Freitag, 12. Oktober 2012

Unser langer Lauf von uns weg


Abt.: Sommerloch-Wiederholung

Da ich, wie bereits erwähnt, gerade mitten im Umzug stecke, habe ich nicht nur viel zu tun, sondern auch den Kopf ziemlich voll mit anderen Dingen. Daher werden hier in nächster Zeit ältere Beiträge ohne tagespolitische Bezüge, an die ich mich gern erinnere, in loser Folge wieder aufgewärmt werden (damalige Kommentare inklusive).

Vieles wäre wohl einfacher, wenn die wackeren Athener, die einst den persischen Invasoren eins auf die Mütze verpasst haben, eine Brieftaube zur Hand gehabt hätten. Oder ein Pferd. Aber nein, der Überlieferung zufolge mussten sie ja unbedingt einen antiken Urahnen von Dieter Baumann, Haile Gebrselassie und Achim Achilles per pedes losjagen, die freudige Nachricht in der Hauptstadt zu verkünden. Ein stinknormaler Soldat wäre das vermutlich in aller Ruhe angegangen, hätte nichts überstürzt und sich unterwegs, sobald er außer Sichtweite gewesen wäre, vielleicht an einem schattigen Plätzchen ein paar Mezedes und einen Schoppen Retsina gegönnt. Irgendwann am Abend wäre er ganz entspannt beim Bürgermeister aufgeschlagen, hätte ausführlich Bericht erstattet, einen Orden dafür bekommen und sich auf der Siegesfeier noch gepflegt einen hinter die Binde gekippt.

Weil der athenische Oberstratege sich aber zielsicher einen hyperaktiven Sportfanatiker für den Job ausgeguckt hatte, wäre die Sache beinahe schief gegangen: Der Typ hatte nichts besseres zu tun, als unvernünftigerweise die ganze Strecke ohne Pause in der prallen Sonne im Dauerlauf herunterzuprügeln. Das ist ihm bekanntlich nicht gut bekommen: Am Ziel brach er entkräftet zusammen. "Gewonnen!", das war sein letztes Wort und aus war's mit ihm. Die Schlacht überlebt und sich hinterher ohne Not zu Tode gerannt - geht es noch dümmer? Seine vorletzten Worte werden wohl gelautet haben: "Muss... mich... noch... besser... motivieren... motivieren!" Oder so ähnlich.

Ziemlich genau 2510 Jahre lang hat diese Anekdote nur Altphilologen, Historiker und sonstige Schöngeister interessiert. Die Völker Europas bestellten sich mehrheitlich auf den Feldern den Rücken krumm und ließen sich unter Androhung von Höllenstrafen fröhlich für Fron- und Militärdienste einspannen, so sie nicht gerade von Seuchen oder Hungersnöten dahingerafft wurden. So hätte es ewig weitergehen können. Abgesehen von ein paar gelangweilten Adeligen, wäre im Leben keine Sau auf die komplett verrückte Idee gekommen, ohne ersichtlichen Grund einfach so vierzig Kilometer durch die Gegend zu rennen. Die wenigen, die genug Latein und/oder Griechisch konnten, um mit der Anekdote vertraut zu sein, wussten, wie das ausgegangen ist und hüteten sich schön, es so einem offensichtlich suizidal veranlagten Deppen auch noch gleichzutun.

1896 kam dann ein gelangweilter Baron namens Pierre de Coubertin des Weges und fand, dass die überehrgeizige Blitzbirne ein leuchtendes Vorbild für die Jugend der Welt abgeben würde. Coubertin war einer von denen, die die Jugend prinzipiell für verweichlicht halten und verordnete Sport. Man wähnte sich schließlich mitten im imperialistisch-sozialdarwinistischen Überlebenskampf und sich auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern war schwer angesagt. Weil Antikes damals genauso schwer angesagt war, kam er auf die Bombenidee, die Olympischen Spiele wieder aufleben zu lassen. Höhepunkt des Events sollte die Wiederholung des historischen Kurierjobs sein. Also vierzig Kilometer von dem Vorort, in dem es einst gescheppert hat, im Dauerlauf und ohne Pause in die Athener City. Um die Wette und in praller Sonne, versteht sich. Und weil der Vorort auf den eingängigen Namen Marathon hört, nannte er das Ganze Marathonlauf.

Der Gute wusste offenbar nicht, was er damit angerichtet hat. 'Marathon' ist zu einem mindestens genau so nichtssagenden Schlagwort geworden wie 'Knigge'. So wie inzwischen jede Broschüre, in der steht, dass Rülpsen bei Tisch höflichst zu unterlassen sei, großspurig als 'Knigge' bezeichnet wird, bekommt jede Veranstaltung, die länger als zwei Stunden dauert, das Präfix 'Marathon' vorn dran getackert. Seltsamerweise werden auch Anlässe, bei denen Menschen mehrere Tage lang nichts anderes tun als sich den Hintern platt zu sitzen, Marathon-Irgendwas genannt. Man kann davon ausgehen, dass die EU heute in finanzieller Hinsicht eine andere wäre, hätten die Griechen sich rechtzeitig die Verwertungsrechte für den Namen gesichert.

Lange hat sich nur eine Handvoll Sonderlinge unter den Augen eines staunenden Publikums das Gerenne zugemutet. Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts waren Marathonläufer eine respektvoll beäugte Kaste für sich. Irgendwann aber muss jemand die Parole ausgegeben haben, Marathon laufen könne, das entsprechende Training vorausgesetzt, mit gutem Willen jeder. Seitdem schlüpfen Jahr für Jahr mehr ledergesichtige Ehrgeizlinge in Funktionskleidung und ausgelatschte Treter, hecheln sich mit schmerzverzerrten Mienen durch die Städtemarathons dieser Welt und alle Welt tut so, als seien die, die bei so was dankend ablehnen, keine vollwertigen Menschen. Auf jeder einzelnen dieser oberflächlichen Wichtigtuer-Listen mit Dingen, die man angeblich unbedingt erledigt haben muss, bevor man abkratzt, steht garantiert: Einen Marathon laufen.

Nun ist gegen ein gewisses Maß an Fitness und Bewegung überhaupt nichts einzuwenden. Es stimmt ja, dass wir heute normalerweise nicht mehr zwölf Stunden pro Tag auf dem Feld ackern, wir viele einst knochenharte Arbeiten von Maschinen erledigen lassen, uns aber oft noch so ernähren, als seien wir die Malocher von einst. Auch tägliche Gewaltmärsche in voller Montur überlassen wir im Zeitalter der Berufsarmeen lieber denen, die dafür bezahlt werden. Aber selbst die nehmen, wann immer es geht, Transportmittel zur Hilfe. Noch nie war es in den westlichen Ländern so einfach wie heute, sein ganzes Dasein beinahe regungslos zu fristen und sich darob in ein frühes Grab zu bringen. Dem lässt sich auf vielfältige Weise entgegenwirken: Menschlicher Erfindergeist hat dazu das Fahrrad, das Fitnessstudio, das Schwimmbad, die Wassernudel, den Fußball, den Tennisschläger, den Nordic-Walking-Prügel und vieles mehr hervorgebracht. Und natürlich haben wir immer noch unsere guten alten Beine, mit denen sich nach wie vor trefflich laufen lässt.

Mir sind immer wieder Leute begegnet, die seit ihrer Jugend Langstrecke laufen. Die betreiben das meist ganz unaufgeregt und lassen ihre Mitmenschen weitgehend in Ruhe. Wie immer sind die spät vom Saulus zum Paulus Mutierten das Problem: Jene von Mitte dreißig bis Mitte fünfzig, die ihr Leben bis dato komplett am Schreibtisch verbracht, irgendwann die Lauferei angefangen haben und von da an in einer Tour mit ihrem Bessermenschentum angeben. Prototypisch für diese Spezies war Ex-Außenminister Joschka Fischer. Schön für ihn, dass er Ende der Neunziger vom Weinfass zum Besenstiel schrumpfte. Weniger schön war, wie er sich andauernd dicke getan hat damit, was für einen besseren Menschen die Rennerei aus ihm gemacht habe. Propagandistisch begleitet wird das von missionarisch auftretenden, entrückt grinsenden Laufpäpsten, oft promovierten Medizinern, die ewige Jugend versprechen und sich die Rettung der Menschheit per Marathonlauf zum Geschäftsmodell erkoren haben.

Man muss nur einmal gezwungen gewesen sein, einen Abend in Gegenwart einer Runde solcher Renntiere zu verbringen. Bei Schorle, Salätchen und alkoholfreiem Weizen labern sie in einer Tour von Laufschuhen, Trainingsplänen, Endorphinen, Körperfettanteilen und Brustwarzen abkleben, dass einem nach spätestens zehn Minuten das Bier nicht mehr schmeckt. Entdeckt einer der Drahtbesen irgendwo an sich eine winzige Fettablagerung, dann bezeichnet er sich hysterisch als Fettsack, der dringend mehr trainieren müsse. Kommt man ihnen, aus welchem Grund auch immer, zu nahe, dann starren sie einem angewidert auf den fehlenden Waschbrettbauch, als hätte man sich soeben vor ihnen entblößt. Mit etwas Glück entgeht man der strengen Mahnung, man müsse aber auch langsam mal was tun.

Marathonlauf galt einmal als Krönung des Laufsports, aber mittlerweile heißt es in gewissen Kreisen: Los, überwinde dich! Jeder kann es schaffen! Wie, du willst nicht? Spazieren gehen, radeln reicht dir? Höchst verdächtig, das, du Minderleister, du Underachiever! Das hat nur noch wenig zu tun mit der vernünftigen Idee, sich ein wenig zu bewegen. Ohne ein Gramm Fett am Körper, sollen möglichst alle auch in der Freizeit einem unhinterfragten Leistungs- und Selbstoptimierungsideal hinterher jagen. Auch unsportliche Menschen werden hier und da zum Marathon genötigt, denn die ganze Abteilung, die ganze Firma macht schließlich mit beim örtlichen Volkslauf, da kann man doch unmöglich einfach so kneifen. Wer wirklich par tout nicht mittun will, ist immer noch gehalten, wenigstens sein Wochenende zu opfern, um am Streckenrand als Anfeuer- und Verpflegungskommando für die Helden zu fungieren.

Schmerzen sollen wir ertragen ohne zu klagen, denn irgendwo in der Ferne, da winkt das Runner's High zum Lohne, jenes legale, weil durch körpereigene Opiate hervorgerufene Räuschlein, das einen erst auf eine höhere Stufe menschlicher Existenz erhebt. Denn ohne Schmerz und Qual ist bekanntlich alles nichts. Eine Medizin, die nicht bitter schmeckt, kann unmöglich wirken.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Geschichte vom ersten Marathonläufer frei erfunden. Bei Herodot, dem Kronzeugen der Perserkriege, ist nichts darüber zu lesen. Ein Propagandamärchen also, eine Warnung an alle, die sich mit den kruppstahlharten Knochen und lederzähen Superperformern aus Hellas anlegen wollten. Die eigentliche Moral von der Geschicht' dagegen wird gern übersehen, obwohl sie ganz einfach ist: Allzuviel ist auf finale Weise ungesund. Drei Stunden später wäre die Nachricht vom Sieg der Athener nämlich immer noch genau so wahr gewesen.

(12.10.2012)



7 Kommentare:

  1. Mal ganz blöde gefragt: Hatten die damals in Griechenland keine Pferde?

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    1. Ein paar werden sie schon gehabt haben, spielten aber m.W. keine große Rolle. Nennenswerte Kavallerie gab es erst 150 Jahre später bei Alex dem Großen.

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  2. Na ja, vielleicht kann man das auch symbolisch sehen.
    Man läuft weg, auch vor sich selbst.
    Der ungetrübte Blick auf sich selbst, kann schon schmerzhaft sein.
    Mit so etwas hat man hierzulande keine Erfahrung, ist man doch darauf konditioniert immer besser und schöner zu sein als alle anderen.
    Sich selbst genau zu betrachten, bedeutet auch die Schwächen, die man halt so hat, man ist ja nur ein Mensch unter Vielen, zuzugeben.

    Beste Grüße
    onlyme

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  3. Ordentlich drauf auf diese joggenden Wichtigmenschen , sehr schön!

    Ist vielleicht kein Zufall , daß ausgerechnet Paul Ryan , Romneys neoliberaler Vize-Kandidat , ebenfalls Marathonläufer ist.
    Was ihm aber offenbar nicht reichte , er hielt es für nötig , seine Zeit zu schönen , 2 Stunden 50 behauptete er , sei seine Spitzenzeit.
    Dass Netz hat ihm diese Lüge in nullkommanix um die Ohren gehauen , 4 Stunden waren es tatsächlich , immer noch sehr gut eigentlich .
    Was Einiges aussagt über seine Mentalität und nicht zuletzt über die offenbar nicht zu 100 % vorhandene Zurechnungsfähigkeit.

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  4. Der große Boom der Marathonläuferei seit den späten Neunzigern soll übrigens zur Erfindung der isotonischen Sportgetränke geführt haben. Coca Cola et al. sollen sich angesichts der langstreckenrennenden Massen gedacht haben, das sei doch ein unerschlossener Markt. Also wurde das Märchen in die Welt gesetzt, der Mensch trinke zu wenig, wenn er sich selbst überlassen wird, vor allem beim Sport. Der Durst sei ein ausgesprochen unzuverlässiger Geselle (außer abends in der Kneipe, aber das ist ein anderes Kapitel), und man müsse viel mehr trinken als man eigentlich mag oder glaubt. Und nicht etwa Wasser oder Schorle oder so, nein, isotonisch müsse es sein und farbenfroh. Seitdem braucht man zum Sport nicht nur die jeweils angesagte Spezialkleidung, sondern auch die für die betreffende Sportart passgenau zusammengerührte Hochleistungsbrause. Der Urmarathonläufer würde jetzt noch zwischen Marathon und Athen pendeln, wenn er das Zeug damals schon gehabt hätte...

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    1. Nichts Böses über Sportgetränke! Ich bedaure sehr, dass 'Gatorade' nicht mehr in D-Land erhältlich ist. 1-2 Flaschen davon plus Aspirin war immer ein unschlagbares Anti-Kater-Mittel...

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    2. Natürlich, so ein Biermarathon beansprucht den Körper auch ganz anders als so ein bisschen zeitgeistiges Rumgerenne! Da braucht man hinterher wirklich jede Menge Mineralstoffe und blaue oder rote Lebensmittelfarbe.

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