Zu Susanne Lothar fallen mir nur
Superlativ-Floskeln ein, wie sie von PR und Presse täglich
massenhaft verbreitet werden. Auch hatte ich kein persönliches oder gar freundschaftlichen Verhältnis zu ihr. Warum fühle ich mich dennoch genötigt,
hier einen Nachruf zu bringen, wenn mir nichts Kreativeres einfällt?
Weil ich bei ihr das Gefühl habe, eine prägende persönliche Begegnung gehabt zu haben mit einem faszinierenden Menschen. Ich hatte nämlich das Glück, diese zierliche, doch so große Frau einen unvergesslichen
Abend lang live im Theater erleben zu dürfen und selten hat mich etwas so berührt und durchgeschüttelt. Das ist jetzt ziemlich
genau zwanzig Jahre her. Die traurige Nachricht von ihrem frühen Tod brachte
vieles zurück. Doch bleibt vor allem tiefe Dankbarkeit.
Ruhrfestspiele Recklinghausen 1992.
Lulu von Frank Wedekind in der Inszenierung von Peter Zadek
stand auf dem Spielplan. In den Hauptrollen Susanne Lothar, Ulrich
Wildgruber, Ulrich Tukur, Heinz Schubert, Jutta Hoffmann und Matthias Fuchs. Über Kontakte war ich
irgendwie noch an eine Karte gekommen. Die Feuilletons hatten ein
wenig vorbereitet auf das, was kam. Darauf, dass Zadek die Handlung
von der Kaiserzeit in die Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges
verlegt hatte, auf die Länge des Abends, weil Zadek zum ersten mal die beiden Teile des Lulu-Dramas, Erdgeist und Die Büchse der Pandora, an einem Abend aufführte. Und auf Susanne Lothar, die über längere Zeit auf der Bühne nackt sein
würde. Zu erwarten war, so hieß es, munteres Provokationsvarieté Marke Spießer, ärger' dich, von dem
man schon so vieles gehört hatte. Es sollte ganz anders kommen.
An diesem Abend glaubte ich, Zadeks
Theater begriffen zu haben. Es ging ihm nicht um platte
Verfremdungseffekte. Die Freiheiten, die er sich herausnahm, waren
kein Ausdruck eitler, sich über den Text stellenden Egozentrik,
sondern dienten allein dem Zweck, Energie freizusetzen. Die pure, rohe Energie,
die ein mit jeder Faser von Physis und Psyche wie besessen agierendes
Ensemble abzustrahlen vermag und die Energie, die zurück strahlt,
wenn ein vollbesetzter Saal sich davon gefangen nehmen lässt und
wirklich teilnimmt. Und Susanne Lothar gab am meisten. Wenn das alles Zadeks Absicht gewesen sein sollte, dann
hat er das Haus damals mehr als vier volle Stunden lang förmlich
unter Starkstrom gesetzt. Sie halten sich raus, Brecht!
Lulu (Susanne Lothar), Alwa Schöning (Ulrich Tukur) - via augsburger-allgemeine.de |
Der zweite Teil von Lulu,
ursprünglich Die Büchse der Pandora,
ist streng genommen eine reichlich billige Räuberpistole. Doch
geriet damals auch diese platte Moritat zu großer Kunst. Als Lulu am
Ende, von Jack The Ripper tödlich verwundet, im zerfetzten
Trenchcoat blutüberströmt aus den Tiefen der Hinterbühne nach vorn
wankte, habe ich zum ersten und einzigen Mal erlebt, wie es sich
anfühlt, wenn eintausend Menschen kollektiv nach Luft zu ringen scheinen, weil
sie es kaum mehr aushalten können. Susanne Lothars Nacktheit im übrigen
hatte nichts Voyeuristisches, denn es war auch eine Nacktheit der
Seele, die all denen im Saale, die sich auf Frivoles gefreut haben
mögen, förmlich einen Tritt in die Fresse verpasste. Nirgends war
beim dringend benötigten Bier in der Pause und nach der Vorstellung
auch nur eine anzügliche Bemerkung zu hören. Abwehr, ja, die war spürbar, doch niemand säftelte herum. Zu groß die Verstörung über das,
was da passiert war. Als ich an jenem schwülwarmen Sommerabend das Theater verließ, da dachte ich: Meine Fresse, für so was lebt man! So was bringt kein Kinofilm der Welt zustande.
Das abgetatschte Bild von der an beiden
Enden brennenden Kerze kommt in den Sinn beim Gedanken an diese
Schauspielerin. Die Kraft und Energie, die sie an diesem einen Abend Anfang
der Neunziger freisetzte, kriegen andere in ihrem ganzen
Leben nicht zusammen. Auch in den Filmen, in denen sie mitspielte,
vor allem Funny Games und Das weiße Band von Michael
Haneke, ging sie dahin, wo es richtig weh tat und sie zeigte, dass
Lulu erst der Anfang gewesen war. Jetzt erst, zu spät, kommt
auch in den Sinn, dass einem vielleicht hätte bange sein müssen um
sie.
Es ist, als ob der Tod diese Familie gezielt
heimsuchen würde. Susanne Lothar, die schon als Kind ihren Vater, den
Schauspieler Hanns Lothar, verloren hatte, musste 2007 ihren Mann Ulrich
Mühe begraben. Dessen zweite Frau, die wegen ihrer zahlreichen Fernsehrollen oft unterschätzte Jenny
Gröllmann, war 2006 verstorben. Was für eine Tragödie.
Der schönste Nachruf den ich bisher über Susanne Lothar gelesen habe!
AntwortenLöschenDanke dafür!
Schließe ich mich an. Wunderschön. No furthermore comment.
AntwortenLöschenWunderschöner Nachruf für eine wunderbare Schauspielerin! Danke!
AntwortenLöschenCora
Danke für diese Worte, die ich ausschneiden und einrahmen würde.
AntwortenLöschenSusanne Lothar übte auf mich eine Faszination aus, die ich nicht in Worte fassen kann.
Ich bin vor ein paar Tagen des nachts bei irgendeinem dritten Sender kleben geblieben und hab mir Dittsche und Susanne Lothar in der Homestory gegeben. "Püppi", Dittsches "Schwester" , ein so gebrechlich und verwirrtes Geschöpf, das Susanne da gespielt hat, daß es mich tiefst gerührt und geschüttelt hat. Schaut´s euch an, wenn noch nicht geschehen.
AntwortenLöschenIch hatte Susanne Lothar ebenfalls in Recklinghausen erlebt. Es war alles so, wie es beschrieben wurde. Nach diesem Ereignis war ich genauso aufgewühlt. Diese Aufführung war prägend für mein Leben. Ich danke Susanne Lothar, Ulrich Wildgruber, Peter Zadek. Alle sind nicht mehr am Leben. Diese Leben schmerzt. Welcher Kontrast zu unserer Gegenwart.
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