Donnerstag, 23. Mai 2024

Wahre Worte (75)


Heute: Matthias Warkus über Brianna Wiests Bestseller '101 Essays, die dein Leben verändern werden'

"Seit über zwei Jahren hält sich ein Buch ununterbrochen in den deutschen Sachbuch-Bestsellerlisten, das sieben Jahre alt ist, dessen Inhalt lieblos zusammengedroschener, skandalöser ideologischer Unsinn ist und das sich selbst widerspricht und wiederholt. Was aber auch egal ist, weil es kaum wegen seines Inhalts gekauft und vermutlich ohnehin gar nicht gelesen wird, oder wenn überhaupt, nicht mit besonderer Aufmerksamkeit. Damit stellt es eine konsequente Vollendung von Trends des letzten Jahrzehnts dar. Dieses Buch zu lesen, heißt, etwas über einen bestimmten geschichtlichen Moment zu lernen; über eine bestimmte Epoche des Social-Media-Kulturindustrie-Komplexes der westlichen Welt und ihre Insassen. [...]

Als Ratgeber ist 101 Essays nicht ernst zu nehmen und man kann nur vor Menschen warnen, die die darin verbreitete Ideologie allzu sehr verinnerlichen. Als Dokument seiner Zeit ist es aber an Prägnanz kaum zu überbieten. Es lässt das Bild einer verunsicherten, getriebenen Kohorte netzaffiner Twentysomethings zwischen Finanzkrise und Trump-Wahl auferstehen, denen die unvereinbaren Imperative eingebrannt worden waren, jede Minute ihres Lebens zugleich hart zu arbeiten und kreativ Einzigartiges hervorzubringen, aber alles stets gelassen, wholesome, cozy und achtsam, mit einer großen heißen Tasse Tee in beiden Händen, am Tresen der instagrammabel Joy sparkenden Minimalismusbude." (54books.de, 23. Mai 2024)


Anmerkung: Zu den unbestreitbaren Vorteilen einer Mitgliedschaft in einer gut geführten Stadtbücherei gehört es, ohne finanzielles Risiko einen gründlicheren Blick in Bücher werfen zu können, die man sonst definitiv links liegen gelassen hätte. Es sei denn, man vermasselt den Rückgabetermin. Dann zahlt man einen Euro Strafe. Verschmerzbar. Und so geriet mir letztes Jahr auch Brianna Wiests Überbestseller mit den 101 Essays in die Finger. Ressentiments wie das, dass eine Frau von Mitte zwanzig unmöglich so viel Tiefgründiges zu sagen hat, wischte ich als arrogantes Alter Sack-Gehabe beiseite.

Und, wie war's? Lassen Sie mich kurz ausholen. Hier in der Gegend gibt es Städte, die sind durchaus schön. Der historische Ortskern von Westerholt etwa. Dann gibt es welche, die sind konsequent hässlich. Marl-Mitte zum Beispiel. Und dann gibt es Städte, die sind irgendwie so gar nichts. Weder schön noch hässlich. Nichts, was das Auge erfreut, aber auch nichts, das es wirklich beleidigt. Nichts, das irgendwie hängen bliebe. Man fährt durch oder läuft durch und erinnert sich Tags darauf an: nichts.

Und so ging es mit bei Wiests Essaysammlung. Das ganze erschien mir als eine Aneinanderreihung leicht konsumierbarer, gar nicht mal unkluger Gedanken, die aber wiederum nicht so klug waren, dass auch nur einer davon mir in Erinnerung geblieben wäre. Das aber erwarte ich von einem Essay. Den Ansatz einer Idee, die einem zumindest noch einen Tag lang nachhängt. Meinetwegen auch, weil sie so provokant ist, einem überhaupt nicht passt. In diesem Traktätchen jedoch – Fehlanzeige. Für immerhin satte 101 Versuche ein bisschen dünne, will mir scheinen. Man liest und liest - und es liest sich ja durchaus angenehm -, aber es bleibt: nichts. Das Büchlein kam mir vor wie ein Gutenachtgeschichtenbuch für gestresste Eltern und überforderte Überstundenklopper, die gern das Gefühl haben, im Bett kurz vor dem Wegdämmern noch schnell was Geistreiches zu Ende gelesen zu haben.

Zu meiner Überraschung fand Denis Scheck, der ansonsten immer für einen gepflegten Verriss zu haben ist, das Buch gar nicht mal übel. Aber wie sagte Scheck in derselben Sendung über Thilo Sarrazins jüngstes Elaborat: "Die Welt ist groß genug, dass wir beide darin unrecht haben können."

Diese 75. Ausgabe der Rubrik 'Wahre Worte', einst 'Schmähkritik des Tages' genannt, erscheint am 75. Jahrestag des Grundgesetzes. Wer eine Korrelation findet, darf sie behalten. 







1 Kommentar:

  1. ... der letzte Satz im Wikipedia-Artikel unter dem Punkt Leben:
    "Als Menschen, die sie bei ihrem Werk inspirieren, werden von ihr Cheryl Strayed, Eric Greitens, Ryan Holiday, Jessica N. Turner und Brené Brown genannt. Italien, insbesondere Rom, bezeichnet Wiest als ihre spirituelle Heimat."
    Für mich ein Warnschild — Achtung, Weitergehen, Nicht Hinschauen. Manch einer kennt solche Personen im Bekanntenkreis: Wichtigtuende Namedropping Spezialisten, die permanent um sich selbst kreisen.
    "Hach, eigentlich bin ich ja eher so ein mediterraner Typ."
    Sowohl extrem gruselig, als auch extrem erfolgreich (in jeder Talkshow).

    Gruß
    Jens

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