Mittwoch, 14. Dezember 2022

Re: Sich wehren

 
Es war ein kühler, trübgrauer Herbstmorgen im Jahr 1990. Ich hatte gerade zu studieren angefangen und wollte BAFöG beantragen. Vatern war der Meinung, paar Mark extra vom Staat zur Unterstützung des studierenden Sohnemanns könnten nicht schaden. Mühevoll hatte ich den für mich kaum verständlichen, wohl zwanzigseitigen Antrag ausgefüllt und stand nun in der Schlange. Es nieselte. Das BAFöG-Amt war in einem Betonbau vor dem Haupteingang der Beton-Uni untergebracht. Von drinnen strahlte bläuliches Neonlicht durch Gardinen. Belangloser Smalltalk unter den Wartenden.

Drinnen ging die Warterei weiter. Brauner Teppichboden, Gedränge, es roch nach aufgehängter Wäsche und Zigarettenrauch (damals durfte noch quasi überall außerhalb von Operationssälen und Reinräumen geraucht werden). Als ich endlich vorgelassen wurde zum Sachbearbeiter, prallten Welten aufeinander. Dort ein schmaler, schlecht gelaunter bebrillter, blutleerer Bürokrat in kariertem Hemd und Pullunder, der es nicht für nötig befand, mich auch nur eines Blickes zu würdigen, geschweige denn, mich überhaupt anzusehen. Hier ein Jungspund in zerschlissener Jeans und Lederjacke, der sich unangepasst dünkte und glaubte, ihm stünde die Welt offen. Ich reichte meinen Antrag herüber, er blätterte wortlos. Irgendwann blaffte er mich an: "Einen BAFöG-Antrag zu stellen und dann die Anlagen nicht vollständig einzureichen, grenzt schon nicht mehr an eine Frechheit!"

Als ich wie vom Donner gerührt dastand, schob er, minimal leiser, hinterher: "Reichen Sie das binnen zwei Wochen nach. Nächster!" Die Audienz war beendet, Nachfragen offenbar nicht gestattet. Ich ging in die Cafeteria. Kaffee, eine rauchen. Frust. Wut. Und Scham. Weil ich nichts Passendes zu entgegnen gewusst, das einfach wortlos hingenommen hatte. Heute hätte ich so einem gesagt: "Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie offenbar einen schlechten Tag haben, aber ich glaube nicht, dass ich da etwas für kann." Oder: "Für die fehlenden Unterlagen entschuldige ich mich, vor allem, wenn Sie deswegen mehr Arbeit haben. Aber ich bin nicht schwerhörig, Sie können mir das also in einem normalen Tonfall sagen." So in der Art. Einfach um zu signalisieren: Einer wie du kommandiert mich nicht einfach rum und hat hier nicht das letzte Wort. Habe ich aber nicht. Abends betrank ich mich.

Zwar reichte ich die geforderten Belege noch ein, aber der Antrag wurde dennoch abgelehnt. Die Hypothekenschulden der Eltern wurden nicht so angerechnet wie gedacht. Ich war sauer. Aber ich wehrte mich auch da nicht und nahm das so hin. Kuschte vor dem Amtsschimmel. Was ich nicht wusste: Ich war ein freier Mann. Bestritt mein Studium dann mit elterlichen Zuwendungen, Nachhilfestunden und Nebenjobs irgendwie selbst und musste seither niemals auch nur einen Gedanken an Rückzahlungen verschwenden. Es kann tatsächlich manchmal besser sein, sich nicht zu wehren.

Aber man muss halt auch in der Position sein.






5 Kommentare:

  1. … die besten Antworten fallen einem immer nen Tag später ein — Naturgesetz …
    Gruß
    Jens

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    1. Das stimmt. Aber man kann es bis zu einem gewissen Grad lernen. Haltung und sich selbst nicht so wichtig nehmen helfen ungemein...

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  2. "sich selbst nicht so wichtig nehmen" — jo, klappt beim Antragsteller meistens. Beim Sachbearbeiter — hmm — bei manchen Leuten hat man den Eindruck, dass es ihnen warm die Beine runterläuft, wenn sie mit "Bittstellern" zu tun haben ...
    Auch nett, die Bräsigkeit von einigen Kundenservice-Mitarbeitern. Erst reagieren, wenn sich der selbe Kunde ein zweites Mal wegen der selben Sache meldet. "Wenn er sich nicht mehr meldet, kann es ja wohl nicht so schlimm gewesen sein"

    Gruß
    Jens

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  3. Es war einmal vor langer Zeit, da musste ich mich beim Job-Center anmelden. Am Empfang wurden meine Daten aufgenommen. Da ich den Dr. phil. nicht im Ausweis stehen hatte (finde ich albern) und meine Promotionsurkunde gerade nicht zur Hand hatte, rief die Frau am Computer in triumphalem Tonfall so laut, dass es alle in der Schlange hören konnten: "Dann streichen wir erst mal Ihren Doktortitel". Ich habe geschwiegen. So lernt man Stoizismus.

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  4. ... erinnert mich ganz stark an "Tinaaa watt kosten die Kondome" halt nur nicht so lustig ... aber dafür hat die Dame dem "Akademikerpack" mal wieder tüchtig eingeschenkt ...

    Gruß
    Jens

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