Donnerstag, 20. Juni 2024

Vermischtes zur Eh-Em (II)


Die Regelung, dass jetzt nur noch die Mannschaftskapitäne mit dem Schiedsrichter reden dürfen, ist ein wahrer Segen. Das ist im Rugby übrigens schon ewig so und die einzig tolerierten Antworten auf Ansagen des Schiris sind "Yes Ma'am" bzw. "Yes Sir". Dämlich-pubertäre Rudelbildung, unwürdiges, lächerliches und nerviges Reklamieren und Feilschen bei jeder Bagatellentscheidung -- all das hat schlagartig ein Ende. Welche Wohltat! Sollte unbedingt sofort in allen Verbänden und Ligen eingeführt werden. Einzig erkennbarer Nachteil: Wenn der Torwart Kapitän ist, macht der echt Kilometer.  

***

Apropos Regeln: Wer glaubt eigentlich noch, dass diese ganzen elektronischen und digitalen Überwachungssysteme das Spiel einfacher machen? Im Gegenteil: Sie machen das so genial einfache Spiel immer nur noch komplizierter.

Jetzt haben sie dem Ball einen Chip implantiert, der anzeigt, dass eine Berührung stattgefunden hat. Was die Entscheidung bei der Frage erleichtern soll, ob nun ein Handspiel vorliegt oder nicht. Tut es aber nicht. Die Tatsache, dass es eine Berührung mit Arm oder Hand gab, ist ja meist gar nicht strittig, sondern ob die Hand zum Ball ging, Absicht vorlag, sich ein Vorteil verschafft wurde etc. Das zeigt der Chip nicht an und der Schiedsrichter steht so hilflos da wie ehedem. Er kann sich das zigmal auf dem Monitor angucken, sieht aber auch nur das, was im Fernsehen in der Superzeitlupe zu sehen ist. Weil Computerfuzzis und Digital Natives Grauzonen hassen und alles immer optimieren wollen, werden als nächstes wohl die Spieler mit Sensoren gespickt.

(Übrigens kann man mal erwähnen, dass das Hickhack um das Handspiel nicht die Schuld regulierungswütiger Funktionäre ist, sondern dass die Spieler sich das selbst eingebrockt haben. Irgendwann haben Angreifer nämlich angefangen, Abwehrspielern im gegnerischen Strafraum den Ball aus nächster Nähe an den Arm zu dreschen, um damit Elfmeter zu schinden. Auf dieses unsportliche Verhalten musste man halt irgendwie eine Antwort finden.)

Ein guter Teil des Reizes beim Fußball liegt doch gerade im Analogen, im Unvollkommenen. Darin, dass man noch nach Jahrzehnten darüber streiten kann, ob das Wembley-Tor nun drin war oder nicht, ob Hölzenbein im Finale 1974 wirklich gefoult wurde oder ob der Torwart sich beim fälligen Elfmeter vielleicht doch zu früh bewegt hat. Fußball ist, wenn ein geniales Schlitzohr mit Slumhintergrund wie Diego Maradona mit dem dreistesten Handspiel aller Zeiten zur Legende wird. Und alle, die in auspfiffen dafür, akzeptieren mussten: So ist das Leben manchmal.

***

Fällt das nur mir auf? Das unsägliche "SIEG!!!"-Gebrülle deutschen Anhangs scheint endlich exakt dort angekommen zu sein, wo es hingehört: Auf dem Müll. Noch so eine Wohltat.

***

Dass Briten regelmäßig flabbergasted sind, wenn sie des Austragungsortes Gelsenkirchen gewahr werden (vermutlich, weil sie sich so frappant an heimische Architekturperlen wie Birmingham, Slough oder Milton Keynes erinnert fühlen), ist nichts Neues. 2006 brachte der Guardian zur WM eine Art Reiseführer mit Tipps, was sich an den Spielorten außer Fußball gucken noch unternehmen lässt. Sogar für das gewiss nicht glamouröse Dortmund hatten die Journalisten noch ein paar nette Worte gefunden. Nur bei Gelsenkirchen hieß es schon damals: "Well, good luck."

 
(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)


Interessant ist ja, dass die WM 2006 kurz nach Beginn der Merkel-Ära stattfand und die EM 2024 knapp drei Jahre nach deren Ende stattfindet. In besagten ausländischen Medien sind da frappante Unterschiede zu entdecken. 2006 wurde alles Mögliche in Bewegung gesetzt, um den öffentlichen Transport zu wuppen. Das schien so weit geklappt zu haben. Vor allem Briten waren beeindruckt von "smooth german high speed trains". Jetzt, nach 16 Jahren Stillstand unter CDU plus knapp drei Jahren Nachspielzeit ist das Bild ein anderes. Zwar wird die entspannte Party-Atmosphäre allgemein gelobt und man ist froh, dass Fans nach der cleanen Temperenzlerparty von Katar wieder in den Straßen feiern und trinken können, andererseits sind viele entsetzt über den chaotischen ÖPNV, ausfallende Züge und stundenlange Wartezeiten.

"[Immer] wieder habe ich euch erzählt, dass die deutsche Wirtschaft sehr gut zum 20. Jahrhundert gepasst hat und dass im 21. Jahrhundert Anfälligkeiten offenbar werden. Vor dem Ukrainekrieg habt ihr in Deutschland ein wahnhaftes Leben geführt und geglaubt, dass Mutti euch dauerhafte Stabilität verschafft hat. Seit Kriegsausbruch ist klar, dass das deutsche Modell von russischem Gas, von Exporten nach China und von Amerikas Sicherheitsgarantien abhängig ist. Merkels Erbe ist, dass Deutschland wieder der Michel ist, der es im 19. Jahrhundert war." (Niall Ferguson)

So kommts eben, wenn man - Schuldenbremse und schwäbischer Hausfrau sei Dank - die öffentliche Infrastruktur eineinhalb Jahrzehnte lang konsequent kaputtspart und nach Jahren kontinuierlichen Stellenabbaus mit einem veritablen Arbeitskräftemangel auch im öffentlichen Nahverkehr kämpft. Das fällt dann sogar leidgeprüften, vollgetankten Briten mal auf.

***


***

Ach ja, die Nagelsmänner sind auch wieder ihrer Arbeit nachgegangen. Ein traditionell schwieriges zweites Gruppenspiel, das die deutsche NM ausnahmsweise nicht vergeigt hat, obwohl die ungarische sich sehr gesteigert hatte im Vergleich zum vorigen Spiel gegen die schweizerische. Zudem ist es nicht ohne Pikanterie, dass ausgerechnet die Mannschaft, die von ihrer heimischen Politik schon zu Kreuzrittern gegen eine angeblich queere Agenda des Westens stilisiert wurde (wofür die Spieler im Zweifel nichts können), in den schwulpinken Trikots geschlagen wurde. Dem Schlägertrupp von der Carpathian Brigade hat das vermutlich auch nicht gefallen. Und İlkay Gündoğan scheint sich mehr und mehr zum Schlüsselspieler des Teams zu entwickeln. Und, wo ist der Mann geboren? Richtig, in Gelsenkirchen. Ruhrpott rules!

Das 1 : 0 war übrigens ein komplett reguläres Tor. Gündoğan war in vollem Lauf und Willy Orban kreuzt seinen Laufweg. Soll er sich in Luft auflösen? 9 von 10 wären halt umgefallen in der Hoffnung, einen Elfmeter zu bekommen, Gündoğan hat einfach durchgezogen, wie er es aus der Premier League gewohnt ist. So einfach.









12 Kommentare:

  1. 1974: Bernd Hölzenbein!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Hölzenbein, natürlich! Vielen Dank, ist korrigiert.

      Löschen
  2. tendenziell links21. Juni 2024 um 12:45

    Dass die Sieg!-Brüllaffen nicht mehr brüllen wollen, find ich schön. Schön find ich auch, dass ich in den letzten Tagen so gut wie gar keine BRD-Fähnchen von irgendwelchen Kotflügeln hab flattern sehn. Das war früher auch anders.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liegt vermutlich an der zuletzt inflationär genutzten Art. Zumindest halte ich mich deshalb mittlerweile zurück. Hatte aber schon an eine Europaflagge als Alternative gedacht. 🤔😁 Gibt es die so?

      Löschen
  3. Nicht zu vergessen die Zeitverzöger und verschiebung der verschiedenen Liveübertragungen.
    Merkt man beim Gassigehen ganz gut.
    (Tooor am Anfang der Strasse und paar Gehminuten später Tooor am Ende der Strasse. Bei nur 1 Torschuss)

    AntwortenLöschen
  4. Im Gespräch mit einem Freund entstand heute der Bergriff: "Die Europhie in der Viertelfiliale". Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. tendenziell links22. Juni 2024 um 08:12

      Hauptsache, er führt zum Ziel! Auf in das Filiale!

      Löschen
    2. Wird sich noch herausstellen, ob auf dem Weg dorthin nicht die Spanier warten. Irgendwas sagt mir, wer Europameister werden will, muss die schlagen.

      Löschen
  5. Ich habe gelernt: Wenn der Torwart Kapitän ist, darf er nur im eigenen Strafraum mit dem Schiri diskutieren. Für außerhalb wird ein Vertreter benannt, der das übernimmt. Neulich bekam ein Torwart-Kapitän gelb, weil er eben außerhalb vom Strafraum reden wollte. Daran sieht man schon, dass dieser Teil der Regel noch nicht zu Ende gedacht ist. Oder auf kurz oder lang wird kein Torwart mehr Kapitän. Ansonsten: ja, großartige Neuerung.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ah, interessant, danke. Abgesehen davon habe ich nie verstanden, worin der Sinn liegt, einen Torwart zum Kapitän zu machen. Das mag mannschaftsintern Sinn ergeben, aber auf dem Platz ist es m.E. besser, wenn das ein Feldspieler macht, weil der im Zweifel näher am Geschehen ist.

      Löschen
  6. Vielleicht sollte man noch das exzessive Schauspielern unterbinden, was für Jammerlappen die den sterbenden Schwan mimen. 🤦‍♂️ Bloß doof, wenn der 'Sterbene' zeitgleich formatfüllend im TV gezeigt wird, während er zwischen den vor dem Gesicht liegenden Händen zum Schiri schielt... 🤮 Was ein Primaten-Sport. Sorry!

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.