Freitag, 27. Juli 2012

Susanne Lothar (1960-2012)


Zu Susanne Lothar fallen mir nur Superlativ-Floskeln ein, wie sie von PR und Presse täglich massenhaft verbreitet werden. Auch hatte ich kein persönliches oder gar freundschaftlichen Verhältnis zu ihr. Warum fühle ich mich dennoch genötigt, hier einen Nachruf zu bringen, wenn mir nichts Kreativeres einfällt? Weil ich bei ihr das Gefühl habe, eine prägende persönliche Begegnung gehabt zu haben mit einem faszinierenden Menschen. Ich hatte nämlich das Glück, diese zierliche, doch so große Frau einen unvergesslichen Abend lang live im Theater erleben zu dürfen und selten hat mich etwas so berührt und durchgeschüttelt. Das ist jetzt ziemlich genau zwanzig Jahre her. Die traurige Nachricht von ihrem frühen Tod brachte vieles zurück. Doch bleibt vor allem tiefe Dankbarkeit.

Ruhrfestspiele Recklinghausen 1992. Lulu von Frank Wedekind in der Inszenierung von Peter Zadek stand auf dem Spielplan. In den Hauptrollen Susanne Lothar, Ulrich Wildgruber, Ulrich Tukur, Heinz Schubert, Jutta Hoffmann und Matthias Fuchs. Über Kontakte war ich irgendwie noch an eine Karte gekommen. Die Feuilletons hatten ein wenig vorbereitet auf das, was kam. Darauf, dass Zadek die Handlung von der Kaiserzeit in die Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges verlegt hatte, auf die Länge des Abends, weil Zadek zum ersten mal die beiden Teile des Lulu-Dramas, Erdgeist und Die Büchse der Pandora, an einem Abend aufführte. Und auf Susanne Lothar, die über längere Zeit auf der Bühne nackt sein würde. Zu erwarten war, so hieß es, munteres Provokationsvarieté Marke Spießer, ärger' dich, von dem man schon so vieles gehört hatte. Es sollte ganz anders kommen.

An diesem Abend glaubte ich, Zadeks Theater begriffen zu haben. Es ging ihm nicht um platte Verfremdungseffekte. Die Freiheiten, die er sich herausnahm, waren kein Ausdruck eitler, sich über den Text stellenden Egozentrik, sondern dienten allein dem Zweck, Energie freizusetzen. Die pure, rohe Energie, die ein mit jeder Faser von Physis und Psyche wie besessen agierendes Ensemble abzustrahlen vermag und die Energie, die zurück strahlt, wenn ein vollbesetzter Saal sich davon gefangen nehmen lässt und wirklich teilnimmt. Und Susanne Lothar gab am meisten. Wenn das alles Zadeks Absicht gewesen sein sollte, dann hat er das Haus damals mehr als vier volle Stunden lang förmlich unter Starkstrom gesetzt. Sie halten sich raus, Brecht!

Lulu (Susanne Lothar), Alwa Schöning (Ulrich Tukur) - via augsburger-allgemeine.de
Der zweite Teil von Lulu, ursprünglich Die Büchse der Pandora, ist streng genommen eine reichlich billige Räuberpistole. Doch geriet damals auch diese platte Moritat zu großer Kunst. Als Lulu am Ende, von Jack The Ripper tödlich verwundet, im zerfetzten Trenchcoat blutüberströmt aus den Tiefen der Hinterbühne nach vorn wankte, habe ich zum ersten und einzigen Mal erlebt, wie es sich anfühlt, wenn eintausend Menschen kollektiv nach Luft zu ringen scheinen, weil sie es kaum mehr aushalten können. Susanne Lothars Nacktheit im übrigen hatte nichts Voyeuristisches, denn es war auch eine Nacktheit der Seele, die all denen im Saale, die sich auf Frivoles gefreut haben mögen, förmlich einen Tritt in die Fresse verpasste. Nirgends war beim dringend benötigten Bier in der Pause und nach der Vorstellung auch nur eine anzügliche Bemerkung zu hören. Abwehr, ja, die war spürbar, doch niemand säftelte herum. Zu groß die Verstörung über das, was da passiert war. Als ich an jenem schwülwarmen Sommerabend das Theater verließ, da dachte ich: Meine Fresse, für so was lebt man! So was bringt kein Kinofilm der Welt zustande.

Das abgetatschte Bild von der an beiden Enden brennenden Kerze kommt in den Sinn beim Gedanken an diese Schauspielerin. Die Kraft und Energie, die sie an diesem einen Abend Anfang der Neunziger freisetzte, kriegen andere in ihrem ganzen Leben nicht zusammen. Auch in den Filmen, in denen sie mitspielte, vor allem Funny Games und Das weiße Band von Michael Haneke, ging sie dahin, wo es richtig weh tat und sie zeigte, dass Lulu erst der Anfang gewesen war. Jetzt erst, zu spät, kommt auch in den Sinn, dass einem vielleicht hätte bange sein müssen um sie.

Es ist, als ob der Tod diese Familie gezielt heimsuchen würde. Susanne Lothar, die schon als Kind ihren Vater, den Schauspieler Hanns Lothar, verloren hatte, musste 2007 ihren Mann Ulrich Mühe begraben. Dessen zweite Frau, die wegen ihrer zahlreichen Fernsehrollen oft unterschätzte Jenny Gröllmann, war 2006 verstorben. Was für eine Tragödie.


6 Kommentare :

  1. Der schönste Nachruf den ich bisher über Susanne Lothar gelesen habe!

    Danke dafür!

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  2. Schließe ich mich an. Wunderschön. No furthermore comment.

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  3. Wunderschöner Nachruf für eine wunderbare Schauspielerin! Danke!

    Cora

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  4. Danke für diese Worte, die ich ausschneiden und einrahmen würde.
    Susanne Lothar übte auf mich eine Faszination aus, die ich nicht in Worte fassen kann.

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  5. Ich bin vor ein paar Tagen des nachts bei irgendeinem dritten Sender kleben geblieben und hab mir Dittsche und Susanne Lothar in der Homestory gegeben. "Püppi", Dittsches "Schwester" , ein so gebrechlich und verwirrtes Geschöpf, das Susanne da gespielt hat, daß es mich tiefst gerührt und geschüttelt hat. Schaut´s euch an, wenn noch nicht geschehen.

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  6. Ich hatte Susanne Lothar ebenfalls in Recklinghausen erlebt. Es war alles so, wie es beschrieben wurde. Nach diesem Ereignis war ich genauso aufgewühlt. Diese Aufführung war prägend für mein Leben. Ich danke Susanne Lothar, Ulrich Wildgruber, Peter Zadek. Alle sind nicht mehr am Leben. Diese Leben schmerzt. Welcher Kontrast zu unserer Gegenwart.

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