 11:52

    Treffer versenkt!

    Zur üblichen Empöreria hat´s auch etwas bei Nömix.

    Da läßt sich ein halber Roman schreiben und ich ahne schon, dass eine Antwort wieder nicht genügt.

    Zum Thema selber würde ich vorschlagen, dass bei Neuauflagen außer bei offensichtlichen No-Gos nicht der Originaltext verändert wird, sondern ein sowohl eltern- als auch kindgerechter Zusatz enthalten ist, der das aus heutiger Sicht Überholte erklärt und begründet. Das macht vielleicht auch den Blick offener für das, was aktuell Rassismus ist und von Nichtbetroffenen oft gar nicht so wahrgenommen wird.

    Karl May würde ich dabei sogar eine Art humanistischen Denkens nahe legen, hat er doch sowohl in seinen Winnetou- als auch anderen Bänden die Akteure auf deren Menschsein hin fokussiert trotz anderen Glaubens und Lebensumständen. Das es aus seiner damaligen Sicht von einer protestantischen Ethik und mit dem Schuß Kitsch des/der edlen Wilden durchzogen ist, sei dahin gestellt. Karl May war eher fortschrittlich gemessen am Kolonialismus dieser Zeit, welcher alle nicht weißen Menschen weitestgehend auf der Stufe Vieh/Material und maximal tumbe Hilfsarbeiter stellte, die man als Kostenfaktor und notwendiges Übel auch noch so weit ernähren mußte, dass sie wenigstens arbeiten konnten. Aus dieser Quelle speiste sich Rassismus, Eugenik und zum Schluß das Entmenschlichen Anderer bis zum Vernichten als Ziel wie bei den Juden durch den deutschen Faschismus. Wer dieses Denken - welches witzigerweise zu DDR-Zeiten auch als Argument gegen den Druck seines Werks diente - als Spitze der Kritik einem Karl May unterstellt, hat den Knall jedenfalls auch nicht gehört.

    Kunst ist meist so ein Ding für sich, Verbote haben dabei durch die Zeiten eher noch einen Reiz mehr geschaffen, etwas zu haben, zu lesen oder zu betrachten - egal ob Kunst oder Kitsch und selbst da wandeln sich bekanntlich mit der Zeit die Ansichten. Das u.U. damit verbundene Denken schafft man mit einem Verbot sowieso nicht aus der Welt, sondern bestätigt es im Zweifel nach dem Prinzip nur, dass da ja etwas dran sein muß, wenn so vehement dagegen vorgegangen wird.

    Thema Boomer und Klima noch kurz: Es ist ja nun ein ebenfalls menschliches Ding, dass in der Jugend vieles ganz anders gemacht werden will und im Alter die meisten doch eher und gerne einem Status Quo frönen und auf ihrer Sicht und Lebensweise beharren. Das dies nun damit einher geht, dass viele in der Annahme leben, dass es sie ohnehin nicht mehr erwischt, weil sie vorher weg sind, macht es nicht besser, erklärt aber vielleicht einen Teil dieser Ignoranz, der subjektiv auch eher aus der Ecke der besser Situierten kommt ganz ähnlich wie bei Querdenkern, besorgten Bürgern usw. und bei denen, die weitestgehend gar nichts mehr zu verlieren haben, sondern mit den bereits jetzt Betroffenen aus der Dritten Welt und Flüchtlingen am unteren Ende der sozialen Skala "konkurrieren" und deshalb das Ganze ablehnen. Dabei die lange Strecke zu denken, dass es sich um gesellschaftliche Folgen unserer vorrangigen Wirtschaftsform handelt, greift da nicht oder nur rudimentär.

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    1. ... guten Tag,
      "... Was der von irrealer Verlustpanik getriebene Schnauzevolldeutsche hat ..."
      Nette Formulierung.
      Das Problem liegt auch hier wieder in der automatischen, reflexionsarmen, durch die sozialen Medien befeuerten Empörung.
      Am Anfang, wenn man so etwas "irgendwo" liest, ist es nur der Gedanke "nun, da hat der Autor recht — sehe ich auch so". In dem Moment, in welchem man dann auf mehreren Kanälen das Gleiche hört, liest, sieht, muß man ja wohl automatisch den Eindruck bekommen "Moment, wenn alle das so sehen, dann ist das ja wirklich ein Skandal."
      Ohne diese Verstärkung, des am Anfang eigenen Gefühls oder evtl. schon Meinung, wäre nichts weiter passiert.

      Ohne diese Verstärkung der eigenen Meinung kämen auch die ganzen Querdenker und Coronaleugner auch nie auf die Idee, das "sie" ja die eigentliche Mehrheitsmeinung vertreten und die Realität in Unterdrückung umdeuten.

      Gut fand ich übrigens das Beispiel von Dieter Hallervorden mit Goethes Faust und Donald Duck etc.

      Gruß
      Jens

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  3. Hier mal eine Datenanalyse zur aktuellen Dorfsau:
    https://scompler.com/winnetou/?fbclid=IwAR1QELzDY0tgOHQPWrNj3DOEuyj6l0pXrbPwZxJTDOYqPpurKaIVMb0Pre0

    Die Qualität der Auswertung kann ich leider nicht beurteilen, aber es bestätigt doch so manche Vermutung.

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    1. Angeblicher Shitstorm als Asrede, ergibt zumindest in sich Sinn.

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    2. @ Flusskiesel:
      "... Ursache ist die Überforderung und (man muss es wohl sagen:) die mediale Inkompetenz von Journalisten und Meinungsführern. Hätten die Medien journalistische Standards eingehalten, wäre das nicht passiert. ..." "...Dazu kommt, dass viele Medien unter so wirtschaftlichem Druck und gleichzeitig so sehr unter Nachrichtenstress sind, dass kaum ein Redakteur mehr die Zeit bekommt, auch nur ansatzweise verantwortlich zu recherchieren."

      Dem ist a - hinzuzufügen und macht b - ziemlich Angst und Bange. Ich sehe da keine Lösung außer dem (radikalen) Abschaffen der sozialen Medien.

      Gruß
      Jens

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  4. @Anonym
    Ein Abschaffen ,,sozialer Medien'' stelle ich mir schwierig vor. Wie soll das gehen?
    Es gibt übrigens auch ,,soziale Medien'' ohne jeglichen Algorithmus.

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